Psychiatr Prax 2010; 37(6): 313-314
DOI: 10.1055/s-0030-1265794
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Medizin und Macht

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Publication Date:
01 September 2010 (online)

 

Die aktuellen Diskussionen in der Ärzteschaft, in den Medien, auch die politischen Entscheidungen zur Sterbehilfe und zur Ergänzung des §218 zum Schwangerschaftsabbruch in der Spätgravidität waren gerade in Deutschland besonders notwendig und intensiv. Hatte doch hier die sog. Euthanasie zu der Ermordung von über 100 000 Insassen psychiatrischer Anstalten geführt. Sie ist aber immer noch ein gefährliches Rätsel geblieben.

Zwar sind eine Reihe von Veröffentlichungen seit dem Nürnberger Ärzteprozess (1947–1949) zum Beispiel von A. Mitscherlich – Mielke, B. Pauleikoff, E. Klee, G. Aly, K. Dörner erschienen, Karl Brandt, der Hauptverantwortliche sowohl für diese Untaten als auch für die Menschenversuche an KZ-Insassen blieb im Dunkeln.

Das Buch von Ulf Schmidt, einem ausgewiesenen Historiker, füllt mit seiner Biografie eine Lücke, indem er mit unglaublichem Eifer, breitest angelegter kritischer Quellenforschung und Akribie sowohl der Lebensgeschichte Brandts als auch den besonderen Strukturen des NS-Führungsstils nachgeht. Zeitweise ist man von der pedantischen Genauigkeit und einer gelegentlichen Redundanz etwas ermüdet, sieht jedoch zunehmend die Unvermeidlichkeit, ja Notwendigkeit seines Vorgehens ein. Ulf Schmidt hat 8 Jahre für diese Untersuchung benötigt und bedankt sich vor allem für die Geduld aller an der Edi tion Beteiligten. Schmidt hat selbst die Stenik besessen, wirklich jedem Hinweis nachzugehen. Nur dadurch ist es ihm gelungen, ein Gesamtbild Karl Brandts erscheinen zu lassen, wobei er nicht verbirgt, dass selbst jetzt noch manches in seiner Persönlichkeit offen bleibt.

Die Hauptschwierigkeit der vollen Aufklärung beruht auf der stets vage bleibenden Struktur aller Weisungen, die letztlich immer auf Adolf Hitler zurückführen, der sich zu seinen heute unglaublich anmutenden mörderischen Plänen immer wieder äußerte. Er gab ihnen aber in seiner zunehmenden Isolierung von der Realität nur äußerst selten eine konkrete oder gar eine schriftliche Form. Sein Misstrauen gegenüber Beamten und Militärs wurde immer stärker, sodass er seit der Machtergreifung 1933 einen immer enger werdenden Kreis von Vertrauten um sich schuf, zu denen vor allem Bormann, Goebbels, Himmler, Speer und schließlich auch sein "Begleitarzt" Karl Brandt gehörten. Selbst diese Personen mussten aber auch stets um ihre herausgehobene Stellung fürchten. Sie versuchten, die angedeuteten Absichten von Hitlers Mund abzulesen und in Pläne und Maßnahmen umzusetzen. Ihre Autorität beruhte nur darauf, dass man sie in unmittelbarer Nähe des Führers wusste. Ihre Anordnungen gaben sie nur mündlich, telefonisch und immer mehrdeutig weiter.

Diese Art, bindende Anweisungen zu geben, hatte für die Ausführenden den immensen, eindeutig gewollten Vorteil, dass jederzeit ein konkreter Vorwurf gegen einen Verantwortlichen leichter zu bestreiten war. Dies spielte auch im sehr korrekt und geduldig geführten "Ärzteprozess" eine große Rolle, verhinderte aber letztlich die Verurteilung eindeutiger Drahtzieher nicht. Deren wesentliche Verteilungsstrategie bestand in der Behauptung, angeblich human und mit der ärztlichen Ethik in Einklang den zur Ermordung bestimmten Menschen die "Erlösung" von einem qualvollen, unwürdigen Leben schenke.

