Aktuelle Dermatologie 2012; 38(06): 212-216
DOI: 10.1055/s-0031-1291823
Von den Wurzeln unseres Fachs
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Historische Entwicklung der medizinischen Statistik

Development of Statistical Methodology in the Medical Sciences
C. Weiß
Medizinische Statistik, Universitätsklinikum Mannheim
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Korrespondenzadresse

PD Dr. Christel Weiß
Universitätsklinikum Mannheim
Medizinische Statistik
Ludolf-Krehl-Str. 13 – 17
68167 Mannheim

Publication History

Publication Date:
16 March 2012 (online)

 

Zusammenfassung

Der vorliegende Beitrag beschreibt die Entwicklung der Medizinischen Statistik, ausgehend von ihren Anfängen im 18. Jahrhundert in England bis zu den heutigen Anwendungen in der modernen medizinischen Forschung. Zunächst wird dargelegt, wie sich medizinische Paradigmen im Laufe der Zeit gewandelt haben und wie sich parallel dazu die historische Entwicklung der statistischen Wissenschaft gestaltete. Anhand von historischen Anwendungsbeispielen wird gezeigt, wie die Statistik dazu beitragen konnte, althergebrachte Dogmen zu überwinden und wissenschaftlich fundierte Zusammenhänge zu verifizieren. Heute ist allgemein anerkannt, dass Statistik notwendig ist, um systematische Forschung zu betreiben und deren Ergebnisse praktisch anzuwenden. Die Möglichkeiten und Risiken, die mit dem unkritischen Einsatz statistischer Verfahren verbunden sind, werden erörtert.


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Abstract

This contribution aims at tracing the development of statistical methods in medical science from the beginning in the 18th century to modern applications in medical research. First it is outlined how conventional medical practice changed continuously during centuries in relation to the development of statistical sciences. Based on historical examples it is shown how statistical methodology contributed in overcome dogmatic thinking and to verify causal relations. Nowadays, there is a widespread consensus that medical research and its practical application is hardly possible without profound knowledge of statistical methods. The scope and risks related with an uncritical usage of statistical methods are discussed.


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Die Bedeutung der Statistik für die Medizin

Wenige Mediziner lieben sie – kaum einer kommt ohne sie aus: Die Rede ist von medizinischer Statistik. Jeder Forscher wendet statistische Methoden an, um seine Daten effizient zu analysieren und die Ergebnisse abzusichern. Ein Medizinstudent merkt in der Regel spätestens beim Erstellen seiner Dissertation, dass Kenntnisse in Statistik erforderlich sind, um eine wissenschaftliche Fragestellung zu bearbeiten. Jeder Arzt, der Publikationen liest, benötigt zumindest Grundkenntnisse auf diesem Gebiet, um die Qualität einer Studie und deren klinische Bedeutung zu beurteilen und die Erkenntnisse zum Wohle seiner Patienten anzuwenden.

Die Medizin ist keine exakte Wissenschaft wie etwa die Mathematik oder die theoretische Physik. Es handelt sich vielmehr um eine empirische (d. h. auf Beobachtungen und Experimenten aufbauende) Wissenschaft, in der die interessierenden Ereignisse vom Zufall mitbestimmt werden. In der Regel ist es nicht möglich, medizinisch relevante Vorgänge exakt zu prognostizieren. Dies betrifft den praktisch tätigen Arzt, der niemals mit Sicherheit weiß, ob eine von ihm verordnete Therapie zum gewünschten Erfolg führt, ebenso wie den Forscher, der nicht für sich beanspruchen kann, dass seine Erkenntnisse unumstößlich sind. Die Statistik als die Wissenschaft des Zufalls ermöglicht es, trotz der Unberechenbarkeit der Einzelfälle Beobachtungen zusammenzufassen und die sich daraus ergebenden Erkenntnisse zu verallgemeinern. Diese wiederum bilden die Basis für weitere Studien und jedes daraus abgeleitete ärztliche Handeln.

