Psychother Psychosom Med Psychol 2010; 60(12): 486-497
DOI: 10.1055/s-0030-1265937
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Psychoonkologie: Stellenwert, Prinzipien und Behandlungsansätze[*]

Psychooncology: Utility, Principles and Therapeutic OptionsKatrin  Reuter
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Publication Date:
08 December 2010 (online)

Bedeutung der Psychoonkologie

Jährlich erkranken mehr als 430 000 Menschen in Deutschland an einer Tumorerkrankung [1]. Bei Frauen ist das Mammakarzinom, bei Männern das Prostatakarzinom die häufigste Krebserkrankung, gefolgt von Darm- und Lungenkrebs bei beiden Geschlechtern ([Abb. 1]). Die modernen Tumortherapien basieren auf:

Operation Strahlentherapie medikamentösen Behandlungen (Chemotherapie, Hormontherapie, Zytokine und Antikörper)

Abb. 1 Prozentualer Anteil ausgewählter Tumorlokalisationen an allen Krebsneuerkrankungen in Deutschland [1].

Tumorerkrankungen und ihre medizinischen Behandlungen stellen für betroffene Patienten einen starken Einschnitt in ihr Leben dar, der mit zahlreichen körperlichen, psychischen und sozialen Belastungsfaktoren einhergeht.

Unter dem Begriff Psychoonkologie hat sich eine Disziplin etabliert, deren Ziel es ist, die psychosozialen Aspekte in Entstehung, Behandlung und Verlauf von Krebserkrankungen wissenschaftlich zu untersuchen und die entsprechenden Erkenntnisse in der Versorgung und Betreuung der Patienten umzusetzen [2].

Die Entwicklung der Psychoonkologie als klinische und wissenschaftliche Fachdisziplin hat innerhalb der Onkologie dazu beigetragen, neben der reinen Überlebenszeit, die Erhaltung oder Wiederherstellung der Lebensqualität, als zentralen Ziel- und Erfolgsparameter für die häufig intensiven und invasiven medizinischen Behandlungen zu verstehen.

Psychoonkologische Versorgung

Die psychoonkologische Versorgung ist dadurch gekennzeichnet, dass sie heute in den verschiedensten Behandlungssettings (ambulante oder stationäre Akutbehandlung, Nachsorge, Rehabilitation, Palliativversorgung) mit jeweils dem Setting angepassten Angeboten (z. B. niederschwellige psychoonkologische Unterstützungs- und Beratungsangebote bis hin zu Psychotherapien) präsent sein kann.

Im Rahmen integrierter Versorgungsstrukturen in Krebs- und onkologischen Organzentren sollten Psychoonkologen heute in die interdisziplinären Teams integriert werden. Psychoonkologische Versorgungsstandards finden zunehmend Eingang in die medizinischen Versorgungsleitlinien (z. B. Interdisziplinäre S3-Leitlinie für die Diagnostik, Therapie und Nachsorge des Mammakarzinoms 3).

Kritische Phasen von Tumorerkrankungen und ihre Belastungen

Krebserkrankungen sind kein einheitliches Geschehen, sondern weisen Phasen des Krankheitsverlaufes auf, die mit unterschiedlichen psychischen Konsequenzen und Belastungen einhergehen ([Tab. 1]). In diesen Phasen entsteht in vielen Fällen psychoonkologischer Behandlungsbedarf, den es auf die spezifischen Problemstellungen abzustimmen gilt. Die medizinischen Behandlungen führen häufig zu funktionellen Belastungen und Störungen in verschiedenen Bereichen (z. B. Schmerzen, Sexualität, Einschränkung der körperlichen und kognitiven Leistungsfähigkeit, Sensibilität), die wiederum eine Auswirkung auf das Befinden haben [4].

