Psychiatr Prax 2013; 40(01): 12-13
DOI: 10.1055/s-0032-1327313
Debatte: Pro & Kontra
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Strafanzeige bei Gewalttätigkeit von psychisch Kranken während der stationären Behandlung – Pro & Kontra

Criminal Prosecution of Assaultive Psychiatric Patients – Pro & Contra
Michael Grube
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Korrespondenzadresse

Priv.-Doz. Dr. med. Michael Grube
Chefarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie – Psychosomatik, Klinikum Frankfurt a. M. Höchst GmbH, Akademisches Lehrkrankenhaus der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität zu Frankfurt am Main
Gotenstraße 6–8
65929 Frankfurt

Publication History

Publication Date:
14 January 2013 (online)

 

Kontra

Im klinischen Behandlungsalltag [1] und besonders im Rahmen der psychiatrischen Versorgung [2] kommen aggressive Handlungen von Patienten gegenüber Mitarbeitern und Personal trotz prädiktiver Einschätzung [3] und deeskalierender Bemühungen immer wieder vor. Hervorzuheben ist, dass es sich bei der Festsetzung des angemessenen Umgangs mit aggressiven Verhaltensweisen von Patienten immer um die Einschätzung im jeweiligen Einzelfall und zum jeweiligen Indexzeitpunkt handelt; insofern sind generalisierende Invariantenbildungen nicht angemessen.


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Täteraspekte

Es ist zunächst die Unterscheidung aggressiven Verhaltens als Ausdruck krankhaft enthemmter, nicht mehr kontrollierbarer innerer Dynamik von instrumentellen, oft operant konditionierten bewusstseinsnahen aggressiven Verhaltensweisen zur Vorteilserwirkung bei dissozial-krimineller Sozialisation zu berücksichtigen [4]. Darüber hinaus sollten der Schweregrad und die Wiederholungsprognose tätlicher aggressiver Handlungen in die Beurteilung der angemessenen Reaktion einfließen: es ist ein gut belegtes Ergebnis der Aggressionsforschung, dass häufig von wenigen Patienten wiederholt begangene aggressive tätliche Zwischenfälle wie Sachbeschädigungen oder Körperverletzungen geringerer Schweregrade auftreten, aber vergleichsweise selten Aggressionshandlungen höherer Schweregrade [2]. Eine derartige Betrachtungsweise ermöglicht das Feststellen der psychiatrischen Voraussetzungen zur Einschätzung einerseits der Deliktsunfähigkeit im zivilrechtlichen (§ 827 BGB) und andererseits der Einsichts- und/oder Steuerungsunfähigkeit sowie der Einschätzung der Prognose (§§ 20, 63 StGB) im strafrechtlichen Bereich. Ohne Initiierung eines Gerichtsverfahrens wird mit der Beurteilung der aggressiven Handlung in einer Weise umgegangen, die den Prinzipien einer Begutachtung in einem zivil- oder strafrechtlichen Verfahren entspricht. Ist der Schweregrad der Gewalthandlung bei stationären Behandlungen eher niedrig und liegen die psychiatrischen Voraussetzungen zu einer der erwähnten gesetzlichen Vorschriften (Annahme der Deliktsunfähigkeit, Einsichts- und/oder Steuerungsunfähigkeit) vor, wäre besser auf eine Strafanzeige zu verzichten, da diese die „Forensifizierung“ allgemeinpsychiatrischer Patienten fördern könnte, die therapeutische Beziehung gefährden und somit einen Widerspruch zum Behandlungsauftrag darstellen würde [5] [6]. Die erforderliche Auseinandersetzung mit dem nicht regelkonformen Verhalten und eine Spiegelung der Realität kann durch therapeutisch moderierte Täter-Opfer-Gespräche, für welche Körperverletzungsdelikte aus juristischer Sicht als besonders geeignete Deliktformen gelten (im Sinne der kognitiv-emotionalen Aufarbeitungsphase bei Täter-Opfer-Ausgleich), unterstützt werden – nicht selten kommt es zu echtem Bedauern und zu einer Beziehungsklärung im Rahmen von ernst gemeinten Entschuldigungen [7]. Die Externalisierung an eine außerhalb der Institution liegende „Gewissensinstanz“ wäre für diese therapeutisch wichtigen Vorgänge hinderlich. Demgegenüber kann bei schweren tätlichen Angriffen oder nur verminderter Kontrollierbarkeit der aggressiven Enthemmung oder einer Überlagerung krankhaft enthemmter Dynamik mit kriminell-dissozialer Sozialisation und instrumentell eingesetzter Aggressivität eine andere Handhabung im Sinne eines Anzeigens die angemessenere Möglichkeit darstellen.


