Psychiatr Prax 2010; 37(6): 311-312
DOI: 10.1055/s-0030-1265792
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Ein heimlicher Wegbereiter der Psychiatrieenquete

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Publication Date:
01 September 2010 (online)

 

Eine Szene während einer Psychiatrietagung: Ich frage 3 Professoren, seit Jahrzehnten im Fach aktiv und sehr bekannt, ob sie sich an dieses Buch erinnern – an Frank Fischers "Irrenhäuser". Zwei schüt teln den Kopf; sie können damit nichts anfangen. Der Dritte, mit Jahrgang 1940 etliche Semester älter als die anderen, weiß sofort Bescheid. Ja, das Buch kenne er gut, das habe ihn sogar bei seiner Berufswahl beeinflusst, darüber habe er auch einmal etwas publiziert. Von einem vierten Fachmann erfahre ich später, dass auch er Fischers Band kennt und schätzt; es habe seinerzeit lebhafte Debatten ausgelöst.

Dies ist, nach Form und Inhalt, ein bemerkenswertes Buch: in dem, was es sagt (besser: was es entlarvt und anklagt) und ebenso in dem, was es verschweigt. Erschienen ist es mit seinen 192 Seiten im Jahr 1969, doch es beruht auf 2 Zeitungsartikeln, die Fischer bereits 2 Jahre zuvor in den Nummern 3 und 4/1967 der "Zeit" veröffentlicht hatte. Ungewöhnlich daran war, dass ein Laie, ein Außenstehender sich als Hilfspfleger in mehreren psychiatrischen Anstalten anstellen ließ. Und dass er darüber schrieb, um deren Innenleben kenntlich zu machen und aufzuklären, einer, der sonst beruflich nichts mit "Irrenhäusern" zu tun hatte. Vielmehr kam er damit in Kontakt, wie mir einer meiner Gesprächspartner versicherte, weil sein Bruder wegen einer Schizophrenie stationär behandelt wurde.

Das Buch selbst sagt zu diesem familiären Hintergrund nichts Genaues; auf Seite 10 wird lediglich "ein Bekannter mit Verdacht auf Schizophrenie" erwähnt, den er, Fischer, einmal in einer Anstalt besuchte. Von sich selbst sagt er, dass er Germanist und Historiker ist und sich von Juni 1967 an "als Hilfspfleger in verschiedenen Anstalten einstellen ließ", insgesamt 6,5 Monate in 5 deutschen Häusern und 7 Wochen "in 2 englischen und einer österreichischen Anstalt als Besucher und Beobachter". Das erinnert auf den ersten Blick an Wallraff - und ist doch anders angelegt.

Um diese Zeit erschienen die ersten Reportagen des gelernten Buchhändlers Günter Wallraff, der fremde Arbeitswelten und deren ausbeutererische Prinzipien offenbarte. Die Welt der Medizin erschloss sich Wallraff auf spezielle Art: Er hatte sie kennengelernt, nachdem er 1963, als Kriegsdienstverweigerer nicht anerkannt, zur "Beobachtung" seiner Haltung in die psychiatrische Abteilung des Bundeswehrlazaretts Koblenz eingewiesen worden war. Der dort als "abnorm" Eingestufte begann, Tagebuch zu führen. Bald drängte es ihn, seine Erlebnisse publik zu machen; Heinrich Böll förderte ihn dabei.

Seine Rolle als Psychiatriepatient wurde zum Ausgangspunkt späterer Texte (und beachtlicher Erfolge als Undercover- Rechercheur in fremdem Gewand), von denen er noch nichts ahnen konnte. 1969 erschien sein Beitrag "Als Alkoholiker ins Irrenhaus" als Teil der "13 unerwünschten Reportagen". Unter dem Deckmantel des Schwerabhängigen hatte sich Wallraff freiwillig, ohne richterlichen Beschluss, in das Goddelauer Philippshospital einweisen lassen.

Viel später hat er den Verkaufsleiter Markus Breitscheidel animiert und unterstützt, verdeckt als Pfleger in deutschen Heimen zu arbeiten; darüber schrieb Breitscheidel 2005 den Beststeller "Abgezockt und totgepflegt".

Zurück zu Frank Fischer und dessen frühen Einblicken, die freilich nicht alles transparent machen. In welchen Kliniken er war, welche Stations- und Chefärzte dort arbeiteten, welche Wärter und Pfleger mit welcher Ausbildung – das alles wird nicht beim Namen genannt, so viel Fischer auch aus Gesprächen zitiert und von seinen Beobachtungen berichtet, wobei er die Ich-Form zu vermeiden sucht. Man erfährt auch nicht, wie er als Laie zu all den Stellen kam und ob es dabei Konflikte gab.

Offenbar war Goddelau einer der wichtigen Schauplätze, sagt mir ein früher Beobachter. Fischer drückt sich zu seinem Arrangement so aus: "Natürlich findet sich nicht alles hier Angeführte in einer Anstalt konzentriert. Doch alle wiedergegebenen Details sind Wucherungen eines Systems, und wo das eine Merkmal fehlt, findet sich ein anderes in umso stärkerer Ausprägung." Interessant ist, dass der Autor auf Rückblicke zur NS-Zeit und mögliche Verstrickungen von Medizinern und Pflegern verzichtet; für einen Historiker höchst erstaunlich.