Tab. 1 Kritische Phasen einer Tumorerkrankung und ihre psychischen Belastungen. Krankheitsphasen Psychische Konsequenzen und Belastungen Diagnosestellung / -mitteilung SchockVerwirrungOhnmachtVerleugnungSchuldgefühleTodesangstSymbolisierung des Tumors (vgl. Abb. 2)Ärger Onkologische Behandlungen und ihre Nebenwirkungen UnruheUmgang mit Übelkeit und ErschöpfungUmgang mit SchmerzenVerletzbarkeitBedürfnis nach KontrolleAngst vor nicht ausreichender Wirksamkeit der Behandlungen und Irreversibilität der Nebenwirkungen Abschluss der Behandlungen ZukunftsangstKonfrontation mit körperlichen VeränderungenUmgang mit behandlungsbezogener Inaktivität Rehabilitation und Nachsorge Progredienz- und Rezidivangstgesteigerte Beschäftigung mit der GesundheitEinsamkeitDepressivitätFurcht vor Intimität und SexualitätAngst vor Kontrolluntersuchungen / Antizipation negativer Testergebnissefinanzielle SorgenIsolation / familiäre Veränderungen Rezidiv bzw. Auftreten von Metastasen SchockHoffnungslosigkeitSchuldgefühleVertrauensverlustGefühle der EntfremdungÄrger Palliative bzw. terminale Phase DepressivitätDemoralisierungVerleugnungAngst vor KontrollverlustAngst vor dem Sterben Abb. 2 Zeichnung einer Brustkrebspatientin 3 Tage nach Diagnosestellung.

Krankheitsverarbeitung

Die konkrete Reaktion eines mit Krankheit konfrontierten Menschen hängt davon ab, wie beängstigend die Situation erlebt ([Abb. 2]) und eingeschätzt wird und welche Hilfen zur Verfügung stehen.

Krankheitsverarbeitung (Coping) Unter Krankheitsverarbeitung (Coping) wird die Gesamtheit der seelischen Prozesse verstanden, bestehende oder erwartete Belastungen im Zusammenhang mit Krankheiten und deren Auswirkungen durch zielgerichtetes Handeln zu reduzieren, auszugleichen, zu verarbeiten oder zu ertragen, um größtmögliche emotionale Stabilität wiederzugewinnen. Dabei kommt es zu einer Umdeutung der äußeren bedrohlichen Situation und zu Änderungen der inneren Einstellung zu dieser Bedrohung. Es müssen Kompromisse eingegangen werden, die oft mit Verzichtleistungen verbunden sind (nach 4).

Für die Beschreibung der Auseinandersetzung mit den Belastungen durch eine Krebserkrankung und deren Behandlungen werden 2 verschiedene Ebenen differenziert:

  • Das Bemühen emotionale Stabilität wiederzugewinnen

  • Die Regulation der Belastung durch kognitive und anschließend handlungsorientierte Problemlösung ([Abb. 3])

Abb. 3 Prozess der Krankheitsverarbeitung (adaptiert aus 4).

Heutige Annahmen zur Krankheitsverarbeitung beziehen sich zum einen auf Prozesse im einzelnen Patienten, zum anderen schließen sie auch personenübergreifend Kontextfaktoren mit ein [4]:

  • objektive Bedeutung des medizinischen Befundes

  • Symptome der Erkrankung

  • Vorstellungen des Patienten zu seiner Erkrankung („subjektive Krankheitstheorien”)

  • Vorerfahrungen mit Krisensituationen

  • Art und Umstände der medizinischen Therapien (Behandlungssetting, Arzt-Patient-Beziehung)

  • soziale Unterstützung durch Familie und Freunde

  • berufliche und finanzielle Situation

  • religiöse und spirituelle Vorstellungen

  • Persönlichkeit („Disposition”) des Patienten

Das Belastungserleben wird auf verschiedene Weise reguliert und hängt wesentlich von der Bedeutungszuschreibung ab, die der Patient der Krankheit gibt. Je nach persönlichem Krankheitskonzept können typische Verarbeitungsstrategien identifiziert werden ([Tab. 2]).

Tab. 2 Zusammenhang von Krankheitskonzepten und Verarbeitungsstrategien (nach 4). Erkrankungskonzept:Krankheit als … Verarbeitungsstrategien akzeptierte Herausforderung flexible und konstruktive Verarbeitung Feind, Bedrohung Kampf, Kapitulation, Angst, Abwehr, Vermeidung Beschädigung, Verlust Rückzug Schwäche Verleugnung, Überanpassung Gewinn in Passivität verharren, fordern Strafe fatalistische Hinnahme

1 Erstveröffentlichung: Psychiatr Psychother up2date 2010; 4: 273–284; modifizierte Fassung

Literatur

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1 Erstveröffentlichung: Psychiatr Psychother up2date 2010; 4: 273–284; modifizierte Fassung

Dipl.-Psych. Dr. Katrin Reuter

Universitätsklinik Freiburg
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