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Opferaspekte

Es bleibt jedem Angegriffenen überlassen, Strafanzeige zu stellen, um eine Klärung in einem rechtsstaatlich nachprüfbaren Verfahren herbeizuführen. Damit wird deutlich gemacht, dass es einen rechtsfreien Raum in psychiatrischen Institutionen nicht gibt [8] [9]. Allerdings stellte der BGH in einem Urteil von 1998 fest, „dass eine Unterbringung nach § 63 StGB in der Regel nicht infrage kommt, wenn der Beschuldigte die krankheitstypischen und krankheitsbedingten Anlasstaten … im Rahmen einer zivilrechtlichen Unterbringung begangen hat und Tatopfer die Angehörigen des Pflegepersonals (und anderer Berufsgruppen [Erg. d. Verf.]) sind, denen seine, ihn und die Allgemeinheit schützende Betreuung obliegt“ [10]. Bei einer in unserer Klinik durchgeführten Erhebung an 494 Akutaufnahmen sahen wir 5 (ca. 1 %) ernsthafte Übergriffe, die zu verletzungsbedingter Vorstellung der Mitarbeiter in der unfallchirurgischen Ambulanz unseres Klinikums führten und z. T. psychische Irritationen nach sich zogen. Es handelte sich im Einzelnen um eine Patientin mit schwerer Alkoholintoxikation (3,2 ‰), einen Patienten mit ausgeprägtem Alkoholentzugsdelir, einen Patienten mit ängstlich-angespannter Pfropfpsychose (paranoid-halluzinatorisches Syndrom bei leichter Intelligenzminderung) sowie 2 Patienten mit hochfloriden paranoid-halluzinatorischen schizophrenen Psychosen. Zusätzlich ereigneten sich 41 leichte tätliche Angriffe auf Mitarbeiter und Mitpatienten sowie 38 Sachbeschädigungen. Der Anteil schwererer Übergriffe an allen registrierten tätlich aggressiven Handlungen lag somit bei ca. 6 % (5/84). Dabei war die Wahrscheinlichkeit für ernsthafte Übergriffe ca. 15-fach höher, wenn die Patienten untergebracht waren (1/384 bei freiwilliger Behandlung, 4/105 bei Unterbringung; Odds Ratio 14,629). Wie wir an eigenen Vorgängen, bei denen angegriffene Mitarbeiter Anzeige erstattet hatten, sehen konnten, führte die Einstellung des Strafverfahrens aus den im BGH-Urteil genannten Gründen zur Verstärkung des Ohnmachterlebens der betroffenen Mitarbeiter mit konsekutiver Demotivierung und Wünschen, in somatische Bereiche zu wechseln, trotz intensiver und zeitnaher Aufarbeitung des Geschehenen in Teambesprechungen und Supervisionen sowie trotz der in den besonderes gefährdeten psychiatrischen Arbeitsbereichen gezahlten Gefahrenzulagen. Demzufolge sollte zunächst das „Problem eines faktisch eingeschränkten Rechtsschutzes gerade für Klinikmitarbeiter“ juristisch gelöst werden, bevor durch Strafanzeigen gegen Patienten „eine gültige soziale Norm gegen Gewalt und der berechtigte Anspruch vom Beschäftigten auf Schutz vor Gewalt signalisiert“ wird, deren Ziele jedoch aufgrund höchstrichterlicher Rechtsprechung im jeweiligen Verfahren vor Ort nicht zum Tragen kommen und damit die rechtsstaatlich angestrebte Anerkennung geschehenen Unrechts für die besonders belasteten Mitarbeiter psychiatrischer Kliniken unterbleibt [11].


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Fazit

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass nach Meinung des Autors eine kategoriale Betrachtung einer immer befürwortenden bzw. immer ablehnenden Haltung gegenüber dem Initiieren einer Anzeige bei sich aggressiv verhaltenden Patienten der Komplexität der jeweils bestehenden Einzelfallproblematik nicht gerecht wird. Vielmehr sollte eine gründliche Abwägung beider Alternativen unter Berücksichtigung der bei der Gutachtenerstellung im zivil- oder strafrechtlichen Bereich geltenden Maßstäbe gepflegt werden unter Berücksichtigung der aus der Einstellung von juristischen Verfahren resultierenden, oft demotivierenden Konsequenzen für die angegriffenen Mitarbeiter. Wenn diese Güterabwägung sorgfältig vorgenommen wird, kann das Initiieren einer Anzeige auf eine Minderzahl besonders schwerwiegender, instrumentell-bewusstseinsnah oder sogar bewusst motivierter Vorfälle begrenzt bleiben.