Über einen Zeitraum von mehreren tausend Jahren haben sich die Medizin und die Statistik parallel entwickelt, ohne dass es Berührungspunkte gegeben hätte. Um diesen erstaunlich langen Prozess nachzuvollziehen, ist es sinnvoll, die historischen Entwicklungen dieser beiden Disziplinen näher zu beleuchten. Erst dann wird verständlich, weshalb sowohl naturwissenschaftliche Kenntnisse als auch statistische Analysen für die klinische Forschung unverzichtbar sind.


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Historische Entwicklungen

Die Methodik in der medizinischen Wissenschaft

Die Medizin als eine Kunst, kranken Menschen zu helfen, ist so alt wie die Menschheit selbst. In frühester Zeit glaubte man, das Entstehen von Krankheiten und deren Heilung läge in der Hand von Göttern oder Dämonen. Diagnosestellungen basierten auf Omen oder Weissagungen; therapeutische Maßnahmen beinhalteten häufig magische Elemente oder religiöse Riten. So versuchten beispielsweise der um 2700 v. Chr. lebende ägyptische Hohepriester Imhotep oder der griechische Gott der Heilkunst Asklepios durch Inkubation (Tempelschlaf) zu heilen. Erst seit den Zeiten des Hippokrates von Kos (um 460 bis 377 v. Chr.) wurde Krankheit als eine individuelle Störung angesehen. Ein weiteres Novum bestand darin, dass Krankheitsverläufe fortan dokumentiert wurden. So entstand das Werk „Corpus Hippocraticum“, das die Weitergabe empirischer Erfahrungen auf nachfolgende Generationen ermöglichte. Allerdings war ein Arzt in der damaligen Zeit ausschließlich auf die Schilderungen seiner Patienten und auf seine eigenen Sinneseindrücke angewiesen. Diese Beobachtungen waren überwiegend subjektiv und die daraus gezogenen Schlussfolgerungen häufig spekulativ.

In der Antike standen bezüglich der Wahl einer geeigneten Therapie zwei konkurrierende Ansätze zur Verfügung: der empirische und der theoretische [1]. Beide Ansätze wiesen gravierende Schwächen auf: Die Erfahrungen des Empirikers basierten auf ungeregelten Beobachtungen, die niemals systematisch analysiert wurden. Dagegen gründete der theoretische Ansatz auf nie zuvor überprüften Grundannahmen, die generell nicht infrage gestellt wurden. So beruhte nach der Theorie des im 2. Jahrhundert n. Chr. lebenden griechischen Arztes Galen von Pergamon die Ursache einer Krankheit auf einem gestörten Verhältnis der vier Körpersäfte Blut, Schleim, schwarze und gelbe Galle. Die daraus abgeleiteten Therapien wie Aderlass, Brechmittel oder Schröpfen wurden bis weit ins 18. Jahrhundert hinein routinemäßig angewandt, ohne dass deren Nutzen kritisch hinterfragt worden wäre. Eine moderne Wissenschaft konnte auf diese Art freilich nicht entstehen.

Eine Änderung dieses dogmatischen Vorgehens zeichnete sich im 17. Jahrhundert ab, nachdem Galileo Galilei (1564 – 1642) die modernen Naturwissenschaften gegründet hatte. So erkannte man allmählich, dass sich alle Vorgänge im gesunden und im kranken Körper auf naturwissenschaftliche Gesetze zurückführen lassen. Diese neue Sichtweise trug zu einer rasanten Weiterentwicklung der Anatomie bei. Als einer der bedeutendsten Vertreter sei der Entdecker des Blutkreislaufs William Harvey (1578 – 1657) genannt.

Die durch wissenschaftliche Untersuchungen gewonnenen Erkenntnisse halfen, die Körperfunktionen beim gesunden und beim kranken Menschen besser zu verstehen. Es war jedoch nicht möglich, unmittelbar danach wirksame Therapien zu entwickeln. Allmählich setzte sich die Erkenntnis durch, dass naturwissenschaftliches und anatomisches Fachwissen nicht ausreicht, um Fortschritte in der klinischen Praxis zu erzielen. Die Wirkungsmechanismen im menschlichen Körper sind nämlich derart komplex, dass sie sich einer vollständigen theoretischen Darstellung entziehen. So besann man sich auf eine Methode zur Erkenntnisgewinnung, die bereits ein Jahrhundert zuvor vom englischen Philosophen Francis Bacon (1561 – 1626) propagiert worden war: Sie beinhaltet die systematische Beobachtung zahlreicher Individuen bezüglich relevanter Merkmale, deren Dokumentation, die rechnerische Auswertung der erhobenen Daten und schließlich die Interpretation der Ergebnisse unter Berücksichtigung des bereits vorhandenen Wissens.

