Gesundheitswesen 2011; 73(10): 635-636
DOI: 10.1055/s-0031-1287784
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Screening und Schuleingangsdiagnostik

F. Petermann
,
M. Daseking
Weitere Informationen

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. Franz Petermann
Zentrum für Klinische Psychologie und Rehabilitation
der Universität Bremen
Grazer Straße 6
28359 Bremen

Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
18. Oktober 2011 (online)

 
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F. Petermann
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M. Daseking

Screenings stellen ihrem Wortsinn nach Siebtests dar. Sie haben das Ziel, Krankheiten oder Risikofaktoren zu erkennen, bevor typische Symptome oder andere Zeichen erkennbar sind (vgl. [1]). Anhand definierter Kriterien – meist in Form von Grenzwerten oder Wertebereichen ausgedrückt – sollen möglichst breite Bevölkerungsschichten untersucht und alternativen Merkmalsklassen („krank“ vs. „gesund“, „Risiko“ vs. „kein Risiko“) zugeordnet werden. In vielen Fällen werden Screenings im Rahmen von Vorsorgeuntersuchungen eingesetzt (u. a. Neugeborenenscreenings, Krebsvorsorge) und dienen in erster Linie der Früherkennung von Krankheiten.

Der Begriff „Screening“ wird aber oft auch im Sinne eines allgemeinen Breitbandverfahrens verwendet, das zu Beginn eines diagnostischen Prozesses eingesetzt wird, um einen Überblick über ein „breites“ Feld an Eigenschaften einer Person zu gewinnen. Breitbandverfahren lassen sich für viele Fragestellungen und Entscheidungssituationen nutzen. Zu dieser Gruppe der Screenings gehören etwa Symptomchecklisten.

In den letzten Jahren wurde eine internationale Kontroverse über die Angemessenheit von Screenings zur Krankheitsfrüherkennung geführt. Immer häufiger werden Kosten-Nutzen-Analysen aufgestellt (u. a [2]), wobei zunehmend auch die psychologischen Aspekte einer (falsch) positiven Diagnose berücksichtigt werden. Bick [3] stellt eine entsprechende Studie zum Mammografie-Screening in Deutschland vor. Müller-Sinik & Haverkamp [4] diskutieren die psychische Belastung (hier der Eltern) durch positive Screeningbefunde am Beispiel des Neugeborenenscreenings auf Stoffwechselstörungen. Die Autoren weisen in diesem Zusammenhang darauf hin, dass ein positiver Screeningbefund nicht mit einer Diagnose gleichzusetzen ist, sondern in jedem Fall weiter abgeklärt werden muss.

Gütekriterien und Kennwerte von Screenings Mithilfe eines Tests (Screenings) wird eine Entscheidung darüber getroffen, welcher Gruppe eine Person zugeordnet werden kann. Dies gilt auch für die Entscheidung über „Risiko“ oder „kein Risiko“. Die Grenzen für diese Entscheidungen werden durch Cut-off-Werte gebildet. Um die Qualität dieser „ja/nein“-Entscheidungen zu prüfen, stehen verschiedene Kennwerte zur Verfügung. Aktuell werden eine Vielzahl von Kenngrößen zur Gütebeurteilung herangezogen [5].

Screenings zur Feststellung des Entwicklungsstands Vor allem auch in den kinderärztlichen Früherkennungsuntersuchungen werden Screenings eingesetzt, um den Entwicklungsstand von Kindern festzustellen. Mit wenigen Items werden hier einzelne Entwicklungsbereiche abgedeckt. Diese Verfahren sind überwiegend kriteriumsorientiert, vergleichen also ein individuelles Ergebnis mit entsprechenden Kriterien (z. B. Meilensteine der frühkindlichen Entwicklung). Das Screeningergebnis lässt sich aber auch als (Nicht-)Vorliegen einer Auffälligkeit (ja vs. nein) beschreiben. Dieses Vorgehen kann für die ärztliche Beurteilung der allgemeinen Entwicklung gewählt werden, lässt sich aber beispielsweise auch als Entwicklungsbeobachtung und -dokumentation in den Kindergartenalltag integrieren.

