Krankenhaushygiene up2date 2011; 6(2): 81-82
DOI: 10.1055/s-0030-1256582
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Stand der medizinischen Wissenschaft neu definiert

Roland  Schulze-Röbbecke
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07 June 2011 (online)

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Roland Schulze-Röbbecke

Wir deutschen Krankenhaushygieniker blicken herrlichen Zeiten entgegen. Nicht nur, weil wir seit dem Medienhype, der im vergangenen Jahr dem Mainzer Hygieneskandal folgte, unglaublich gefragt sind. Es kommt noch besser: In Kürze sollen wir bei gleich bleibendem Gehalt von enormer Verantwortung und Arbeitsbelastung befreit werden! Wir brauchen uns kaum noch fortzubilden und wenn mal etwas schief geht, brauchen wir nicht mehr wie andere Mediziner mit Hilfe von aktuellen evidenzbasierten Leitlinien und klinischen Studien mühsam zu belegen, dass unsere Entscheidungen dem aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft entsprechen [1]. Im Juli dieses Jahres soll nämlich eine Neufassung des Infektionsschutzgesetzes verabschiedet werden und in § 23 Absatz 3 soll dort laut Gesetzentwurf der Bundesregierung stehen:

„Die Leiter von Krankenhäusern und anderen medizinischen Einrichtungen haben sicherzustellen, dass die nach dem Stand der medizinischen Wissenschaft erfor-derlichen Maßnahmen getroffen werden, um nosokomiale Infektionen zu verhüten und die Weiterverbreitung von Krankheitserregern, insbesondere solcher mit Resistenzen, zu vermeiden. Die Einhaltung des Standes der medizinischen Wissenschaft auf diesem Gebiet wird vermutet, wenn jeweils die veröffentlichten Empfehlungen der Kommission für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention beim Robert Koch-Institut und der Kommission Antiinfektive Resistenzlage und Therapie beim Robert Koch-Institut beachtet worden sind.”

Phantastisch! Wir brauchen nur noch im Internet nachzusehen, was 2 Kommissionen beim Robert Koch-Institut (RKI) empfohlen haben und befinden uns schon auf dem Stand der Wissenschaft! Schluss mit den zeitraubenden Literaturrecherchen und der ständigen Sorge, man könnte Publikationen über neu erkannte Infektionsprobleme oder neu erkannte Präventionsmaßnahmen verpasst haben. In der Medizin ist ja heute alles so kurzlebig geworden, dass man gar nicht mehr weiß, wo einem der Kopf steht! Und seien wir doch mal ehrlich: Man wird ja nicht jünger und muss seinen Intellekt ein bisschen schonen, damit man nach der Berentung noch etwas davon hat.

Die Kommission Antiinfektive Resistenzlage und Therapie (ART) muss erst noch beim RKI eingerichtet werden. Sicherlich wird sie uns die Arbeit erleichtern. Zwar haben die Paul-Ehrlich-Gesellschaft und andere medizinische Fachgesellschaften schon etliche Leitlinien zum Gebrauch von Antiinfektiva veröffentlicht. Man muss aber lange im Internet herumklicken, bis man sie gefunden hat und es ist schon einfacher, wenn man alles auf der Internetseite des RKI nachlesen kann. Außerdem ist zu hoffen, dass die ART so besetzt wird, dass sie mit der schnellen Entwicklung auf diesem Gebiet nicht Schritt halten kann und wir nicht ständig umdenken müssen.

Die Kommission für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention (KRINKO) existiert dagegen schon seit geraumer Zeit. Auch bei ihren Empfehlungen braucht man nicht ständig umzudenken. Das ist gut so und sorgt für Kontinuität, z. B. beim Umgang mit MRSA-Patienten. Wie stünde ich denn da, wenn ich heute etwas anderes empfehlen würde als vor 10 Jahren? Wenn ich z. B. erzählen würde, dass die Wirkung der antiseptischen Ganzkörperwaschung zur MRSA-Sanierung fraglich ist [2], dass die Isolierzimmer von MRSA-Patienten gar keine Schleusen benötigen [3] und dass überhaupt die Isolierung schädlich für MRSA-Patienten sein kann [4 6]? Ich käme gar nicht mehr zur Ruhe, die Ärzte und Pflegekräfte in meiner Klinik wären völlig verunsichert und sie würden mich nicht mehr ernst nehmen! Entscheidend ist, dass in den MRSA-Empfehlungen der KRINKO [7] nichts davon steht und die werden zum Glück ja bald Stand der medizinischen Wissenschaft sein.

