Z Orthop Unfall 2010; 148(5): 495-497
DOI: 10.1055/s-0030-1267873
Orthopädie und Unfallchirurgie aktuell

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Gonarthrose – Stehen ist besser als Knien

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06 October 2010 (online)

 
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ArGon, eine Fallkontrollstudie zur Gonarthrose bestätigt jetzt erstmals auch für Frauen: je häufiger sie im Laufe der Jahre kniend oder hockend arbeiten müssen, desto höher das Risiko auf eine Arthrose im Kniegelenk. Viele andere Fragen zur Prävention aber bleiben nach wie vor offen.

Seit 1. Juli 2009 steht die Kniegelenks- alias Gonarthrose auf der Liste der Berufskrankheiten. Seitdem gingen (Stand Anfang August 2010) bereits 1076 Verdachtsanzeigen auf diese BK-Nummer 2112 bei den zuständigen Berufsgenossenschaften ein, 8 Fälle davon wurden als Berufskrankheit anerkannt.

Bis es soweit ist, gibt es allerdings mehrere Hürden. Eine davon ist zeitlicher Natur: Geltend machen kann man eine BK 2112 nur dann, wenn die Gonarthrose erst nach dem 30. Juni 2002 neu diagnostiziert wurde, dem Veröffentlichungszeitpunkt einer wissenschaftlichen Empfehlung des Ärztlichen Sachverständigenbeirats Berufskrankheiten beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS).

Ein Betroffener muss außerdem nicht nur chronische Kniegelenksbeschwerden haben, und die Röntgenuntersuchung eine Arthrose vom Grad 2 und mehr der Klassifikation nach Kellgren zeigen. Obendrein muss der Unfallversicherungsträger zum Ergebnis kommen, dass ein Versicherter mindestens 13 000 Stunden in seinem Arbeitsleben "kumulativ" kniend oder in einer "vergleichbaren Kniebelastung" verbracht hat. Und pro Arbeitsschicht muss er mindestens eine Stunde so zugebracht haben.

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Einzelne Branchen können zwar nicht dingfest gemacht werden, aber egal ob Mann oder Frau: je mehr Zeit im Knien verbracht wird, desto höher das Risiko auf Gonarthrose (Bild: Cord Stock).

Um die konkreten Zahlen im Einzelfall zu erheben, stützt sich der Technische Aufsichtsdienst der Unfallversicherung überwiegend auf die Erinnerung eines Versicherten. Der muss erklären, wo er wie lange kniend, hockend oder womöglich gar auf allen Vieren kriechend tätig war. Als besonders risikoreich listet das offizielle Merkblatt zur BK 2112 17 Branchen – vom Fliesenleger bis zum Gärtner.

Um das Für und Wider von Risikofaktoren diskutieren die Experten allerdings bis heute. Ein großes Problem bleibt die sehr dünne Datenbasis. Die wissenschaftliche Begründung zur BK 2112 stützt sich vorrangig auf einige wenige epidemiologische Studien. Jene 13 000 Stunden im Knien oder in der Hocke etwa, die der Grenzwert für eine Anerkennung sind, gelten als der Wert, der das Risiko auf eine Gonarthrose gegenüber einer nicht im Knien werkelnden "Normalbevölkerung" verdoppelt. Der Wert 13 000 stammt aus einer Studie einer Gruppe um PD Hélène Sandmark von der Universität im schwedischen Örebro aus dem Jahr 2000. 13 000 Stunden im Knien waren dort in der Tat der Mittelwert für ein verdoppeltes Risiko auf Gonarthrose. Doch die Spannweite der individuellen Einzelwerte in der Studie reicht von 2700 bis fast 24 000 Stunden – eine enorme Streuung.

Nicht nur zu diesem Parameter bietet jetzt eine mit Mitteln der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) finanzierte Studie ArGon (Arbeit und Gonarthrose) neuen Diskussionsstoff.

Die 2006 gestartete Fallkontrollstudie verglich die Kniebelastungen bei 739 PatientInnen mit und 571 ohne Gonarthrose. Die Teilnehmer wurden an 3 orthopädischen und unfallchirurgischen Kliniken in Wuppertal und Köln gewonnen. In einem umfangreichen Fragebogen fragte das Team um Dr. André Klußmann vom Wuppertaler Institut für Arbeitsmedizin, Sicherheitstechnik und Ergonomie e.V. (Aser) u. a. nach dem Beruf, der Zeit, die jemand nach eigener Einschätzung im Job knieend verbracht hatte, nach Körpergewicht und Größe, nach Freizeitaktivitäten einschließlich Sport.

Die Studie kommt auf ähnliche Größenordnungen für ein verdoppeltes Gonarthroserisiko wie die Vorschrift zur BK 2112, mehr aber auch nicht. Die Autoren finden für Frauen eine 2,5-fach erhöhte Chance (Odds Ratio von 2,5) auf eine Gonarthrose bereits bei knapp 9 000 Stunden "kumulativem Kniens". Damit ist der Wert niedriger als bei Männern, wo sich rund 12 250 Stunden ergaben.