Bacons Forderung nach zahlreichen Beobachtungen stand jedoch entgegen, dass sich Ärzte bis dahin traditionellerweise nur mit einzelnen Patienten befasst hatten. Dies änderte sich allmählich im Zeitalter der Aufklärung, die im 18. Jahrhundert von England ausging: Erstmals gab es von Seiten des ärztlichen Standes Bemühungen, um die Gesundheit größerer Populationen Sorge zu tragen. In einigen Städten entstanden Krankenhäuser, die die Beobachtung größerer Patientengruppen ermöglichten. Die Weiterentwicklung der Naturwissenschaften wirkte sich segensreich auf die Medizin aus. Parallel dazu vermehrte sich das medizinische Fachwissen rasant, was schließlich die Diversifizierung der Medizin in zahlreiche Spezialgebiete mit sich brachte. In der Folgezeit wurden zunehmend mehr technische Instrumente entwickelt, mit denen sich medizinische Phänomene quantifizieren lassen. Subjektive Eindrücke wurden so durch objektive Messwerte ersetzt. Mit dem Aufkommen neuer diagnostischer und therapeutischer Verfahren entstand zunehmend der Bedarf, Studien und Experimente durchzuführen. All diese Entwicklungen trugen schließlich dazu bei, dass die Statistik allmählich Einzug in die medizinische Wissenschaft fand. Es sollte jedoch noch bis weit ins 20. Jahrhundert dauern, ehe die Anwendung statistischer Methoden in der Medizin allgemein als notwendig anerkannt wurde [2]. Meilensteine dieses langen Prozesses sind in ([Tab. 1]) aufgelistet.

Tab. 1

Meilensteine in der Entwicklung der medizinischen Statistik und der Epidemiologie.

1620

Der englische Philosoph Francis Bacon propagiert eine Methode zur Erkenntnisgewinnung (basierend auf der systematischen Beobachtung zahlreicher Einzelfälle).

1662

John Graunt erstellt anhand von englischen Kirchenbüchern die erste Sterbetafel.

1741

Der preußische Feldprediger Johann Peter Süßmilch verfasst das erste Werk zur deutschen Bevölkerungsstatistik.

1747

Der englische Schiffsarzt James Lind führt die erste bekannte Therapiestudie an Seeleuten durch, die an Skorbut erkrankt waren.

1835

Der französische Kliniker Pierre Alexandre Louis untersucht den Nutzen des Aderlasses.

1847/48

Der ungarische Gynäkologe Ignaz Semmelweis entdeckt die Ursache des Kindbettfiebers (u. a. mittels statistischer Analysen).

1854

Der englische Arzt John Snow führt die erste Risikostudie durch.

1865

Der französische Physiologe Claude Bernard propagiert die Notwendigkeit von experimentellen Studien in der Medizin.

1866

Der Augustinermönch Gregor Mendel stellt die nach ihm benannten Vererbungsregeln vor.

1948

In England wird die erste randomisierte doppelblinde Therapiestudie durchgeführt.

1964

Auf der Generalversammlung des Weltärztebundes werden Richtlinien zur Forschung am Menschen erarbeitet.

1972

Das Fach „Biomathematik“ wird scheinpflichtige Disziplin im Medizinstudium in der Bundesrepublik Deutschland.

1976

Die Prüfung von Arzneimitteln wird gesetzlich vorgeschrieben.

1989

Erstmals werden Regeln zur Good Clinical Practice (GCP) publiziert.


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Das Entstehen der modernen Statistik

Die originären Anwendungen der Statistik, nämlich Volkszählungen und Staatsbeschreibungen, wurden bereits im Altertum und im Mittelalter durchgeführt. Sie dienten hauptsächlich dem Zweck, die Größe einer Bevölkerung, die Anzahl von potenziellen Steuerzahlern oder kampffähiger Männer zu ermitteln oder auch, um eine Bestandsaufnahme von Ländereien durchzuführen.

