physiopraxis 2011; 9(2): 10-12
DOI: 10.1055/s-0031-1273178
physiopolitik

Schikane Rezeptprüfpflicht – Für die Fehler anderer büßen

Kathrin Bauer
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Publikationsdatum:
18. Februar 2011 (online)

Inhaltsübersicht

Physiotherapeuten haben ihren Beruf gewählt, um Patienten schnell und zuverlässig die therapeutische Unterstützung zukommen zu lassen, die sie brauchen. Doch bis sie endlich therapieren dürfen, müssen sie einen Rezept-Bürokratiekampf ausfechten. Manche Krankenkassen greifen dabei zu Methoden, bei denen die Therapeuten rotsehen.

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Kathrin Bauer ist Physiotherapeutin und arbeitet bei physiopraxis. Bei ihrer Recherche spürte sie deutlich, wie sich die niedergelassenen Physiotherapeuten durch manche Krankenkassen regelrecht schikaniert und ungerecht behandelt fühlen.

Wer seine Rezepte ungeprüft zur Abrechnung gibt, muss damit rechnen, dass einige Krankenkassen die erbrachten Leistungen nicht bezahlen. Konkrete Daten zu ermitteln ist schwer. Ende 2010 hat eine Abrechnungsfirma über insgesamt drei Monate alle Verordnungen für Maßnahmen der physikalischen Therapie ausgewertet: Trotz vorheriger Prüfung durch die Physiotherapeuten setzen die Krankenkassen bundesweit immer noch jede 33. Verordnung ab. Spitzenreiter sei Baden-Württemberg – das bestätigen auch die physiotherapeutischen Berufsverbände. Bei der AOK Baden-Württemberg sehen die Therapeuten rot – sie fühlen sich durch das Vorgehen der Kasse schikaniert. Exquisite Gegebenheiten aus dem physiotherapeutischen Alltag:

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Falle: Telefonische Terminvergabe

Ein Patient vereinbart seine Behandlungstermine in der Regel telefonisch und bringt sein Rezept zur ersten Therapiesitzung mit. Diese Vorgehensweise birgt schon die erste Falle, in die der Therapeut tappen kann: Hat der Arzt das Rezept nicht korrekt ausgestellt, war das bisher kein Problem. Der Therapeut konnte das Rezept jederzeit vom Arzt korrigieren lassen. Und landete ein fehlerhaftes Rezept zur Abrechnung bei der Krankenkasse, schickten sie es zur Verbesserung zurück. Doch das hat sich seit April 2010 geändert: Die AOK Baden-Württemberg verlangt die Korrektur einer fehlerhaften Verordnung vor Behandlungsbeginn. Wenn nicht, behält sie es ein. Der Physiotherapeut, der aus Sicht der AOK Baden-Württemberg seine Prüfpflicht verletzt hat, hat dann umsonst behandelt. Es sind gefühlte zehn Prozent der Einnahmen, die den Therapeuten so wegfallen. Und das aufgrund eines Fehlers des Arztes.

Beim Arzt und Therapeuten misst die Krankenkasse AOK mit zweierlei Maß.

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Zwickmühle: Therapeut zwischen Arzt und Patient

