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DOI: 10.1055/s-0031-1271910
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart ˙ New York
20 Jahre Deutsch-Polnische Gesellschaft für seelische Gesundheit
Publikationsverlauf
Publikationsdatum:
20. Januar 2011 (online)
Verantwortlich für diese Rubrik: Manfred Wolfersdorf, Bayreuth; Iris Hauth, Berlin
Anlässlich des 40. Jahrestages der Befreiung des Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau organisierte die Krakauer Ärztegesellschaft im Jahre 1985 einen Kongress, der sich mit der Frage der Beteiligung von Ärzten an kriegerischen Auseinandersetzungen befasste. Der Vorsitzende des Kongresses war J. Bogusz, zugleich Herausgeber der Auschwitz-Hefte, welche Arbeiten über die psychischen und medizinischen Aspekte des Lebens und Sterbens in Auschwitz publizierten. An dieser Tagung nahmen Psychiater aus der Bundesrepublik teil, die sich zur Erforschung der NS-Euthanasie zusammengefunden hatten. Das Interesse dieses maßgeblich auf Initiative von K. Dörner gegründeten Arbeitskreises konzentrierte sich zunehmend auf die Verlegungen von Patienten aus deutschen psychiatrischen Anstalten in den Osten, worüber bis dato in der deutschen Öffentlichkeit so gut wie nichts bekannt war. Aus den auf dem oben genannten Kongress geführten Debatten entstand dann die Idee, eine Begegnungsreise auf den Spuren der in den Osten deportierten Patienten zu unternehmen und mit Vertretern der Kliniken in Polen den Austausch zu suchen. Organisiert von der Deutsch-Polnischen Gesellschaft und der Psychiatrischen Universitätsklinik Krakau fand diese Reise im Mai 1987 statt. Besucht wurden unter anderem die Kliniken in Gniezno und Kobierzyn sowie die Gedenkstätten in Auschwitz-Birkenau und Poznan, wo 1939 die erste Massentötung psychisch Kranker durch deutsche Behörden stattgefunden hatte. Aus den Gesprächen entstand der Wunsch, den begonnenen Dialog fortzusetzen und zu vertiefen. Ziel sollte die Auseinandersetzung mit der besonderen deutsch-polnischen Geschichte insbesondere im Hinblick auf deren Auswirkung auf psychisch Kranke sein. Letzteres deshalb, weil die begonnenen Diskussionen eine Reihe von Gemeinsamkeiten in der Auffassung über die Reform der psychiatrischen Versorgung in beiden Ländern zeitigten. Die Polnische Psychiatrie-Gesellschaft führte dann aus Anlass des 50. Jahrestages des deutschen Angriffs auf Polen eine Gedenkveranstaltung durch, zu der deutsche Psychiater geladen wurden. H. Neseker, der damalige Direktor des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe und K. Dörner unterzeichneten im Gesundheitsministerium Warschau ein Abkommen zur Zusammenarbeit und zum gegenseitigen Austausch. H. Neseker regte die Gründung von Partnerschaften zwischen Kliniken in Polen und Deutschland an, die Mitarbeitern der Kliniken Möglichkeiten zum Erfahrungssaustausch geben sollte. Mit dieser Aufgabe wurde die im Jahre 1990 gegründete Deutsch-Polnische Gesellschaft für seelische Gesundheit beauftragt, deren Aktivitäten zunächst maßgeblich vom Landschaftsverband Westfalen-Lippe finanziert wurden. Die Gesellschaft verfolgt das Ziel, die Beziehungen zwischen polnischen und deutschen Psychiatern partnerschaftlich zu entwickeln und gemeinsame Leitlinien einer menschenwürdigen und humanen Prinzipien verpflichteten Psychiatrie zu formulieren. Hierbei ist die Achtung der Würde, des Willens und der Individualität Psychiatrieerfahrener ein wesentliches Teilziel und damit verbunden die Entwicklung personenzentrierter Hilfen sowie die Reflektion über gesellschaftliche und kulturelle Abhängigkeiten psychiatrischen Denkens und Handelns sowie deren ethische Folgen. Wesentliches Anliegen der Deutsch-Polnischen Gesellschaft für seelische Gesundheit ist die Einbeziehung aller Berufsgruppen in den gemeinschaftlichen Austausch. Auf diesem Wege sind in den vergangenen 20 Jahren insgesamt 13 Partnerschaften zwischen deutschen und polnischen Kliniken mit insgesamt über 500 Mitgliedern entstanden. Innerhalb dieser Partnerschaften erfolgen regelmäßige wechselseitige Hospitationen aller Berufsgruppen, gemeinsame Freizeitaktivitäten mit Patienten sowie Tagungen und Symposien namentlich zu Fragen der Versorgung und der Behandlung psychischer Krankheiten. Darüber hinaus veranstaltet die Deutsch-Polnische Gesellschaft für seelische Gesundheit jährlich wechselweise in Deutschland und in Polen wissenschaftliche Kongresse, die sich mit einem breiten Spektrum von Themen befassen, so mit der Frage der ethischen Begründung psychiatrischen Handelns, mit der Frage, wie eine Psychiatrie nach Auschwitz aussehen kann, aber auch damit, in welchem Spannungsfeld von Freiheit und Verantwortung psychiatrische Ethik begründet ist, ferner die Auseinandersetzung um Missbrauch in der Psychiatrie, die Folgen von Traumatisierungen für seelische Gesundheit, die Konsequenzen der Migra.tion und wie sich Biografien trotz Trauma und Entwurzelung rekonstruieren lassen. Weitere Themen waren der Einfluss der Gesellschaft auf Jugendliche und deren seelische Folgen, psychiatrische Krankheiten und Behinderungen im Alter und die Verantwortung der psychiatrischen Dienste insbesondere für chronisch psychisch Kranke. Ferner Möglichkeiten und Grenzen der Psychiatriereform, die Verantwortung kommunaler Träger, die Bedeutung der beruflichen Rehabilitation und der Stellenwert der Bedürfnisse psychisch Kranker in der psychiatrischen Versorgung. Diese Diskussionen werden vertieft in der von der Gesellschaft jährlich herausgegebenen Zeitschrift Dialog und in dem halbjährlich herausgegebenen Periodikum Dialog aktuell (http://www.p-ntzp.com). Für die besonderen Verdienste um Verständigung beider Länder wurden Vertreter des Vorstandes mehrfach mit dem Bundesverdienstkreuz und dem polnischen Andreaskreuz ausgezeichnet, die Gesellschaft selbst mit einer Auszeichnung der Stiftung pro publico bono für besonderes staatsbürgerliches Engagement. Zuletzt hat das Bundesgesundheitsministerium die Gesellschaft beauftragt, das Modell auf die Ukraine zu übertragen und das Ministerium im Rahmen des Deutsch-Ukrainischen Gesundheitsabkommens zu beraten. Derzeit findet ein enger Austausch mit psychiatrischen Diensten in vier Regionen in der Ukraine, Lemberg, Kiew, Odessa und Donezk statt.
Hartmut Berger, Riedstadt