Die American Academy of Pediatrics sieht in ihren Leitlinien [6] vor, dass diejenigen Kinder, die in einem Routinescreenings für alle Vorschulkinder ein erhöhtes Risiko für Entwicklungsverzögerungen oder -störungen aufweisen, eine umfassende Diagnostik mit bereichs- oder störungsspezifischen Verfahren durchlaufen. Dieses Vorgehen lässt sich auf viele medizinische und psychologische Fragestellungen übertragen. Die Interpretation von Screeningergebnissen und die Entscheidungen für Maßnahmen erfolgen unter der Annahme, dass vor der eigentlichen klinischen Symptomatik eine Phase besteht, in der Ursachen der Störung (auch Vorläufer genannt) zwar bereits vorhanden sind, die Entwicklungsbeeinträchtigung selbst aber noch nicht im Vollbild erkennbar ist, und somit ein Zeitgewinn für die Behandlung entsteht. Der Einsatz von Screenings ist jedoch nur dann sinnvoll, wenn bisher noch keine Diagnose erfolgt ist beziehungsweise die Auffälligkeiten nicht auch schon ohne ein Screening offensichtlich sind.

Schuleingangsuntersuchung Screenings sollten Auffälligkeiten im Vorfeld erkennen, z. B. bei der Schuleingangsuntersuchung an Vorläuferfähigkeiten des Lesens, Rechnens und der Rechtschreibung beziehungsweise für die Entstehung der umschriebenen Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten (ICD-10, F81) ansetzen. Schulische Lernstörungen (vor allem beim Erwerb der Schriftsprache) führen zu Beeinträchtigungen in der gesellschaftlichen Teilhabe [7]. Verfahren wie das BASIC-Preschool – Screening für kognitive Basiskompetenzen im Vorschulalter ermöglichen es, Aussagen zu verschiedenen Vorläuferfähigkeiten zu treffen, die sich als bedeutsam für den Erwerb der schulvermittelten Fertigkeiten Lesen, Schreiben und Rechnen erwiesen haben [8]. Fällt ein solches Entwicklungsscreening auffällig aus, sollte der Befund über eine differenzierte Untersuchung abgeklärt werden. Im Bedarfsfall wird ein Kind einer Maßnahme (Förderung, Therapie) zugewiesen, wobei der Interventionserfolg anhand einer Verlaufskontrolle überprüft wird. Somit kommt diesen Screenings eine Filterfunktion in der Früherkennung von Entwicklungsstörungen zu.

Auch in der schulärztlichen Einschulungsuntersuchung in den Gesundheitsämtern werden seit Jahren Screenings eingesetzt, um den Entwicklungsstand eines Einschülers zu beurteilen. Für die Feststellung der Schulreife oder Schulfähigkeit galt lange Zeit die Auffassung, dass ein Kind bestimmte körperliche, kognitive und sozial-emotionale Merkmale erfüllen musste, um eingeschult werden zu können, um also „schulreif“ zu sein [9]. Die Konzeption von Schulfähigkeit hat sich jedoch in den letzten Jahren deutlich gewandelt. Schulfähigkeit wird nicht mehr nur als Eigenschaft des Kindes unter Bezugnahme auf das chronologische Alter oder biologische Reifungsprozesse definiert, sondern es werden Umweltfaktoren wie Entwicklungs- und Förderbedingungen in die Gesamtbeurteilung einbezogen. Es stellt sich damit also nicht mehr die Frage, ob ein Kind einzuschulen ist, sondern welche Hilfen es für einen erfolgreichen Übergang vom Kindergarten in die Schule benötigt [9]. Hinzu kommt, dass aufgrund der zunehmenden Integration von Kindern (Inklusion, integrative Beschulung im Rahmen der Regelschule) die Selektionsfunktion der Einschulungsuntersuchung entfällt.