Die Propaganda sprach aber bis in die Schulfibeln hinein schon vor dem Krieg von "unnützen Essern", die die Volkswirtschaft belasten. Man verwendete dabei auch den Begriff des "lebensunwerten Lebens", den der Jurist Karl Binding und der Psychiater Alfred Hoche 1920 eingeführt hatten. Die Tötung schwer behinderter Kinder war schon vor dem Kriege von namhaften Kinderärzten (W. Catel) durchgeführt worden. Die Massentötung Geisteskranker begann im Kriege. Es existiert ein Schreiben Hitlers vom 1. September 1939, in dem Reichsleiter Bouhler und Dr. med. Brandt beauftragt werden, "die Befugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte so zu erweitern, dass nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken der Gnadentod gewährt werden kann". Die Beauftragten waren fachfremd. Sie bedienten sich der Aktion "T 4", die bald zahlreiche bereitwillige Psychiater in verschiedenen Ebenen für die Auswahl, die Begutachtung und auch Tötung fand und die Ermordung der psychisch Kranken in Gaswagen, später Gaskammern, organisierte. Bis zum August 1941 waren schon 70000 Patienten der Tötung zum Opfer gefallen. Die bald einsetzenden und v.a. von kirchlicher Seite zunehmenden Proteste führten zu einem offiziellen Stopp. Die Morde wurden jedoch verdeckt als Einzeltötungen oder durch Aushungern fortgesetzt, sodass es bei Kriegsende sicher 117 000 kranke Menschen waren, die in Hitlers und Brandts Auftrag umgebracht worden waren.

Der zweite Verbrechenskomplex, für den Karl Brandt wesentlich mitverantwortlich zu machen ist, sind die medizinischen Menschenversuche an KZ-Häftlingen. Diese sollten zur Erforschung von Krankheiten dienen, und zwar mit Experimenten, die freiwilligen Personen nicht zumutbar erschienen und unter KZ-Bedingungen als kontrollierbarer galten. Die Versuche wurden häufig in äußerst diletantischer und gleichzeitig grausamer Methodik durchgeführt. Man steht fassungslos vor der Tatsache, dass Ärzte sich aktiv daran beteiligten und auch später nur selten Schuldgefühle erkennen ließen.

Es gab zwar zahlreiche Prozesse in Ost- und Westdeutschland, die sich mit diesen Verbrechen befassten. Sie führten zum Teil zu Todesurteilen, meist aber nur zu Freiheitsstrafen mit vorzeitigen Entlassungen. Andere wurden so spät angeklagt, dass inzwischen bereits Verhandlungsunfähigkeit eingetreten war. Einige hauptschuldige Psychiater (M. de Crinis, C. Schneider und W. Heyde-Sawade) begingen Suizid.

Ulf Schmidt hat sich in seinem verdienstvollen Buch fast ganz auf die Person Karl Brandt beschränkt. Er hat ihn mit seinen ursprünglich idealistischen Ansätzen, der zunehmenden Abhängigkeit von Hitler, seinem immer brennender werdenden Ehrgeiz und der damit verbundenen absoluten Skrupellosigkeit dargestellt. Seinen Erfolg konnte Brandt aber nur durch die rigorose Ausnutzung der chaotischen Führungsstruktur, die Hitler vorlebte, und die er imitierte, erreichen. Im April 1945 wurde er selbst Opfer der ebenso intriganten Mitstreiter, er wurde von Hitler verhaftet und zum Tode verurteilt. Er überlebte jedoch das Kriegsende und wurde nach dem Ärzteprozess 1949 hingerichtet.

Der Autor vermittelt dem Leser einen Erstaunen und Erschrecken auslösenden Einblick in die Struktur der NS-Diktatur, die eine so weitgehende Gewissenlosigkeit und Machtmissbrauch auslösen konnte. Die Ungeheuerlichkeiten, die sich viele der beteiligten Psychiater und deren Helfer in dieser Zeit zuschulden kommen ließen, bleiben relativ unkonkret und mehr am Rande. Das Buch von Ulf Schmidt ist dennoch eine wesentliche Bereicherung über die Geschehnisse von der "sogenannten Euthanasie", die auch viele Psychiater haben schuldig werden lassen.

Werner Greve, Berlin

Email: giselagreve@t-online.de

Schmidt U. Hitlers Arzt Karl Brandt. Medizin und Macht im Dritten Reich. Berlin: Aufbau-Verlag, 2009. 750 Seiten, 52 Fotos. 29,95 €, 49,90 sFr; ISBN 978-3-351-02671-4

  • 01 Schmidt U . Hitlers Arzt Karl Brandt. Medizin und Macht im Dritten Reich. Berlin: Aufbau-Verlag; 2009. 750 Seiten, 52 Fotos, 29,95 €, 49,90 sFr; ISBN: 978-3-35102671-4