Ein weiteres Anwendungsgebiet zeichnete sich im 16. Jahrhundert in England ab. Auf Veranlassung des Lordkanzlers Thomas Cromwell (1485 – 1540) wurden erstmals systematisch Geburts- und Todesfälle in Kirchenbüchern aufgezeichnet. Aufgrund dieser Informationen konnte John Graunt (1620 – 1674) die ersten Sterbetafeln aufstellen (er gilt heute als der Begründer der Demografie). In Deutschland verfasste der preußische Feldprediger Johann Peter Süßmilch (1707 – 1767) ebenfalls auf der Basis von Kirchenbüchern sein aufsehenerregendes Werk „Die göttliche Ordnung in den Veränderungen des menschlichen Geschlechts“. Diese Art von Statistik, mit der Gesetzmäßigkeiten bezüglich Bevölkerungsentwicklungen quantitativ beschrieben wurden, bezeichnete man als „politische Arithmetik“.

Bis ins 19. Jahrhundert hinein diente die Statistik nahezu ausschließlich zur Erfassung der geografischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Besonderheiten eines Staates. Dies erklärt dieselbe etymologische Wurzel der Wörter „Staat“ und „Statistik“. Eine effiziente Nutzung des erhobenen Datenmaterials fand aber erst statt, nachdem 1749 die Staatsbeschreibungen des Juristen und Historikers Gottfried Achenwall (1719 – 1772) erschienen waren. Damit wurde die Statistik zu einer wissenschaftlichen Disziplin erhoben, die auch an Universitäten gelehrt wurde.

Neben den Staatswissenschaftlern gab es eine Anwendergruppe mit gänzlich anderen Interessen. Ihnen ging es in erster Linie um die Berechnung von Gewinnchancen bei Glücksspielen. Bekannt ist etwa der Briefwechsel zwischen den französischen Mathematikern Blaise Pascal und Pierre de Fermat aus dem Jahre 1654, in dem die Frage diskutiert wird, wie ein Spieleinsatz bei vorzeitigem Spielabbruch zu verteilen sei. In jener Zeit etablierte sich die Wahrscheinlichkeitsrechnung als mathematische Disziplin. In diesem Zusammenhang ist auch der Mathematiker Carl Friedrich Gauß (1777 – 1855) zu nennen, dessen Konterfei einst auf dem 10-DM-Schein abgebildet war. Er befasste sich eingehend mit der Normalverteilung und deren Bedeutung für statistische Anwendungen.

Im Jahr 1853 fand der erste Internationale Statistische Kongress in Brüssel statt. Einige Jahre später wurde in Berlin das Kaiserliche Statistische Amt (aus dem sich später das Statistische Bundesamt entwickelte) gegründet. Schließlich entstand 1885 das Internationale Statistische Institut (ISI), das zum Ziel hatte, internationale Kooperationen zu fördern sowie das bis dahin bekannte statistische Wissen zusammenzufassen und dessen Anwendungsmöglichkeiten zu eruieren.

Statistische Methoden wurden damals jedoch vor allem in den Bereichen der Wirtschaft und der Verwaltung angewandt; der Einsatz in der medizinischen Forschung erschien keineswegs nahe liegend. Dies lag hauptsächlich daran, dass damals extrem große Kollektive vonnöten waren, um Unterschiede oder Zusammenhänge nachzuweisen. Die Methoden der induktiven Statistik, die es ermöglichen, basierend auf einer relativ kleinen Stichprobe Aussagen bezüglich einer größeren Population herzuleiten, sind Errungenschaften des 20. Jahrhunderts. Zu deren bekanntesten Vertretern zählen Karl Pearson (1857 – 1936), William Sealy Gosset (1876 – 1937), Sir Ronald Aylmer Fisher (1890 – 1962) sowie David Cox (geboren 1924). Pearson gab der Regressionsrechnung entscheidende Impulse, Gosset entwickelte die t-Verteilung, Fishers Namen verbindet man mit Varianzanalysen, Cox befasste sich mit der Modellierung von Überlebenszeiten. Diese Methoden haben wesentlich dazu beigetragen, dass die Statistik in der medizinischen Forschung nunmehr breite Anwendung findet.