Über weite Strecken berichtet Fischer, der Hilfspfleger, anschaulich und vermutlich sehr realitätsnah, mit vielen Beobachtungen, Dialogen und Urteilen, wie er den kaum erträglichen Alltag in diesen Häusern erlebte. Schon in seinem sehr direkten, drastischen Vorwort attackiert er die dortigen Zustände und die öffentliche Geringschätzung der Psychiatrie ("Eine staatliche Einrichtung zur Behandlung psychisch kranker Menschen gilt bei uns als Schuttabladeplatz für diverse aggressive Gefühle"). Er fordert: "Eine grundsätzliche Wandlung der psychiatrischen Einrichtungen muss endlich in Gang gebracht werden", etwas, was dann mit der Psychiatrieenquete des Deutschen Bundestages (1971-1975) tatsächlich angepackt wurde. Deren Schlussbericht beginnt mit dem Satz: "Die Versorgung psychisch Kranker und Behinderter in der Bundesrepublik Deutschland ist dringend verbesserungsbedürftig."

Fischer erwähnt Protagonisten wie Caspar Kulenkampff, Heinz Häfner und Karl-Peter Kisker nur kurz, wie überhaupt die fachliche Debatte bei ihm keine große Rolle spielt. Die Namen und Ziele etwa von Strotzka, Goffman, H. W. Müller, Schulte und Panse werden nur angetippt. Doch später werden einige Fachvertreter Fischers Band als eine der wichtigen Spuren erkennen und anerkennen, die zur Psychiatrieenquete führten. Darauf hat Cornelia Brink in ihrem Beitrag ",Keine Angst vor Psychiatrie. Psychiatrie, Psychiatriekritik und Öffentlichkeit in der Bundesrepublik Deutschland (1960-1980)" zu dem 2006 veröffentlichten Sammelband "Moderne Anstaltspsychiatrie im 19. und 20. Jahrhundert" hingewiesen. Sie erinnerte auch daran, dass Zeitungen über Fischers Buch schrieben und "Ärzte vereinzelt" darauf reagierten. Die Ablehnung überwog deutlich.

In Heft 2/1973 der "Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie" (s. "Psychiatrische Praxis" Heft 2/2008, S. 201/202) wird Wolfgang Stumme zum Echo auf Fischer formulieren, dass es die betroffenen Mediziner "im allgemeinen bei übereilt einberufenen Pressekonferenzen bei oft peinlichen Selbstdarstellungen bewenden" ließen; "zu einer echten Reflexion des psychiatrischen Handelns ist es kaum gekommen".

Frank Fischers klare Sicht wurde gar, wie Cornelia Brink in ihrem Aufsatz resümiert, als "Stimme aus dem Untergrund denunziert", in die "Fabel- und Ausnahmewelt" verwiesen. Caspar Kulenkampff hingegen schlug sich 1970 - bei mancher Kritik an Fischers z.T. einseitiger Schilderung - auf dessen Seite, da, so der Düsseldorfer Psychiatrieprofessor, "alle dargelegten Begebenheiten tatsächlich irgendwo auf psychiatrischem Boden vorkommen" und es sich hier "nicht um literarische Erfindungen" handele.

Fischer ging es nach dessen Worten "nicht primär um irgendwelche eklatanten Verletzungen geltender Normen, um körperliche Misshandlungen etwa, sondern darum, nachzuweisen, dass die der deutschen Anstalt zugrunde liegenden Strukturen und Ordnungsschemata gar keine menschlichen Lebens- und Behandlungsbedingungen entstehen lassen können". Deshalb nennt er keine einzelnen Einrichtungen, keine konkreten Therapeuten und Pfleger, darunter offenkundig Sadisten; im Mittelpunkt steht für ihn "das Anstaltssystem selbst, das diese Unmenschlichkeit hervorbringt".

Zudem klagt Fischer die damals maßgebenden Unterbringungsgesetze der Bundesländer an; mit ihnen "gibt die Gesellschaft unverhohlen zu erkennen, dass ihr Interesse an psychisch kranken Mitbürgern nur darauf gerichtet ist, vor ihnen sicher zu sein, nicht aber, ihnen das Recht auf frühzeitige und optimale Behandlung zukommen zu lassen". Als Kontrast zitiert er John F. Kennedy, der 1963 vor dem US-Kongress die "schäbige Behandlung der Millionen von Geisteskranken innerhalb der Pflegeanstalten" zugegeben und gebrandmarkt hatte.

In Deutschland hat sich etwas geändert. Das war gewiss eine Folge der Psychiatrieenquete, der ihr folgenden Reformen und veränderter Gesetze, auch wenn es immer noch Defizite gibt. Seit Jahren sind die Psychiatrieerfahrenen gut organisiert; sie melden sich engagiert zu Wort, wenn es um Missstände, Versäumnisse und um ihre persönlichen Rechte, ihre Autonomie geht, etwa bei Zwangseinweisungen, bei Behandlungsvereinbarungen, beim Betreuungsrecht, bei der Vorsorgevollmacht und beim langen Streit um die Uno-Behindertenrechtskonvention, die für Deutschland erst im März 2009 in Kraft trat. Manches davon mag deutlich über das hinausgehen, was Fischer sich je vorstellen konnte. Dennoch bleibt noch viel zu tun.

Fischer F. Irrenhäuser. Kranke klagen an. München: Kurt Desch Verlag, 1969.

Eckart Klaus Roloff, Bonn

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