Was gestern richtig war, kann doch heute nicht falsch sein! Irgendwann muss einmal Schluss damit sein den Stand der Wissenschaft ständig zu aktualisieren! Die Lektüre all dieser neuen Studien sollte einfach verboten werden, denn unsere KRINKO-Empfehlungen reichen völlig aus. Leider greifen immer mehr Eiferer zum englischen Wörterbuch, lesen diese Studien und fangen an, ihre Patienten präoperativ auf Staphylococcus aureus zu screenen [8], bei ihren beatmeten Patienten eine antiseptische Mundpflege durchzuführen [9], Chlorhexidin-Pflaster auf die ZVK-Einstichstelle zu kleben [10] usw. Das verhindert zwar nosokomiale Infektionen und rettet Leben; was aber haben wir deutschen Krankenhaushygieniker damit zu tun? Hauptsache ist doch, dass in unseren Krankenhäusern alles schön hygienisch ist [11]! Mit welchem Recht versuchen diese Eiferer, uns den Glauben an die KRINKO-Empfehlungen zu nehmen? Nur weil in ihnen nichts von diesem neuen Zeug steht?

Wer nämlich die KRINKO-Empfehlungen infrage stellt, der handelt verantwortungslos, stiftet Verwirrung [12] und ist ein Abschaum. Auch wenn man sie begründet: Jede Infragestellung und jede Abweichung von den KRINKO-Empfehlungen ist definitionsgemäß unbegründet und Häresie. Denn die Empfehlungen sind reine, immerwährende Wahrheit und daher unantastbar. Es ist völlig folgerichtig, dass dies nun auch vom Gesetzgeber anerkannt wird.

Wenn es nach mir ginge, hätte man den Stand der Wissenschaft schon viel früher anhalten können. Schon vor 400 Jahren hätte die Inquisition konsequenter sein und dem Galileo Galilei verbieten müssen durchs Fernrohr zu schauen. Haben denn die Jupitermonde und die Phasen der Venus, die er durch sein Fernrohr entdeckte, die Menschheit weitergebracht? Zugegeben: Die Sonne würde sich dann immer noch um die Erde drehen und es gäbe keine Atomkraftwerke. Ja und? Es gäbe dann auch keine Bakterien und Viren und ich will lieber gar nicht darüber nachdenken, wie viel angenehmer unsere Arbeit als Krankenhaushygieniker dann wäre!

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Literatur

  • 1 Ulsenheimer K. Haftungsrechtliche Bedeutung von Leitlinien.  Krankenhaushygiene up2date. 2006;  1 169-175
  • 2 Wendt C, Schinke S, Württemberger M et al. Value of whole-body washing with chlor-hexidine for the eradication of methicillin-resistant Staphylococcus aureus: a randomized, placebo-controlled, double-blind clinical trial.  Infect Control Hosp Epidemiol. 2007;  28 1036-1043
  • 3 Siegel JD, Rhinehart E, Jackson M, Chiarello L. Health Care Infection Control Practices Advisory Committee. 2007 Guideline for isolation precautions: preventing transmission of infectious agents in health care settings.  Am J Infect Control. 2007;  35(10 Suppl 2) S65-S164
  • 4 Morgan DJ, Diekema DJ, Sepkowitz K, Perencevich EN. Adverse outcomes associated with contact precautions: A review of the literature.  Am J Infect. 2009;  37 85-93
  • 5 Kirkland KB. Taking off the gloves: toward a less dogmatic approach to the use of contact isolation.  Clin Infect Dis. 2009;  48 766-771
  • 6 Abad C, Fearday A, Safdar N. Adverse effects of isolation in hospitalised patients: a systematic review.  J Hosp Infect. 2010;  76 97-102
  • 7 Kommission für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention am Robert Koch-Institut . Empfehlung zur Prävention und Kontrolle von Methicillin-resistenten Staphylococcus aureus-Stämmen (MRSA) in Krankenhäusern und anderen medizinischen Einrichtungen.  Bundesgesundheitsbl. 1999;  42 954-958
  • 8 Bode LGM, Kluytmans JAJW, Wertheim HFL et al. Preventing surgical-site infections in nasal carriers of Staphylococcus aureus.  N Engl J Med. 2010;  362 9-17
  • 9 Chan EY, Ruest A, Meade MO, Cook DJ. Oral decontamination for prevention of pneu-monia in mechanically ventilated adults: systematic review and meta-analysis.  BMJ. 2007;  334 861-872
  • 10 Timsit JF, Schwebel C, Bouadma L et al. Chlorhexidine-impregnated sponges and less frequent dressing changes for prevention of catheter-related infections in critically ill adults: a randomized controlled trial.  JAMA. 2009;  301 1231-1241
  • 11 Schulze-Röbbecke R. Was ist Hygiene?.  Krankenhaushygiene up2date. 2007;  2 1-4
  • 12 Kramer A, Exner M. Unbegründete Infragestellung von Empfehlungen der Kommission für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention führt zu verantwortungsloser Verunsicherung in der Praxis.  Hyg & Med. 2009;  34 455-456

   





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Literatur

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