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Anwendungen der Statistik in der Medizin

Historische Beispiele

Die erste bekannte Therapiestudie wurde von dem schottischen Schiffsarzt der britischen Marine James Lind (1716 – 1794) durchgeführt. Damals war Skorbut eine unter Seeleuten gefürchtete Krankheit, die in der Regel tödlich endete. Lind nahm an, dass sie auf einen Fäulnisprozess im Körper zurückzuführen sei, und mutmaßte, diesen Prozess mittels einer Säure unterbinden zu können. Er teilte zwölf erkrankte Seeleute zufällig in sechs Gruppen zu je zwei Matrosen ein (insofern war diese Studie sogar randomisiert). Je eine Gruppe erhielt Apfelsaft, Schwefelsäure, Meerwasser, Essig, Gerstenwasser bzw. zwei Apfelsinen zusammen mit einer Zitrone. Nur die Matrosen der letzten Gruppe genasen. Damit war ein wirksames Mittel gegen Skorbut gefunden, und die Krankheit verlor alsbald ihren Schrecken.

Der an der Pariser Charité tätige Internist Pierre Charles Alexandre Louis (1787 – 1872) gilt als der Begründer der klinischen Statistik. Zu Louis’ Zeiten war der Aderlass ein gängiges Behandlungsverfahren, obwohl spätestens seit Harveys Entdeckung des Blutkreislaufs Zweifel an dessen Wirksamkeit laut geworden waren [3]. Louis konnte im Rahmen einer Therapiestudie anhand einer großen Patientengruppe nachweisen, dass dieses Mittel meist nutzlos oder gar schädlich war.

Der britische Arzt John Snow (1813 – 1858) entdeckte 1854 während einer Cholera-Epidemie in London, dass das Erkrankungsrisiko mit der Qualität des Trinkwassers zusammenhing. Seine Forschungen zählen zu den ersten und spektakulärsten Leistungen auf dem Gebiet der Epidemiologie. Die Untersuchungen des Gynäkologen Philipp Ignaz Semmelweis (1818 – 1865) stellen ein frühes Anwendungsbeispiel der medizinischen Statistik im deutschsprachigen Bereich dar. Zwischen 1841 und 1846 grassierte im Allgemeinen Krankenhaus in Wien das Kindbettfieber, dem durchschnittlich 10 % der gebärenden Frauen zum Opfer fielen. Semmelweis erkannte nach langjährigen Beobachtungen, dass diese Krankheit durch Ärzte und Studenten, die sich nach einer Leichensektion nur unzureichend die Hände wuschen, verursacht wurde. Die Erkrankungsrate sank drastisch, nachdem er hygienische Maßnahmen angeordnet hatte. Etwa zur selben Zeit stellte der Augustinermönch Gregor Johann Mendel (1822 – 1884) seine Vererbungsgesetze vor, die er nach einer mühseligen Forschungsarbeit ebenfalls mit statistischen Methoden aufgestellt hatte.

Freilich waren die damals verwendeten Analysetechniken nicht zu vergleichen mit den heute gebräuchlichen. Dennoch zeigen diese Beispiele in eindrucksvoller Weise, dass statistische Methoden geeignet sind, Zusammenhänge aufzudecken, auch wenn die zugrunde liegenden Krankheitsmechanismen (noch) nicht auf zellulärer oder molekularer Ebene erklärbar sind.