Dies ist wohl die gängige Praxis der AOK Baden-Württemberg. Andere Kassen gewähren nach wie vor eine spätere Rezeptkorrektur. Doch das lässt die AOK scheinbar kalt. „Da haben Sie eben Pech gehabt” oder „Nehmen Sie sich einen Anwalt” lauten nicht selten die telefonischen Auskünfte. Fehler des Arztes beim Verordnen dürfen den Therapeuten einfach nicht entgehen! Als Physiotherapeuten Vertreter der AOK Freiburg bei einem Gespräch fragten, ob ihnen keine Fehler unterlaufen, grinsten sie und meinten: „Schon, aber wir bekommen trotzdem unser Geld.” Zweierlei Maß, das wohl auch bei den Ärzten zum Tragen kommt. Ihnen dürfen Fehler passieren. In einer Klageerwiderung schrieb die AOK einem Physiotherapeuten: „[…] einen Arzt kann man nicht automatisch in Regress nehmen, da bekanntermaßen im täglichen Betrieb einer Arztpraxis durchaus einmal ein unplausibles oder unvollständiges Rezept durchrutschen kann […].” Jedes dritte Rezept führt sie aufs Glatteis, schätzen die Therapeuten. Das zwingt sie, gewissenhaft zu prüfen. Nur wann? Die Krankenkassen schreiben vor, es müsse vor Behandlungsbeginn geschehen. Selbst wenn der Physiotherapeut bei der Rezeptkontrolle keine Fehler entdeckt, schrumpft dadurch die Behandlungszeit. Dafür hat nicht jeder Patient Verständnis. Und was tun, wenn der Physiotherapeut tatsächlich einen Fehler auf der Verordnung findet? Nach Vorstellung der AOK Baden-Württemberg müsste er umgehend mit dem Arzt Kontakt aufnehmen, diesen direkt erwischen, damit er per Fax den Fehler beheben kann oder zur telefonischen Korrektur befugt – die Verordnung muss schließlich vor Therapiebeginn fehlerfrei ausgefüllt sein! Dafür wird nicht jeder Arzt sofort Zeit haben. Dann muss der Therapeut den Patienten unbehandelt heimschicken. Seinen bisherigen Zeitaufwand bekommt er nicht bezahlt, und der Patient ist womöglich verärgert. Bis der Arzt den Fehler behoben hat kann es manchmal bis zum Sanktnimmerleins-Tag dauern, wie das folgende Beispiel einer Arztpraxis verdeutlicht. Sie legt ihren Rezepten ein Schreiben für die Physiotherapeuten mit folgendem Wortlaut bei: „Wir möchten Sie darauf hinweisen, dass die Verordnung nur in beiliegender Form erfolgt! Änderungswünsche oder Neuausstellung von Rezepten werden zukünftig nicht mehr vorgenommen.” Als Grund nannte die Praxis den hohen Verwaltungsaufwand durch die „Änderungswünsche”, dem sie nicht mehr gerecht werden könne. Und hier geht es nicht um Rezeptänderungen, um mehr abrechnen zu können. Wäre das der Fall, sollte ein Arzt die gewünschten Änderungen selbstverständlich verweigern bzw. die Krankenkasse das Rezept absetzen, meinte Michael Preibsch, Vorstandsvorsitzender des deutschen Verbands für Physiotherapie (ZVK) e.V. in Baden-Württemberg, in einem SWR 4-Radiobeitrag. Die AOK setze aber nicht derartige Dinge en gros ab. Es handele sich vor allem um Schreibfehler seitens der Ärzte. Doch es gibt auch Ärzte, für die das Verhalten der AOK ebenso nicht tragbar ist. Sie fühlen sich schlecht informiert und fordern die Krankenkasse auf, über die Prüfmaßnahmen und ihre Möglichkeiten der korrekten Verordnung aufgeklärt zu werden. Ob alle Ärzte wissen, dass manch falsch ausgefülltes Rezept den Therapeuten trotz erbrachter Leistung leer ausgehen lässt, bleibt dahingestellt. Eine Patientin und ihr behandelnder Arzt zeigten sich erstaunt, als sie von den abgesetzten Verordnungen einer Physiotherapeutin erfuhren.

Der Indikationsschlüssel dient nur den Kassen – für ihre Statistiken.

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Ins Abseits gestellt: Entdeckt der Physiotherapeut einen Fehler auf der ärztlichen Verordnung, kann er nur hoffen, dass Arzt und Patient geduldig mitspielen – sonst gibt es von manchen Krankenkassen die Rote Karte.