Der erfolgte Perspektivenwechsel zum Thema „Schulreife“ hat nicht nur Konsequenzen für die Einordnung der diagnostischen Aufgabenstellung, sondern auch für die Konstruktion von Erhebungsverfahren zur Feststellung des Entwicklungsstands. Die Zielsetzung der Feststellung von Förderbedarf setzt voraus, dass im Screening förderrelevante Bereiche erfasst werden, die gleichzeitig einen hohen Zusammenhang zur Entwicklung schulischer Lernprobleme aufweisen. Die große Schwierigkeit besteht nun gerade darin, dass die vorschulischen Vorläuferfähigkeiten und die im Grundschulalter diagnostizierbaren umschriebenen Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten nicht deckungsgleich sind und dass die Vorläuferfähigkeiten zwar zu einem Teil als bereichsspezifisch gelten (siehe z. B. die phonologische Bewusstheit [9] oder das Mengenvorwissen), oft aber eher einen unspezifischen Charakter aufweisen, also eher allgemein Schwierigkeiten beim Erwerb der Kulturtechniken vorhersagen können als spezifisch die Rechenstörung oder die Störung beim Schriftspracherwerb. Mit diesen Themen beschäftigen sich 3 Artikel im vorliegenden Heft. Daseking et al. [5] stellen Ergebnisse aus einer Validierungsstudie für das Sozialpädiatrische Entwicklungsscreening für Schuleingangsuntersuchungen (SOPESS) vor, das für den Einsatz in den Gesundheitsämtern in Nordrhein-Westfalen entwickelt wurde. Die Autoren diskutieren die Zusammenhänge zwischen Vorläuferfähigkeiten und umschriebenen Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten anhand eines Längsschnitts. Mit der Präsentation zentraler Kennwerte wird mit dieser Studie ein wichtiger Beitrag zur Testgüte des Screenings SOPESS (hier: prognostische Validität) geleistet. Dieses Thema wird in einer weiteren Publikation von Daseking und Petermann [10] aufgegriffen, in der Modelle zur Vorhersage von Schulleistungen auf der Basis der durch SOPESS erfassten Vorläuferfähigkeiten vorgestellt werden. Hier zeigt sich, welchen Beitrag die einzelnen Vorläuferfähigkeiten für die Erklärung von Varianz in den einzelnen Schulleistungen Lesen, Rechnen und Rechtschreibung aufweisen. Dabei wird auch die bereichsübergreifende Rolle von Aufmerksamkeitsleistungen deutlich.

Einem auffälligen Screeningbefund in der Einschulungsuntersuchung folgen weiterer Maßnahmen (differenzierte Abklärung, Förderung, Therapie, Beratung der Eltern). In der Publikation von Daseking, Petermann und Simon [11] werden Zusammenhänge zwischen Screeningbefund und ärztlicher Empfehlung analysiert. Die in ihrer Höhe moderaten Zusammenhänge lassen sich vor allem damit erklären, dass in die ärztliche Befundung neben dem eigentlichen Screeningergebnis weitere Informationsquellen einfließen. Außerdem ist davon auszugehen, dass beispielsweise mangelnde Sprachkompetenz keine isolierte Problematik darstellt, sondern auch die Leistungen in anderen Bereichen des Screenings beeinflusst. Die ärztliche Empfehlung kann hier dann eine entsprechende Priorität setzen.

Der Spracherwerb stellt eine zentrale Entwicklungsaufgabe des frühen Kindesalters und eine wichtige schulbezogene Ressource dar [12]. Jedoch scheint kaum ein Bereich so häufig von Störungen betroffen zu sein. Damit zählt die Feststellung von Entwicklungsbeeinträchtigungen im Spracherwerb zu den zentralen diagnostischen Aufgaben im Kindesalter. Mit dem Sprachstandserhebungstests für 5- bis 10-jährige Kinder (SET 5-10) konnte ein Test eingeführt werden, mit dem spezifische Teilleistungen des Spracherwerbs erfasst werden können und der sich zur differenzialdiagnostischen Abklärung von Sprachentwicklungsstörungen eignet. Metz et al. [13] stellen erste Analysen vor, die vor allem auch auf Schwierigkeiten im Spracherwerb in der deutschen Sprache von Kindern mit einer anderen Muttersprache eingehen. Mit diesem ökonomischen Verfahren kann der diagnostische Prozess ergänzt werden, der durch eine Einschulungsuntersuchung vorgegeben ist.