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Michael Grube

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  • Literatur

  • 1 Grube M. Violent behavior in cancer patients – a rarely addressed phenomenon in oncological treatment. Journal of interpersonal violence 2012; 11: 2163-2182
  • 2 Richter D, Whittington R Hrsg. Violence in Mental Health Settings: Causes, Consequences, Management. New York: Springer; 2006
  • 3 Grube M, Liszka R, Weigand-Tomiuk H. Creatine kinase associated with aggressive behavior in psychiatric patients. Gen Hosp Psychiatry 2008; 30: 564-571
  • 4 Eichelman BS. Phenomenological models of aggression and impulsivity. In: Coccaro EF, eds. Aggression: Psychiatric assessment and treatment. New York: Marcel Dekker; 2003
  • 5 Schanda H. Problems in the treatment of mentally ill offenders – a problem of general psychiatry?. Psychiat Prax 2000; 27: 72-76
  • 6 Zeiler J. Die sanfte Psychiatrie – Metamorphosen der Gewalt?. Psychiat Prax 1997; 24: 106
  • 7 Kerner HJ, Hartmann A. Täter-Opfer-Ausgleich in Deutschland: Auswertung der bundesweiten Täter-Opfer-Ausgleichs-Statistik – Bericht für das Bundesministerium der Justiz. Berlin: Bundesministerium der Justiz; 2008
  • 8 Böcker FM. Klinik als rechtsfreier Raum? Strafrechtliche und zivilrechtliche Aspekte von Rechtsverstößen psychiatrischer Patienten. Psychiat Prax 2008; 35: 44-46
  • 9 Coyne A. Sollten Patienten, die Mitarbeiter angreifen, strafrechtlich verfolgt werden?. Psychiatrische Pflege 2003; 9: 254-260
  • 10 Bundesgerichtshof. Anlasstaten im Rahmen einer zivilrechtlichen Unterbringung. Urteil vom 22.10.1998 – 4 StR 354/97. Neue Zeitschrift für Strafrecht 1998; 18: 405
  • 11 DGPPN Hrsg. Therapeutische Maßnahmen bei aggressivem Verhalten in der Psychiatrie und Psychotherapie, AWMF-S2 Leitlinie. Berlin: Springer; 2010

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Priv.-Doz. Dr. med. Michael Grube
Chefarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie – Psychosomatik, Klinikum Frankfurt a. M. Höchst GmbH, Akademisches Lehrkrankenhaus der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität zu Frankfurt am Main
Gotenstraße 6–8
65929 Frankfurt

  • Literatur

  • 1 Grube M. Violent behavior in cancer patients – a rarely addressed phenomenon in oncological treatment. Journal of interpersonal violence 2012; 11: 2163-2182
  • 2 Richter D, Whittington R Hrsg. Violence in Mental Health Settings: Causes, Consequences, Management. New York: Springer; 2006
  • 3 Grube M, Liszka R, Weigand-Tomiuk H. Creatine kinase associated with aggressive behavior in psychiatric patients. Gen Hosp Psychiatry 2008; 30: 564-571
  • 4 Eichelman BS. Phenomenological models of aggression and impulsivity. In: Coccaro EF, eds. Aggression: Psychiatric assessment and treatment. New York: Marcel Dekker; 2003
  • 5 Schanda H. Problems in the treatment of mentally ill offenders – a problem of general psychiatry?. Psychiat Prax 2000; 27: 72-76
  • 6 Zeiler J. Die sanfte Psychiatrie – Metamorphosen der Gewalt?. Psychiat Prax 1997; 24: 106
  • 7 Kerner HJ, Hartmann A. Täter-Opfer-Ausgleich in Deutschland: Auswertung der bundesweiten Täter-Opfer-Ausgleichs-Statistik – Bericht für das Bundesministerium der Justiz. Berlin: Bundesministerium der Justiz; 2008
  • 8 Böcker FM. Klinik als rechtsfreier Raum? Strafrechtliche und zivilrechtliche Aspekte von Rechtsverstößen psychiatrischer Patienten. Psychiat Prax 2008; 35: 44-46
  • 9 Coyne A. Sollten Patienten, die Mitarbeiter angreifen, strafrechtlich verfolgt werden?. Psychiatrische Pflege 2003; 9: 254-260
  • 10 Bundesgerichtshof. Anlasstaten im Rahmen einer zivilrechtlichen Unterbringung. Urteil vom 22.10.1998 – 4 StR 354/97. Neue Zeitschrift für Strafrecht 1998; 18: 405
  • 11 DGPPN Hrsg. Therapeutische Maßnahmen bei aggressivem Verhalten in der Psychiatrie und Psychotherapie, AWMF-S2 Leitlinie. Berlin: Springer; 2010

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