Foto: K. Bauer

Statements von Krankenkassen und Ärzten

Ohne Worte

Gerne hätten wir abgedruckt, wie die AOK Baden-Württemberg und die Kassenärztliche Vereinigung zu diesem Thema stehen. Doch unsere Anfragen blieben leider unbeantwortet.

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Vorwand: Gerechte Sozialversicherung

Um das Wohl der Patienten scheint es also nicht primär zu gehen, eher um das der Krankenkassen. Suchen sie nach Einsparpotenzial? Anfang Dezember 2010 sagte der Geschäftsführer der AOK Südlicher Oberrhein, Wolfgang Schweizer, der Badischen Zeitung: „Unsere Ausgaben für Heilmittel liegen in Baden-Württemberg bei 96 Euro pro Versichertem. Bundesweit sind es bei allen Sozialversicherten im Schnitt dagegen nur 62 Euro. Bei solchen Differenzen müssen wir etwas unternehmen.” Da liege es nahe, die formalen Anforderungen zu erhöhen. Es gebe natürlich auch hier Fälle, wo man sich streiten kann, ob es nicht um Bagatellen geht. „Doch wo kämen wir hin, wenn ein Polizist bei jedem Tempoverstoß erst lange Diskussionen führen und Einzelfallregelungen mit einem Verkehrssünder aushandeln müsste. Regel ist Regel.” Zudem würde es die AOK so handhaben, dass bei Fehlern auf Rezepten ein Anruf beim ausstellenden Arzt und ein Vermerk mit Handzeichen seitens des Physiotherapeuten auf dem Rezept ausreichen, um den Fehler zu beheben. Über diese Korrekturmöglichkeit informierten nur leider nicht alle 14 AOK-Bezirksdirektionen in Baden-Württemberg die Physiotherapeuten. Drei verzichteten darauf – es stelle ein Einsparpotenzial dar, argumentierte die AOK gegenüber dem Landesvorsitzenden des Verbands Physikalische Therapie (VPT) der Landesgruppe Baden-Württemberg, Peter Stojanoff: „Aber ich bin sicher, dass in einem neuen Rahmenvertrag, den Berufsverbände mit der AOK aushandeln, die Rezeptkorrektur nach telefonischer Rücksprache mit dem Arzt künftig allen Physiotherapeuten gewährleistet wird.” Das lässt hoffen.

Um das Wohl der Patienten scheint es manchen Kassen nicht primär zu gehen.

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Hoffung: Willkür regiert nicht überall

Hoffen dürfen wir auch, dass es künftig gerecht vonstatten geht und nicht wie manches Mal die pure Willkür regiert (Kasten „Absetzungsgründe der AOK”): Die AOK Rhein-Neckar-Odenwald teilte einem Physiotherapeuten mit, dass sie Absetzungen zurückziehen oder künftig lascher mit Formfehlern verfahren könnten, wenn er als Praxisinhaber seine Mitarbeiter als AOK-Mitglieder werbe oder selbst zur AOK wechselte. Doch solcher Methoden bedient man sich trotz eingeschlagenem Sparkurs nicht in allen AOK-Bezirksstellen. Die Leiterin des Competence-Centers Heilmittel der AOK Südlicher Oberrhein, Renate Weirauch, zeigte sich von den Erpressungsversuchen überrascht. Sie verkündete weitreichende Folgen für ihre Mitarbeiter, sollten sie Physiotherapeuten ähnliche Angebote unterbreiten. Auch Wolfgang Schweizer gab zwischenzeitlich zu, dass sein Vergleich mit einem Verkehrsdelikt nicht glücklich war. Leserbriefe hagelte es in der Badischen Zeitung trotzdem – Anlass für ihn, ein klärendes Gespräch mit zwei Physiotherapeuten des ZVK kurzfristig abzusagen. Die jüngsten Leserbriefe hätten eine Aussprache unter sechs Augen erschwert. Möglicherweise ist er im April zu einem Gespräch bereit. Mal sehen, ob sich bis dahin die Lage entschärft hat. Die Physiotherapeuten sind skeptisch: „Die AOK lässt sich jedes halbe Jahr eine neue Schikane einfallen – selbst wenn wir das mit der Rezeptprüfpflicht und ihren Folgen in den Griff bekommen sollten, bald kommt was Neues.” Es liegt in der Hand der Krankenkasse, der scheinbaren Willkür ein Ende zu setzen und für eine gerechte Honorierung der physiotherapeutischen Leistung zu sorgen. Nur wenn das die AOK beherzigt, können sich die Therapeuten weiterhin motiviert um das Wohl ihrer Versicherten kümmern.