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Widerstände und Kritik

Nach der Einführung statistischer Methoden in die Medizin entbrannten vor allem in England und Frankreich heftige Diskussionen über deren Zweckmäßigkeit. Es gab zwar eine Reihe von Ärzten, die die neue „arithmetische Methode“ propagierten, weil sie erkannten, dass nur durch vergleichende Studien objektive Einsichten zu gewinnen sind [2]. Dennoch wurden derlei Studien nur vereinzelt durchgeführt, da kaum Therapien oder Medikamente zur Verfügung standen. So beschränkte man sich häufig darauf, altüberlieferte Methoden mit dem natürlichen Krankheitsverlauf oder mit Bettruhe zu vergleichen [1]. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts formierte sich eine Opposition gegen statistische Analysen, die kritisierte, dass die Patienten ihrer Individualität beraubt würden und dass durch wahrscheinlichkeits-theoretische Berechnungen keine Sicherheit im Einzelfall gewährleistet sei [4]. Dies widersprach den Erwartungen der Patienten, die gewohnt waren, dass ein Arzt Sicherheit vermittelte. Insofern waren das Festhalten an der dogmatischen Methode und das Berufen auf alte Autoritäten in gewisser Weise bequemer. Es kam hinzu, dass es mit dem Selbstverständnis vieler Ärzte nicht vereinbar war, das eigene Tun kritisch zu überdenken oder die Erkenntnisse eines Kollegen praktisch umzusetzen. Nur so ist zu erklären, dass der Aderlass jahrhundertelang angewandt wurde, dass die Prophylaxe-Vorschläge von James Lind lange Zeit ignoriert wurden oder dass der bekannte Pathologe Rudolf Virchow (1821 – 1902) den von Semmelweis vorgeschlagenen Hygienemaßnahmen skeptisch bis ablehnend gegenüberstand [5].

In Deutschland war die Situation besonders problematisch [2]. Das 19. Jahrhundert war die Zeit der romantischen Naturphilosophie, in der das Individuum im Vordergrund stand. Eine naturwissenschaftlich orientierte Medizin konnte sich bei dieser Anschauung kaum durchsetzen.


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Entwicklungen im 20. Jahrhundert

Ein weiterer Grund für die Verzögerung bei der Anwendung statistischer Methoden in der medizinischen Forschung lag in der Statistik selbst. Die wichtigsten statistischen Tests wurden erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelt: Dies sind der Student’s t-Test und der Chi2-Test zum Vergleich der Mittelwerte bzw. der Häufigkeiten zweier Gruppen. Die zum statistischen Testen erforderlichen Kollektive ließen sich aus größeren Krankenhäusern rekrutieren. Damit waren zumindest die technischen Voraussetzungen gegeben, um klinische Studien anhand von Stichprobenerhebungen durchzuführen. Eine wesentliche Problematik jener Zeit bestand jedoch darin, dass keine methodischen oder ethischen Kriterien bezüglich der Forschung mit menschlichen Individuen bekannt waren [6]. Ein Forscher, der es wagte, eine klinische Studie in Angriff zu nehmen, bewegte sich auf unsicherem Terrain. Der bereits erwähnte Ronald Aylmer Fisher hatte wesentlichen Anteil daran, dass sich dies änderte. Einen originären Beitrag zur medizinischen Statistik lieferte außerdem der englische Epidemiologe Sir Austin Bradford Hill (1897 – 1991), der die Randomisierung als Basiselement des Therapievergleichs erkannte. Es wundert daher nicht, dass die erste randomisierte Doppelblindstudie 1948 in England durchgeführt wurde: Dabei wurden die Therapien „Streptomycin“ und „Bettruhe“ bei der Behandlung von Patienten mit Lungentuberkulose verglichen [7].

Der Internist Paul Martini (1889 – 1964) sowie die Statistiker Arthur Linder (1904 – 1993) und Erna Weber (1897 – 1988) trugen dazu bei, dass sich Fishers Ideen allmählich auch in Deutschland durchsetzten. Die praktische Umsetzung verlief allerdings schleppend. Schuld daran war sicherlich auch die unter dem Nationalsozialismus propagierte Rassenlehre, die bis in die 1970er-Jahre hinein eine sachliche Diskussion bezüglich der Forschung am Menschen beeinträchtigte.

Im Jahre 1964 wurden schließlich auf der 18. Generalversammlung des Weltärztebundes in Helsinki Richtlinien bezüglich der Forschung am Menschen erarbeitet. Diese wurden seither mehrfach revidiert und aktuellen wissenschaftlichen und ethischen Erfordernissen angepasst (die letzte Fassung wurde 2008 in Seoul verabschiedet). Fortan wurden klinische Studien aus juristischer, ethischer und wissenschaftlicher Sicht intensiv diskutiert [8] [9]. In einer Neufassung des bundesdeutschen Arzneimittelgesetzes aus dem Jahre 1976 wurde die klinische Prüfung von Arzneimitteln gesetzlich vorgeschrieben. In der europäischen Gemeinschaft wurden 1989 erstmals Regeln der Good Clinical Practice (GCP) publiziert. Heute gelten die Randomisierung und die Doppelblindheit als die wichtigsten Qualitätskriterien bei Therapiestudien und insbesondere bei der Zulassung eines neuen Medikaments [3].

