Z Orthop Unfall 2010; 148(5): 498-499
DOI: 10.1055/s-0030-1267874
Orthopädie und Unfallchirurgie aktuell

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Schmerzversorgung – Die "Schmerzfreie Stadt"

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Publication Date:
06 October 2010 (online)

 
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Einmal mehr schickt sich ein Forschungsprojekt an, die Schmerzversorgung von Patienten in Krankenhaus und Altersheim zu verbessern. Diesmal im westfälischen Münster.

Geht alles mit rechten Dingen zu, ist Münster im Jahr 2013 schmerzfrei. Nun, ganz so ist der Projekttitel Schmerzfreie Stadt denn doch nicht zu verstehen. Man wäre schon froh, so Professor Jürgen Osterbrink, fachlicher Leiter des Projekts, die Zufriedenheit mit der Schmerzversorgung wäre bis 2013 unter Patienten und Altenheimbewohnern deutlich gestiegen: "100 % schmerzfrei kann keiner immer und überall garantieren." Es gehe um bestmögliche Linderung und Prävention.

Im März 2010 fiel der offizielle Startschuss des auf 3 Jahre angelegten Projekts. Schmerzfreie Stadt Münster hat 3 Etappen:

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Etappe 1: Ist-Erhebung

In allen 6 Krankenhäusern von Münster, allen Hospiz- und Palliativstationen, 14 Altenheimen und 10 ambulanten Pflegediensten läuft derzeit die Ist-Erhebung über die Schmerzversorgung. Erste Daten soll es ab Herbst 2010 geben. Allein in den Heimen werden an die 1000 Bewohner befragt.

Und gerade damit schließt das Projekt eine Lücke. "Hospize und Altersheime sind für uns eine große Blackbox", meint Osterbrink. Man habe kaum Zahlen zur Schmerzversorgung. Wenn, dann sind sie nicht gut: Vermeidbare Schmerzen bei 69 % der Bewohner dreier Altenheime ermittelte eine der seltenen Untersuchungen: Hier eine holländische Studie aus dem Jahr 2008. Das Schmerzmanagement lasse erheblich zu wünschen übrig, so die Autoren um Anneke A. Boerlage vom Erasmus Medical Center in Rotterdam.

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Etappe 2: Planaufsetzung

Etappe 2 in Münster: Nach der Bestandsaufnahme wollen die Initiatoren für jede Einrichtung einen maßgeschneiderten Plan aufsetzen, welche Schulungen nötig sind, welches Fachwissen fehlt, wie Strukturen, Teamsitzungen, neu einzurichten sind. Osterbrink: "Wir möchten Schwachpunkte erkennen und dann gemeinsam mit den lokalen Akteuren daran arbeiten." Nach einem weiteren halben Jahr eigenständiger Umsetzung soll dann, Etappe 3, eine erneute Datenerhebung messen, ob und wo es Erfolge gibt, und wo nicht.

Wieso das Ganze? Eigentlich ist Schmerztherapie heute auf einem exzellenten Niveau. Etwa nach Operationen im Krankenhaus. Fast 400 Seiten hat allein die mächtige S3-Leitlinie "Behandlung perioperativer und posttraumatischer Schmerzen", zuletzt aktualisiert im April 2009.

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Die "Schmerzfreie Stadt", ein Projekt mit Ambitionen, denn auch heute noch klagen in Deutschland 30 – 50 Prozent der Patienten über Schmerzen nach der OP (Bild: ccvision).

Darin ist etwa nachzulesen: Gute Schmerztherapie beginnt im Krankenhaus bereits mit der Aufnahme des Patienten. Der soll nicht nur frühzeitig gezeigt bekommen, wie er mittels farbiger oder numerischer Analogskalen jederzeit dem Personal die Stärke seiner Schmerzen verdeutlichen kann. Spätestens im Aufklärungsgespräch müssen Ärzte auch darüber reden, welche Schmerzen nach einer OP zu erwarten sind, und wie der individuell zugeschnittene Plan zur Schmerzversorgung aussieht.

Was zu oft fehlt, ist die Umsetzung: Gerade mal 12 % aller hiesigen Krankenhäuser verwendet nach einer Studie von 2003, publiziert von einer Gruppe um Edmund Neugebauer von der Universität Witten-Herdecke, überhaupt Schmerzskalen für die Patienten.

