Psychiatr Prax 2013; 40(03): 115-116
DOI: 10.1055/s-0032-1332916
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Neuregelung von Zwang – ein Auftrag für die Fachgesellschaft?

Legal Regulation of Coercion in Psychiatry – a Task for the Professional Association?
Martin Zinkler
Kliniken Landkreis Heidenheim gGmbH, Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik
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Martin Zinkler
Kliniken Landkreis Heidenheim gGmbH, Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik
89522 Heidenheim

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Publication Date:
04 April 2013 (online)

 

Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) hat sich im Jahr 2012 mehrmals zur Zwangsbehandlung geäußert, zunächst am 16.1.2012 [1]. Die Autoren dieser Stellungnahme argumentierten, dass mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Zwangsbehandlung im Maßregelvollzug vom 23.3.2011 (2 BvR 882/09) und weiteren Urteilen, etwa dem des Bundesverfassungsgerichts zum Baden-Württembergischen Unterbringungsgesetz vom 12.10.2011 (2 BvR 633/11), die Grenzen für eine Zwangsbehandlung so eng gezogen worden seien, dass Ärzte gezwungen würden, „behandelbaren Menschen wirksame Hilfe vorzuenthalten“, dass „psychisch kranke Menschen einem eigengesetzlich verlaufenden Krankheitsschicksal überlassen“ würden und dass „mechanische Zwangsmaßnahmen in zynischer Weise als zu bevorzugende humane Behandlungsformen dargestellt“ würden. Die DGPPN forderte u. a. eine „eindeutige gesetzliche Grundlage für eine erforderliche Zwangsbehandlung auch bei einwilligungsfähigen Patienten, die infolge einer psychischen Störung gefährlich geworden sind“.

Wenige Monate später entschied der Bundesgerichtshof folgerichtig, dass es auch im Kontext betreuungsrechtlicher Unterbringung an einer Rechtsgrundlage für die Zwangsbehandlung fehle (XII ZB 99/12 und XII ZB 130/12). Die DGPPN reagierte im Ton etwas versöhnlicher [2], forderte aber dennoch die Rückkehr zur alten Rechtslage, „… dass neue gesetzliche Rahmenbedingungen zeitnah geschaffen werden, die es Ärzten erlauben, dem Patientenwohl zur Geltung zu verhelfen“.

Im Oktober 2012 folgt ein ausführlicheres Memorandum der Fachgesellschaft [3]. Jetzt werden ein psychotherapeutischer Zugang und intensive Gespräche als geeignet angesehen, die Bereitschaft zu einer Behandlung zu erreichen. Die Forderung nach einer Zwangsbehandlung von einwilligungsfähigen Patienten vom Januar wird revidiert: „Bei einwilligungsfähigen Patienten ist eine Behandlung gegen den Willen dagegen medizinethisch nicht zu rechtfertigen.“ Die Autoren warnen jedoch vor den Folgen der momentanen Rechtslage – keine gerichtlich genehmigten medikamentösen Zwangsbehandlungen – und behaupten, „dass anstelle gut bewährter medikamentöser Therapie mechanische Sicherungsmaßnahmen, etwa mittels Isolation oder Fixierung, erfolgen müssen und Beschäftigte und Mitpatienten in psychiatrischen Kliniken unzumutbaren Risiken ausgesetzt sind“. Vier Fallbeispiele sollen untermauern, dass es eben doch eine Zwangsbehandlung braucht.

Dabei wäre in einer fortschrittlichen Fachgesellschaft, die sich die aktuelle Diskussion über Menschenrechte zu eigen macht, eine ganz andere Position denkbar; denn die Rechtsprechung der Verfassungsrichter hatte eine neue Verhandlungsbasis in der Psychiatrie geschaffen. In den meisten Situationen, in denen Psychiater bisher eine Behandlung mit Zwang durchsetzen konnten, wurden sie von den Gerichten zurück an den Verhandlungstisch verwiesen. Das Deutsche Institut für Menschenrechte erklärte vor dem Rechtsausschuss des Bundestags am 10.12.2012: „Diese historische Chance, Psychiatrie auf der Basis der Freiwilligkeit weiterzuentwickeln, sollte unbedingt ergriffen werden. Insbesondere die einschlägigen Fachwissenschaften sind in diesem Zusammenhang aufgerufen, endlich andere Konzepte zu entwickeln und flächendeckend in die Praxis zu bringen, wie mit Menschen in psychosozialen Krisen, insbesondere in Zuständen starker Erregung, anders als mit einer zwangsweisen pharmakologischen Behandlung umgegangen werden kann. Hier liegen Versäumnisse und Potenziale eng zusammen“ [4].