Das Aufkommen leistungsfähiger Computer und benutzerfreundlicher Statistiksoftware seit Beginn der 1980er-Jahre ging mit einer enormen Vereinfachung und Beschleunigung statistischer Berechnungen einher. All diese Entwicklungen und nicht zuletzt internationale Kontakte haben zur Akzeptanz des Faches Biostatistik entscheidend beigetragen.


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Aktueller Status der medizinischen Statistik

Heute herrscht weitgehend Konsens darüber, dass sowohl naturwissenschaftliche Deduktionen als auch die Beobachtung zahlreicher Individuen, die damit verbundene Datenerfassung und Analyse für die Erkenntnisgewinnung in der medizinischen Forschung unverzichtbar sind. Mittlerweile existiert eine schier unübersehbare Vielzahl statistischer Verfahren. Zumindest theoretisch sind für jede Fragestellung geeignete Methoden verfügbar, die es ermöglichen, Effekte aufzudecken und zu quantifizieren. Eine leistungsfähige Software unterstützt den Anwender bei der Wahl eines adäquaten statistischen Modells. Rechenaufwändige Prozeduren beanspruchen in der Regel nur wenige Sekunden. So lassen sich selbst aus umfangreichem Datenmaterial in kürzester Zeit numerische Ergebnisse erzeugen, ohne dass dafür informationstechnisches oder statistisches Expertenwissen notwendig wäre. Auch die Interpretation eines statistischen Ergebnisses scheint nicht allzu mühsam zu sein: Wenn der p-Wert kleiner ist als 0,05, bezeichnet man das Ergebnis als „statistisch signifikant“ und hofft auf eine Publikation in einer angesehenen Fachzeitschrift.

Andererseits sind diese Entwicklungen nicht unproblematisch. Sie verleiten mitunter dazu, statistische Signifikanzen zu erzeugen, ohne die Zweckmäßigkeit der eingesetzten Verfahren oder die klinische Relevanz der erhaltenen Ergebnisse kritisch zu hinterfragen. Die daraus resultierende Vielzahl an Publikationen hat zu einer immensen Informationsflut geführt. Ein einzelner Arzt ist kaum noch in der Lage, alle für sein Spezialgebiet relevanten Fachartikel zu lesen. Trotz wissenschaftlicher Standards und statistischer Raffinessen ergeben sich zuweilen Fragen, die schwer zu beantworten sind: Inwieweit gelten die in einem Fachjournal publizierten Ergebnisse für die eigenen Patienten? Was besagen die dargelegten Kenngrößen bezüglich eines konkreten Einzelfalls? Inwieweit ist ein statistisch signifikanter Effekt klinisch relevant? Wie gut beschreibt ein statistisches Modell die klinische Realität? Wie sind Ergebnisse zu interpretieren, wenn das Studiendesign Mängel aufweist? Welche Aussagekraft haben mehrere Studien zur selben Fragestellung, die zu unterschiedlichen Resultaten gelangen? Und schließlich: Wie lassen sich praktische Erfahrungen des Arztes, individuelle Bedürfnisse des Patienten und aktuelle Forschungsergebnisse vereinbaren?

Trotz der Unsicherheit, die jedem Einzelfall anhaftet, bleibt festzuhalten: Jedes ärztliche Handeln muss auf wissenschaftlich gesicherten Erkenntnissen basieren. Auch wenn persönliche Erfahrungen des behandelnden Arztes und individuelle Bedürfnisse des Patienten nach wie vor wichtige Säulen im ärztlichen Entscheidungsprozess darstellen, sind die Anwendung statistischer Methoden und die Fähigkeit, die dadurch gewonnenen Ergebnisse in die Praxis umzusetzen, unabdingbar. Ohne die Möglichkeit, Fragestellungen im Rahmen einer wissenschaftlichen Studie nachzugehen, würden wir Zufällen und Halbwahrheiten verfallen. Dies wäre unter wissenschaftlichen, ethischen und ökonomischen Gesichtspunkten nicht akzeptabel. Insofern ist medizinische Statistik unentbehrlich – sowohl um Forschung zu betreiben als auch um die damit gewonnenen Erkenntnisse praktisch umzusetzen.