Zugleich kann die Studie erstmals zeigen, dass auch für Frauen eine lineare Beziehung besteht zwischen der Zeit kniebelastender Tätigkeit und dem Risiko auf Gonarthrose. "Es ist die erste Studie, die das belegt, bislang war das nur für Männer gezeigt", kommentiert Mitautorin Professor Monika Rieger, Ärztliche Direktorin des Instituts für Arbeits- und Sozialmedizin an der Universität Tübingen. Für Frau und Mann gilt damit: Jede Stunde im Knien oder in der Hocke erhöht das Risiko auf Gonarthrose, wenngleich für sich genommen geringfügig.

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Die Grenzwerte müssen diskutiert werden

Dass die rechtlichen Vorgaben zur BK Gonarthrose die Messlatte trotzdem auf ein verdoppeltes Risiko legen, sei eine politische Entscheidung, erläutert Rieger. Wobei man für eine Berufskrankheit durchaus einen gewissen Abstand zum normalen Lebensrisiko fordern müsse, zumal bei einer Volkskrankheit wie Gonarthrose, die Millionen Menschen eben auch ohne berufliche Belastungen trifft.

Damit deutet die ArGon-Studie aber eben auch eine Benachteiligung von Frauen durch die derzeitige Regelung zur BK 2112 an. Rieger: "Eine Verdopplung des Risikos auf Gonarthrose zeigt sich bei Frauen bereits nach deutlich weniger Stunden in entsprechender Körperhaltung als bei Männern." Zugleich habe man gefunden, dass Frauen den Wert von 13 000 Stunden an kumulativer Gesamtbelastung in einschlägigen Branchen kaum schaffen, wo Männer ihn sehr wohl erreichen. Rieger: "Wir werden die Frage der Grenzwerte in den kommenden Jahren wissenschaftlich weiter diskutieren."

Das Hauptziel von ArGon war die Suche nach Präventionsmöglichkeiten im Arbeits- wie im Privatleben.

Übergewicht entpuppte sich dabei einmal mehr als der mit Abstand wichtigste Risikofaktor. Frauen mit einem BMI zwischen 30 und 35 hatten ein um den Faktor 3,5, Frauen mit einem BMI zwischen 35 und 40 sogar ein 11,6-fach erhöhtes Risiko. Bei Männern lagen die Werte bei 4,0 und 12,6.

Ein hohes Risiko für Frauen birgt nach der ArGon-Studie auch ein Beinachsenfehler, X- oder O-Beine (OR von 11,5).

Eine familiäre Vorbelastung und manche Sportarten erhöhten das Risiko bei beiden Geschlechtern – wenngleich für sich genommen deutlich weniger als Übergewicht. Bei Frauen, die besonders viele Lasten in ihrem bisherigen Leben gehoben hatten, war das Risiko ebenfalls moderat erhöht, bei Frauen, die viel saßen oder rauchten, hingegen gar verringert.

Konkrete Handlungsmaximen lassen sich nur wenige aus der ArGon-Studie ableiten. "Je weniger jemand während der Arbeit kniet, je mehr im Stehen oder Sitzen stattfindet, desto besser für die Knie", erklärt Rieger. Und ganz klar: Ebenso wichtig, wie die Ergonomie am Arbeitsplatz zu verbessern, sei es bei manchen Mitarbeitern, das Thema runter vom Übergewicht anzusprechen.

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Schwimmen ist besser als Handball

Einzelne Branchen mit per se erhöhten Risiken kann ArGon nicht dingfest machen. Auch nicht einzelne Sportarten. Zu viele individuelle Parameter gehen offenkundig in die Gefährdung ein. "Ein Gärtner, der den ganzen Tag im Knien Beete erntet, kommt auf andere und höhere Belastungswerte, als einer, der im Stehen arbeitet", nennt Rieger ein Beispiel. Bei den Sportarten halfen sich die Autoren mit einer Zusammenschau auf nach orthopädischen und sportmedizinischen Gesichtspunkten gruppierte Disziplinen: Sportarten wie Fußball, Handball oder Badminton, die nach Expertenmeinung ein hohes Risiko auf inapparente Verletzungen bergen, zusammen betrachtet, tatsächlich ein erhöhtes Risiko auf Arthrosen im Kniegelenk. Für Fußball- und Badmintonspieler alleine waren die Effekte allerdings nicht belegbar. Dafür waren die Fallzahlen in den einzelnen Gruppen zu gering.

"Schwimmen und Radfahren sind besser für das Knie als Fußball", resümiert Rieger, die dennoch keine generelle Empfehlung aussprechen möchte: "Wir raten nicht von Fußball im Verein ab, spielen Sie, wenngleich bitte ohne verbissenen Ehrgeiz und mit entsprechendem Training." Beides senke das Unfallrisiko.