Ähnliche Größenordnungen ermittelte ein Projekt Schmerzfreies Krankenhaus, das zwischen 2003 und 2007 25 Kliniken checkte. Resümee: 50 – 60 % aller Patienten im Krankenhaus leiden an vermeidbaren Schmerzen.

Zugleich berichtete Schmerzfreies Krankenhaus von Erfolgen. Aufklärung und Schulung in den Häusern helfen, die Zahl der Patienten mit starken Schmerzen deutlich zu senken. Das Projekt der Deutschen Gesellschaft zum Studium des Schmerzes (DGSS), der MEDICA Deutsche Gesellschaft für Interdisziplinäre Medizin e.V., war ein Vorläufer für das neue Projekt in Münster.

Das geht nach ähnlicher Methodik vor, versucht aber nun erstmals, die Schmerztherapie in der gesamten kommunalen Versorgungslandschaft über die Grenzen von Krankenhäusern hinweg in den Blick zu bekommen.

Einige Stichworte, die auch diesmal wieder eine Rolle spielen dürften:

Klare Zuständigkeiten. Nötig ist in jedem Krankenhaus ein fest definiertes Team aus Ärzten und Pflegenden, das für die Schmerzversorgung zuständig ist. "Dass die postoperative Schmerztherapie kein Gnadenakt – Motto: "Das nächste Analgetikum gibt‘s erst in 2 Stunden –, sondern vielmehr eine Selbstverständlichkeit ist, hat sich noch nicht überall durchgesetzt", berichtet auch PD Dr. Winfried Meißner vom Universitätsklinikum Jena. Zwar habe sich die postoperative Schmerztherapie in den letzten Jahren verbessert, aber auch heute noch klagten 30 – 50 % der Patienten über zumindest zeitweise starke oder sehr starke Schmerzen nach der Operation.

Angepasste Versorgung. Gerade bei großen orthopädischen Eingriffen, betont Winfried Meißner, zeigten eigene Daten heute eine beeindruckende Überlegenheit von Regionalanalgesieverfahren sowohl hinsichtlich Schmerzlinderung als auch Nebenwirkungen und Zufriedenheit. Helfen kann oft auch eine PCA. Bei der Patient Controlled Analgesia bedient der Patient eine Infusion, kann sich darüber Schmerzmittel bis zu einer programmierten Maximaldosis selber dosieren. "Viele Häuser setzen das allerdings bislang nur bei großen Operationen ein", moniert Jürgen Osterbrink. Noch effizienter ist oft eine Medikamentengabe über einen Katheter in den Periduralraum, die PCEA. "All diese Verfahren ersetzen jedoch nicht die ständige Schulung und Wissensvermittlung", weiß Meißner.

Zugleich machen Medikamente noch keine komplette Behandlung aus. "Wenn Sie nach einer Wirbelsäulenoperation immer auf die nackte Decke nach oben starren, müssen Sie nach einigen Tagen ja wahnsinnig werden", meint Osterbrink. In der Mayo Clinic in Jacksonville, USA, hingen dort digitale Bilderrahmen mit wechselnden Aufnahmen, Landschaften oder Fotos, die der Patient selber zuvor programmieren könne. Osterbrink: "Das kann jedes Haus mit geringen Mitteln anwenden."

In Altenheimen geht es v. a. um die richtige Versorgung der chronischen Schmerzen. Der wissenschaftliche Sachstand ist auch hier gut nachlesbar. S3-Leitlinien geben Anleitung bei Tumorschmerzen, zu chronischen Schmerzen anderer Genese bis hin zur Versorgung bei Fibromyalgie. Seit 2005 gibt es obendrein einen Expertenstandard zum Schmerzmanagement in der Pflege (siehe Kasten). Osterbrink, ein Hauptautor, fürchtet allerdings, dass viele Bewohner von Heimen gar keine Schmerzmittel bekommen: "Das ist die Aufgabe des Hausarztes, der in den Heimen oft nicht präsent ist." Solche Probleme will das neue Münsteraner Projekt jetzt angehen.