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Interessenkonflikt

Die Autorin gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

  • Literatur

  • 1 Tröhler U. Die therapeutische „Erfahrung“ – Geschichte ihrer Bewertung zwischen subjektiv sicherem Wissen und objektiv wahrscheinlichen Erkenntnissen. In: Köbberling J, Hrsg. Die Wissenschaft in der Medizin. Selbstverständnis und Stellenwert in der Gesellschaft. Stuttgart: Schattauer; 1992
  • 2 Weiß C. Entwicklung der Medizinischen Statistik in Deutschland – der lange Weg dahin. GMS Med Inform Biom Epidemiol 2005; 1 Doc 12
  • 3 Kleist P, Kleist CZ. Eine kurze Geschichte der klinischen Studie – Meilensteine evidenzbasierter Arzneimittelprüfungen. Schweizerische Ärztezeitung 2005; 84: 2475-2482
  • 4 Murphy T. Medical knowledge and statistical methods in early nineteenth-century France. Medical history 1981; 25: 301-319
  • 5 Kleine H. Semmelweis und Virchow. Eine medizinhistorische Studie. Arch gynecol obstet 1930; 142: 324-328
  • 6 Altman D. Statistics and ethics in medical research. Brit Med J 1980; 281: 1542-1544
  • 7 Armitage P. Trial and errors: The emergence of clinical statistics. J R Stat Soc Ser A (General) 1983; 146: 321-334
  • 8 Gross R. Notwendigkeit und Zuverlässigkeit der kontrollierten klinischen Prüfung. Dtsch Ärztebl 1978; 76: 1091-1100
  • 9 Hasskarl H. Wirksamkeit und klinische Prüfung. Eine Auseinandersetzung. Dtsch Ärztebl 1979; 76: 161-168

Korrespondenzadresse

PD Dr. Christel Weiß
Universitätsklinikum Mannheim
Medizinische Statistik
Ludolf-Krehl-Str. 13 – 17
68167 Mannheim

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  • 1 Tröhler U. Die therapeutische „Erfahrung“ – Geschichte ihrer Bewertung zwischen subjektiv sicherem Wissen und objektiv wahrscheinlichen Erkenntnissen. In: Köbberling J, Hrsg. Die Wissenschaft in der Medizin. Selbstverständnis und Stellenwert in der Gesellschaft. Stuttgart: Schattauer; 1992
  • 2 Weiß C. Entwicklung der Medizinischen Statistik in Deutschland – der lange Weg dahin. GMS Med Inform Biom Epidemiol 2005; 1 Doc 12
  • 3 Kleist P, Kleist CZ. Eine kurze Geschichte der klinischen Studie – Meilensteine evidenzbasierter Arzneimittelprüfungen. Schweizerische Ärztezeitung 2005; 84: 2475-2482
  • 4 Murphy T. Medical knowledge and statistical methods in early nineteenth-century France. Medical history 1981; 25: 301-319
  • 5 Kleine H. Semmelweis und Virchow. Eine medizinhistorische Studie. Arch gynecol obstet 1930; 142: 324-328
  • 6 Altman D. Statistics and ethics in medical research. Brit Med J 1980; 281: 1542-1544
  • 7 Armitage P. Trial and errors: The emergence of clinical statistics. J R Stat Soc Ser A (General) 1983; 146: 321-334
  • 8 Gross R. Notwendigkeit und Zuverlässigkeit der kontrollierten klinischen Prüfung. Dtsch Ärztebl 1978; 76: 1091-1100
  • 9 Hasskarl H. Wirksamkeit und klinische Prüfung. Eine Auseinandersetzung. Dtsch Ärztebl 1979; 76: 161-168