Absetzungsgründe der AOK

Kaum zu glauben

  • Ich habe gestern auch eine Kürzung erhalten: Verordnung ws2c, Krankengymnastik „mit” Geräten, wir haben KGG abgerechnet. Die AOK hat uns nur Krankengymnastik erstattet. Gestern habe ich in Schwandorf (Sitz der AOK, Anmerkung der Redaktion) angerufen. Die haben mir gesagt, es sollte KGG oder Krankengymnastik „am” Gerät verordnet werden, dann kann ich KGG abrechnen.

    Pascha auf physio.de

  • Bei mir hat die AOK ein Rezept unbezahlt einbehalten, weil der Arzt zwei unterschiedlich farbige Kugelschreiber auf einem Rezept verwendet hat. Nach langem Hin und Her und einer schriftlichen Bescheinigung des Arztes wurde dieses Rezept letztlich doch anerkannt. Allerdings mit der Aussage der Sachbearbeiterin, dass dies jetzt aber das letzte Mal sei.

    Matthias Droste per Mail

  • Zwei Rezepte, zwei Diagnosen. Einmal Hand, einmal Rücken. Einmal Fango/MT, einmal Fango/KG. Die Fango für die Hand wurde später gestrichen mit dem Hinweis: „Fango ein oder mehrere Körperteile.” Mit anderen Worten: Der Patient soll doch die kaputte Hand bei dem Fango für den Rücken mit dazu stecken.

    Xela auf physio.de

  • Bei mir wurde eine Verordnung einbehalten, weil die Frequenz 1–2 draufstand. Dies ist scheinbar nicht erlaubt, es muss 1 oder 2 stehen.

    Ann-Kathrin Müller auf physio.de

  • Weil der Text der medizinischen Begründung sehr umfangreich war, hat der betreffende Arzt die medizinische Begründung teilweise oberhalb des hierfür vorgesehenen Feldes „medizinische Begründung” im Feld „ggf. erforderliche Spezifizierung des Therapiezieles” eingetragen. Die AOK Baden-Württemberg setzte dieses Rezept ab. Für künftige Fälle gab die AOK der betroffenen Praxis folgenden Tipp: Wenn durch den Arzt mittels eines handschriftlich vermerkten Pfeils der fehlerhaft platzierte Teil des Begründungstextes dem richtigen Kästchen zugewiesen werde, sei alles in Ordnung und die Behandlungen würden bezahlt.

    ZVK-Landesverband Baden-Württemberg

  • Ich behandle eine Patientin mit Multipler Sklerose seit über zehn Jahren. 63 Rezepte hat mir die AOK bezahlt, das 64. hat sie nicht vergütet, wegen eines kleinen Formfehlers – es fehlte beim Indikationsschlüssel der letzte Buchstabe.

    Edith Zeisig in „Baden Württemberg aktuell” vom 22.10.2010

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Ins Abseits gestellt: Entdeckt der Physiotherapeut einen Fehler auf der ärztlichen Verordnung, kann er nur hoffen, dass Arzt und Patient geduldig mitspielen – sonst gibt es von manchen Krankenkassen die Rote Karte.

Foto: K. Bauer