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  • Literatur

  • 1 Viera AJ. Predisease: When does it make sense?. Epidemiologic Reviews 2011; 33: 122-134
  • 2 Lansdorp-Vogelaar I, Knudsen AB, Brenner H. Cost-effectiveness of Colorectal Cancer Screening. Epidemiologic Reviews 2011; 33: 88-100
  • 3 Bick U. Mammografie-Screening in Deutschland: Wie, wann und warum?. Fortschritte auf dem Gebiet der Röntgenstrahlen und der bildgebenden Verfahren 2006; 178: 957-969
  • 4 Müller-Sinik K, Haverkamp F. Psychosoziale Auswirkungen des Neugeborenenscreenings auf die Eltern und Konsequenzen für die ärztliche Betreuung. In: Zabransky S. Hrsg Screening auf angeborenen endokrine und metabole Störungen (S. 24-32). 2001. Wien:: Springer;
  • 5 Daseking M, Petermann F, Simon K, Waldmann HC. Vorhersage von schulischen Lernstörungen durch SOPESS. Gesundheitswesen. 2011; 57: 650-659
  • 6 Policy Statement. Identifying infants and young children with developmental disorders in the medical home: An algorithm for developmental surveillance and screening. Pediatrics 2006; 118: 405-420
  • 7 Rückert EM, Kunze S, Schillert S, Schulte-Körne G. Prävention von Lese-Rechtschreibschwierigkeiten. Effekte eines Eltern-Kind-Programms zur Vorbereitung auf den Schriftspracherwerb. Kindheit und Entwicklung 2010; 19: 82-89
  • 8 Daseking M, Bauer A, Knievel J et al. Kognitive Entwicklungsrisiken bei zweisprachig aufwachsenden Kindern mit Migrationshintergrund im Vorschulalter. Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie 2011; 60: 351-368
  • 9 Daseking M, Oldenhage M, Petermann F. Der Übergang vom Kindergarten in die Grundschule – eine Bestandsaufnahme. Psychologie in Erziehung und Unterricht 2008; 55: 84-99
  • 10 Daseking M, Petermann F. Der Einfluss von Vorläuferfähigkeiten auf die Rechtschreib-, Lese- und Rechenleistung in der Grundschule. Gesundheitswesen 2011; 57: 644-649
  • 11 Daseking M, Petermann F, Simon K. Zusammenhang zwischen SOPESS-Ergebnissen und ärztlicher Befundbewertung. Gesundheitswesen. 2011; 57: 660-667
  • 12 Petermann F, Schmidt MH. Ressourcenorientierte Diagnostik – eine Leerformel oder nützliche Perspektive? Kindheit und Entwicklung. 2009; 18: 49-56
  • 13 Metz D, Belhadj Kouider E, Karpinski N, Petermann F. Die Validität des Sprachstandserhebungstests für fünf- bis zehnjährige Kinder (SET 5-10): Erste Analysen. Gesundheitswesen 2011; 57: 637-643

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. Franz Petermann
Zentrum für Klinische Psychologie und Rehabilitation
der Universität Bremen
Grazer Straße 6
28359 Bremen

  • Literatur

  • 1 Viera AJ. Predisease: When does it make sense?. Epidemiologic Reviews 2011; 33: 122-134
  • 2 Lansdorp-Vogelaar I, Knudsen AB, Brenner H. Cost-effectiveness of Colorectal Cancer Screening. Epidemiologic Reviews 2011; 33: 88-100
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