Im Editorial der Zeitschrift Recht & Psychiatrie war schon im Januar 2012 ein Vorschlag für eine weniger defensive und mehr vorausschauende Stellungnahme der Fachgesellschaft erschienen [5]: „Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde begrüßt ausdrücklich die Urteile des Bundesverfassungsgerichts vom 23.3.2011 und vom 12.10.2011 als wesentlichen Beitrag zu einer modernen Psychiatrie, in der die Grundrechte aller Patienten beachtet werden. Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts tragen dazu bei, die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen in der Gesetzgebung für psychisch Kranke zu verankern und eine Vertrauensbasis zwischen den in der Psychiatrie handelnden professionellen Helfern und ihren Patienten auf der Grundlage des Grundgesetzes zu schaffen.“

Es gibt einige Gründe, die Zwangsbehandlung mit Neuroleptika ganz einzustellen. Die Anwendung einer Zwangsbehandlung mit Neuroleptika ist in ihrer Wirksamkeit, insbesondere hinsichtlich einer nachhaltigen Genesung, nicht belegt. Gerade bei Patienten, die neuroleptische Medikamente häufig an- und absetzen, scheinen psychotische Erkrankungen besonders ungünstig zu verlaufen [6]. Die Nutzen-Risiko-Bewertung des Einsatzes von Neuroleptika hat sich verändert, und zwar so weit, dass die Rate des Nichteinsatzes von Neuroleptika als Qualitätskriterium einer Psychosenbehandlung vorgeschlagen wurde [7]. Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts schützen demnach nicht nur die Rechte, sondern auch die Gesundheit unserer Patienten. Im Übrigen ist der oft geäußerten Behauptung, es seien die medikamentösen Behandlungsmöglichkeiten (Chlorpromazin) gewesen, die die Enthospitalisierung ermöglicht hätten, überzeugend und doch wenig beachtet widersprochen worden [8].

Viel zu wenig wurde in den letzten Jahren in die Entwicklung, Erforschung und den Einsatz von präventiven Maßnahmen und Alternativen zur medikamentösen Zwangsbehandlung investiert. Dabei gibt es vielversprechende Ansätze zur Prävention, z. B. im Deeskalationstraining aller professionellen Helfer, im Einsatz schonender Haltetechniken, aber auch schon im Vorfeld einer stationären Aufnahme in aufsuchenden Hilfen (assertive community treatment) und Alternativen zur stationären Behandlung (home treatment). Patientenverfügungen und Behandlungsvereinbarungen sind möglich, kommen aber nur in wenigen Kliniken zum Einsatz, obwohl sie wahrscheinlich präventiv wirksam sind [9]. Klar ist jedoch, dass Patienten Unterstützung beim Erstellen von Patientenverfügungen und beim Aushandeln von Behandlungsvereinbarungen brauchen [10].

Weshalb greift die DGPPN das Thema nicht als die Herausforderung einer Weiterentwicklung des Faches auf? Würde sich die (Fach-)Öffentlichkeit nicht ebenso wie für eine bildliche Darstellung der Stoffwechselvorgänge im Hippokampus dafür interessieren, wie die Psychiatrie dann weiterhelfen kann, und zwar ohne Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit, wenn die anderen (Heime, Polizei, Angehörige …) nicht weiterwissen? Besondere Bedeutung kommt dabei der Qualifizierung und Beteiligung von Psychiatrieerfahrenen auf allen Ebenen und in allen Bereichen der psychiatrischen Dienste zu: in Home-treatment-Teams, als Patientenberater, in den stationären Teams, beim Design von Psychiatrieräumen und beim Planen von psychiatrischen Diensten.

Es wird wohl noch mindestens eine Generation psychiatrisch Tätiger und in der Psychiatrie Behandelter brauchen, um grundlegende Veränderungen zu schaffen. Die Anwendung von Zwang in der Psychiatrie war für viele Patienten eine tiefgreifende Erfahrung mit dem Ergebnis, dass sie sich vom psychiatrischen Hilfesystem abwendeten und die ihnen zustehenden Hilfen nicht mehr in Anspruch nahmen. Für viele, die in der Psychiatrie arbeiten, wurde die Anwendung von Zwang zur nicht weiter begründungspflichtigen Normalität.

Stellungnahmen von Fachgesellschaften sind in manchem vorhersehbar und werden entsprechend wenig beachtet – besonders dann, wenn der Ruf an die Politik ergeht, für das Fach mehr Ressourcen zur Verfügung zu stellen. Interessant wird es dann, wenn die Fachgesellschaft etwas grundlegend Neues zu bieten hat. Wie wäre es etwa mit Modellprojekten, in denen ohne Zwangsmedikation und Fixierungen gearbeitet wird? Wenn die Ergebnisse solcher Modellprojekte vorliegen, dann liegt die Entscheidung über eine generelle Umsetzung bei der Gesellschaft. Denn ob unsere Gesellschaft mehr Psychiatrie von der Art möchte, die wir momentan machen, das sei hier dahingestellt.


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