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Bild: Fotolia, Fotograf: Alexander

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Tipps zur Prävention fehlen

In einem zentralen Punkt hilft ArGon als rein epidemiologische Studie gar nicht weiter: Bis heute fehlt ein biologisches Modell, wie häufiges Knien überhaupt einer Gonarthrose Vorschub leistet. "Der Mechanismus der Krankheitsentstehung ist nicht geklärt", berichtet Dr. Rolf Ellegast vom IFA, dem Institut für Arbeitsschutz der DGUV in St. Augustin. In der Fachsprache fehlt das "belastungskonforme Schadensbild". "Das erschwert die Entwicklung von Präventionsmaßnahmen", bedauert Ellegast.

Dass Stehen, Sitzen und Gehen besser als Knien und Hocken sind, daran besteht auch für ihn kein Zweifel. Doch darüber hinaus sind Tipps zur Prävention für den Arbeitsalltag nur schwer möglich. So deutet ein am IFA unlängst entwickeltes biomechanisches Kräftemodell an, dass Knien an sich womöglich weniger auf die Gelenke geht als Aufstehen und In-die-Knie-Gehen. "Mach möglichst oft Pause und steh aus der Hocke wieder auf, könnte daher sogar der völlig falsche Ratschlag sein", kommentiert Rieger. "Wir wissen es nicht."

Unbestritten bleibt hingegen, dass manche Branchen generell mehr auf Stehen denn Knien setzen könnten. 2007 zeigte eine Studie der dänischen Arbeitsmediziner Lilli Kirkeskov Jensen und Claus Friche, dass Bodenleger mit entsprechenden Gerätschaften einen Estrich auch im Stehen glätten können und damit ihren Kniegelenken einen Gefallen tun. Dafür reicht schlicht ein Glätter mit langem Besenstiel.

Das IFA weist ebenfalls auf entsprechende Hilfsmittel hin, etwa Teleskopstäbe für Raumausstatter oder ein neues Schleifgerät für den Metallbau, das ein Arbeiten im Stehen erlaubt. Auch die BG Bau hat eine Liste Ergonomie-verbessernder Produkte zusammengestellt, darunter sind Verlegehilfen, die es erlauben, Gehwegsplatten im Stehen zu verlegen (siehe Kasten). Noch werden solche Kniffs hierzulande eher zögerlich umgesetzt, meint Rolf Ellegast.

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Messwerte sollen zur Begutachtung beitragen

Diskussionsstoff bietet auch eine weitere Subanalyse der ArGon-Studie. Die Selbsteinschätzung von Betroffenen zu der Zeit, die sie im Berufsleben im Knien verbracht haben, stimmt danach oft nicht mit echten Messungen überein. Bei 25 Arbeitern verglichen die Autoren die Zeit, die sie tatsächlich während der Arbeit gebückt oder kniend verbrachten, mit ihrer Selbsteinschätzung. Ergebnis: Viele Teilnehmer überschätzten in ihrer Erinnerung die Zeit – um bis zu 50 %.

Auch der 13 000 Stunden-Grenzwert für die Anerkennung zur Berufskrankheit basiert auf Selbsteinschätzungen von Berufstätigen. Monika Rieger hält das Verfahren so lange für tolerabel, wie Grenzwert und individueller Wert im Rahmen zur Anerkennung einer Berufskrankheit nach gleicher Methode gewonnen werden. "Keinesfalls darf man aber Messwerte für die Belastungen eins zu eins mit den Daten aus Selbsteinschätzungen verrechnen", so ihre Mahnung.

Messwerte sollen allerdings schon bald Einzug in die Begutachtungsverfahren halten. Im Projekt Gonkatast hat eine Gruppe um Dirk Ditchen, ebenfalls vom IFA, Ellegast und Rieger bei 197 Arbeitern aus 16 Branchen über 242 Arbeitsschichten hinweg die Stellung des Kniegelenks exakt vermessen, und anschließend die Messwerte mit denen einer Befragung der Teilnehmer verglichen. Das Ergebnis ist eine breite Streuung: "Viele Befragte überschätzten, andere unterschätzten die Dauer ihrer Kniebelastungen", berichtet Ellegast.

Der Datensatz der objektiveren Mess-werte ist Grundlage für ein Kataster kniebelastender Tätigkeiten und wurde mittlerweile in eine Anamnese-Software integriert. Sie soll helfen, die Datenerhebung bei Verfahren zur Anerkennung einer BK 2112 zu verbessern. Ellegast: "Die Software soll die Befragung nicht ersetzen, aber ergänzen. Selbsteinschätzungen alleine seien aufgrund der neuen Daten jedenfalls "nicht ausreichend". Der Sachstand zur Gonarthrose, so viel scheint klar, wird Experten und Antragsteller noch lange beschäftigen.

Dr. Bernhard Epping

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Einzelne Branchen können zwar nicht dingfest gemacht werden, aber egal ob Mann oder Frau: je mehr Zeit im Knien verbracht wird, desto höher das Risiko auf Gonarthrose (Bild: Cord Stock).

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