physiopraxis 2011; 9(2): 20
DOI: 10.1055/s-0031-1273179
physiowissenschaft

Wissenschaft nachgefragt: Körperlot – Aus-gelotet

Eva Trompetter
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
18. Februar 2011 (online)

Inhaltsübersicht

    Damit eine Haltung physiologisch ist, sollten verschiedene Referenzpunkte wie das Akromion auf dem Körperlot liegen. Das behauptet Henry Kendall. Doch die Physiotherapeuten Johannes Reich und Simone Quitmann erkannten, dass diese Annahme möglicherweise nicht stimmt.

    Anhand von Untersuchungen an Elitesoldaten beschrieb Henry Kendall in den 1950er-Jahren mehrere Referenzpunkte, die physiologischerweise auf bzw. nahe des Körperlots liegen sollten. Zu diesen Referenzpunkten gehörten der Kniegelenkspalt, der Trochanter major, das Akromion und das Ohrläppchen.

    Für ihre Bachelorarbeiten untersuchten Simone Quitmann und Johannes Reich das Körperlot von 70 gesunden Jugendlichen und Kindern sowie 53 gesunden Erwachsenen. Für den Vergleich fotografierten die Therapeuten die Probanden von der Seite und nutzten dann die sogenannte Klinimetrie. Dabei projiziert ein Computerprogramm das Körperlot auf die Fotos der Teilnehmer, um die Form des Körpers, seine Lage im Raum sowie Translationen einzelner Körperabschnitte nach ventral und dorsal zu ermitteln.

    Quitmann und Reich wollten unter anderem wissen, ob und wie weit die Referenzpunkte der Probanden von deren Körperlot abweichen. Sie stellten fest, dass die Abweichungen signifikant waren (p < 0,001), besonders die des Punktes „Ohrläppchen”: Bei den Erwachsenen lag es um rund 56 mm, bei den Kindern sogar um fast 64 mm ventral des Lots. Der Kopf der Probanden war also nach ventral translatiert. Auch zwischen den Probandengruppen waren Unterschiede erkennbar. So lagen bei den Erwachsenen der Trochanter major und der Kniegelenkspalt weiter ventral als bei den Kindern, das Akromion hingegen weiter dorsal. Aufgrund dieser signifikanten Abweichungen ist fraglich, ob die von Kendall definierte Anordnung der Referenzpunkte auf dem Körperlot tatsächlich der optimalen Haltung entspricht.

    Interview

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    Simone Quitmann und Johannes Reich absolvierten den Bachelor-Studiengang „Physiotherapie” an der Hochschule Osnabrück. Simone Quitmann untersuchte in ihrer Abschlussarbeit das sagittale Körperprofil von Kindern und Jugendlichen mit und ohne Skoliose, Johannes Reich das von Personen mit und ohne chronische Rückenschmerzen. Damit erreichte er beim IFK Wissenschaftspreis den 2. Platz.

    Frau Quitmann, Herr Reich, welche Schlüsse ziehen Sie aus Ihren Ergebnissen?

    Das Körperlot nach Kendall ist zwar grundsätzlich zur Haltungsanalyse geeignet. Ob man die Anordnung der Referenzpunkte aber weiterhin als Norm ansehen kann, ist für uns fraglich. Ein grundsätzliches Problem ist zudem, dass die Referenzpunkte von ihm nicht präzise festgelegt wurden. So etwa beim Malleolus lateralis, den er als „etwas ventral des Körperlots liegend” beschrieben hat. Aufgrund unserer Untersuchung empfehlen wir, das Lot noch einmal in einer Studie mit mehr Probanden zu überprüfen. Dabei sollte man die Teilnehmer von beiden Seiten fotografieren oder sogar dreidimensionale Aufnahmen machen, um Auffälligkeiten in allen Ebenen erkennen zu können. Bisher konnten wir übrigens keine Studie ermitteln, die sich kritisch mit Kendalls Körperlot auseinandersetzt.

    Können Sie Praxen empfehlen, sich ein Klinimetrieprogramm anzuschaffen?

    Mit einem Klinimetrieprogramm wie dem von der Crafta, das wir bei unserer Untersuchung verwendet haben, lassen sich Behandlungsverläufe sehr gut dokumentieren. Man braucht dann nur noch eine Digitalkamera. Die Aufnahmen nehmen wenig Zeit in Anspruch und sind für die Patienten sehr anschaulich. Wichtig ist, dass man die Messung standardisiert. Außerdem muss man sich bewusst sein, dass die so gewonnenen Erkenntnisse nur einer von vielen Aspekten der Haltung sind.

    »Ob man die Anordnung der Referenzpunkte als Norm ansehen kann, ist fraglich.«, Simone Quitmann und Johannes Reich

    Woran können sich Physiotherapeuten bei der Haltungsbeurteilung orientieren, die kein Klinimetrieprogramm zur Verfügung haben?

    Einen Lotlinientest kann man natürlich auch mit einer Schnur mit Bleigewicht durchführen. Genaue Messungen und Dokumentationen sind dann allerdings nicht möglich, man kann lediglich von leichten bis starken Abweichungen nach ventral oder dorsal sprechen. Außerdem sollte das Ausmaß der Kyphose und der Lordosen in die Haltungsbeurteilung mit einfließen, da diese ein Indiz für Beschwerden sein können.

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