Geldgeber – über die Höhe der Kosten schweigen sich die Teilnehmer aus – sind zu je einem Drittel die Stadt Münster, die Firma Mundipharma und das Land Salzburg – Osterbrink ist Vorstand des Lehrstuhls für Pflegewissenschaft der Paracelsus Medizinische Privatuniversität (PMU) in Salzburg. Bei entsprechenden Erfolgen sollen die Münsteraner Einrichtungen das Certkom-Zertifikat erhalten. Hinter Certkom e.V stehen DGSS und MEDICA, die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP) und der Deutsche Berufsverband für Pflegeberufe (DBfK). Wer das Zertifikat will, muss nachweisen, dass er grundlegende Aspekte des Schmerzmanagements umsetzt. Zudem müssen Umfragen zeigen, dass zumindest mehr als die Hälfte der Patienten in einer Einrichtung zufrieden mit der Schmerztherapie ist. Die Kosten für das Zertifikat belaufen sich für ein "mittleres Krankenhaus" (Osterbrink) auf 5300 Euro. Welche Parameter ein Zertifikat bei Pflegeinrichtungen und -diensten erfassen wird, soll das Münsteraner Projekt noch entwickeln.

August 2010 waren erst 35 Kliniken von Certkom e.V. zertifiziert. 118 chirurgische Kliniken machten zum gleichen Zeitpunkt bei QUIPS mit. Bei der Qualitätsverbesserung in der postoperativen Schmerztherapie spiegelt eine Online-Plattform für Dateneingabe und Auswertung den Kliniken die Güte ihrer Schmerzversorgung im Vergleich mit anderen wider. Ursprünglich entwickelt von einer Gruppe um Winfried Meißner in Jena, wird das Projekt heute von den Fachgesellschaften der Anästhesisten und Chirurgen (DGAI/BDA und DGCH/BDC) getragen. "Es ist nicht kommerziell und es gibt keine Verbindungen mit Pharmafirmen", betont Meißner. Die Datenbank umfasst mittlerweile 123 000 Datensätze. Obendrein wird das Projekt jetzt im Rahmen einer EU-Förderung unter dem Stichwort "Pain Out" international ausgeweitet (siehe Kasten). Ein Zertifikat vergibt QUIPS nicht – dadurch vermeide man nicht nur geschönte Daten, berichtet Meißner. Das Projekt solle v. a. Kliniken motivieren, freiwillig Defizite zu erkennen und zu bearbeiten. Einen Prozess zur stetigen Selbstverbesserung anstoßen.

Zertifikate und Projekte hin oder her: Helfen muss sich am Ende womöglich auch der Bürger ein Stück weit selber. Eigentlich sichert ihm das Grundrecht auf "körperliche Unversehrtheit" optimale Schmerztherapie zu. So mancher scheint das allerdings gar nicht zu wissen. Osterbrink: "Der Patient erwartet in Deutschland Schmerzen und wird von Ärzten und Pflegenden oft auch nicht enttäuscht."

Dr. Bernhard Epping

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Weitere Informationen

"Schmerzfreie Stadt":
http:/www.schmerzfreie-stadt.de/

"Schmerzfreies Krankenhaus":
http://www.schmerzfreies-krankenhaus.de

Certkom e.V.
http://www.certkom.com

QUIPS:
http://www.quips-projekt.de

Pain Out:
http://www.pain-out.eu

Artikel zu QUIPS:
http://www.aerzteblatt.de/v4/archiv/artikel.asp?id=62704

Leitlinien

S3-Leitlinie "Behandlung akuter perioperativer und posttraumatischer Schmerzen":
http://www.uni-duesseldorf.de/AWMF/ll/041-001.pdf

Weitere Leitlinien zum Thema Schmerz, über die Suchfunktion bei der AWMF:
http://www.leitlinien.net

Expertenstandard Schmerzmanagement in der Pflege:
http://www.dnqp.de/ExpertenstandardSchmerzmanagement.pdf

Zwei Studien aus den Niederlanden zur Schmerzversorgung in dortigen Altersheimen:

http://www.unimaas.nl/hcns/web-siteVW/publications/Publication%20scans/Boerlage.%20Pain%20prevalence%20and%20characteristics%20in%20three%20Dutch%20residential%20homes.pdf

http://www.painmanagementnursing.org/article/S1524-9042%2808%2900108-2/abstract

 
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Die "Schmerzfreie Stadt", ein Projekt mit Ambitionen, denn auch heute noch klagen in Deutschland 30 – 50 Prozent der Patienten über Schmerzen nach der OP (Bild: ccvision).