Z Orthop Unfall 2010; 148(2): 123-125
DOI: 10.1055/s-0030-1253298
Orthopädie und Unfallchirurgie aktuell

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Fehlerkultur – Ungesunde Medizin – aus Fehlern lernen!

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Publication Date:
07 April 2010 (online)

 
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Vielleicht 17 000 Todesfälle in Deutschland durch Fehler in der Medizin, die vermeidbar wären – schätzt das Aktionsbündnis Patientensicherheit. Instrumente, die Zahl zu senken, gibt es. Sie werden zu langsam umgesetzt, monieren Experten.

Hallo zusammen – grüßt "ExxonValdez" in einem Internetforum und sucht nach Erfahrungen anderer zum Thema "Team-Time-Out". Im eigenen Haus dominiert die Theorie. Zwar hingen die Schaubilder dazu vom Aktionsbündnis Patientensicherheit überall in der Klinik, doch halte sich niemand an die Vorgaben.

Beim "Team-Time-Out", einem Instrument zur Fehlervermeidung im OP – alle Ärzte werden es kennen – stellt sich jeder im Team vor Beginn einer OP mit Namen vor, nennt, was er zu tun hat, dass die Geräte, die er womöglich bedient, bereit sind. ForenkollegIn "dieEv", hat allerdings skurrile Erfahrungen damit gemacht: "Der Chef kam rein und sagte fröhlich in die Runde: Guten Tach, K. mein Name. Und beim nächsten Mal: Tach, ich bin der Pförtner! ... "

Die Episode deutet auf das derzeit vermutlich größte Problem bei der Suche nach einer besseren Fehlerkultur in der Medizin. Viele Instrumente, Fehlerraten zu senken, die seit Jahren fix und fertig sind, schaffen ihren Weg in die tägliche Praxis nur zögerlich. Gerade mal 15 Prozent aller Häuser praktizieren ein "Team-Time-Out" oder ein CIRS, schätzt Professor Matthias Schrappe vom Institut für Patientensicherheit an der Uni Bonn. "Das geht nicht."

1999 gilt als Beginn moderner Fehlerkultur in der Medizin. Das Institute of Medicine in den USA gibt den Report To Err is Human heraus und nennt eine Ziffer: Bis zu 98 000 Tote als Opfer von Medizinfehlern jährlich in den USA: Eine Hochrechnung, bei der es bis heute bleibt. Letztes Jahr kalkulierte US-Gesundheitsministerin Kathleen Sebelius weiterhin mit 100 000 Todesfällen.

Zehn Jahre später ist das Thema en vogue. In Deutschland ist ein Verein, das Aktionsbündnis Patientensicherheit (APS), zentrale Anlaufstelle. Ärztekammern, Krankenkassen und etliche Fachgesellschaften widmen sich dem Thema. In den USA ist die Agency for Healthcare Research and Quality (AHQR) beim Gesundheitsministerium wichtige Adresse (siehe auch die links ...)

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Präzise Zahlen bleiben Mangelware

Für Deutschland schätzt eine Gruppe um Matthias Schrappe vom APS, dass fünf bis zehn Prozent aller Patienten, 850 000 bis 1,7 Millionen Menschen, im Krankenhaus ein unerwünschtes Ereignis erleidet. Dabei sind viele unvermeidbar – zum Beispiel wenn ein Patient eine Penicillinallergie entwickelt, von der niemand wissen konnte, da er das Antibiotikum zum ersten Mal erhält. Zugleich sterben nach dieser Schätzung hierzulande 17 000 Menschen pro Jahr aufgrund von Ereignissen, die vermeidbar (gewesen) wären. Die Zahlen gelten für das Krankenhaus, der ambulante Bereich spielt bei der Diskussion bislang eine seltsam untergeordnete Rolle.

Von gut 40 000 Behandlungsfehlern im Jahr gehen die Gutachterkommissionen und Schlichtungsstellen der Ärztekammern aus. Knapp 11 000 Anträge von Patienten gingen 2008 bei ihnen ein, zentral, aber unter Ausschluss der Öffentlichkeit, erfasst vom Medical Error Reporting System (MERS). Darüber, wie viele Fälle gleich oder später bei den Gerichten landen, gibt es keine Statistik.

Fest steht: Simple Lösungen gibt es nicht. Allein das Spektrum an Fehlerquellen ist dafür zu riesig – von einer falschen Diagnose, über falsch verordnete Arzneimittel, einen Dekubitus bis zu fatalen Verwechslungen bei einer Operation. Matthias Schrappe hofft auf einen Prozess, ähnlich wie beim Straßenverkehr, wo es gelang, die Zahl der Todesopfer von 21 322 im Jahr 1970 auf derzeit etwa 4 000 zu senken: "Ich wäre froh, wenn wir à la longue Ähnliches in der Medizin schaffen." Manche Instrumente dafür sind etabliert, andere umstritten.

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Streit um Register

So gab es Anfang 2010 Streit um eine Meldepflicht für Ärztefehler. Der Patientenbeauftragte der Bundesregierung Wolfgang Zöller erklärte, ein neues Patientenrechtegesetz sollte ab 2011 ein zentrales Melderegister für Behandlungsfehler festschreiben. Man brauche kein "Zwangsregister" konterten flugs BÄK und KBV.

Der Streit ist nicht neu. Schon die Autoren von To Err is Human forderten Melderegister. Die American Medical Association allerdings wehrte sich gegen Pläne der Clinton-Administration für ein nationales Register. Nur wenige US-Bundesstaaten sammeln heute solche Daten.

Der Streit um Pflichtmeldung oder nicht zielt auf ein Kernproblem. Die Öffentlichkeit habe ein berechtigtes Interesse daran, mehr zu erfahren. Es gelte aber auch, die unerwünschten Wirkungen einer Meldepflicht zu bedenken, meint Schrappe. "Ein Melderegister ist nicht sinnvoll", erklärt Professor Matthias Rothmund vom Universitätsklinikum Gießen und Marburg.

Denn wer mehr Offenheit will, kann sie kaum auf dem Verordnungsweg erzwingen. Darauf deuten auch Erfahrungen mit einem anderen Meldesystem.

Bei unerwünschten Arzneimittelnebenwirkungen (UAW) gibt es seit 1978 Meldepflicht. Ärzte und Apotheker sollen laut Berufsrecht an die Behörden (in der Regel das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, BfArM) oder an den Hersteller melden, sobald sie einen Verdacht auf eine UAW haben. Firmen müssen melden – zumal sie gesetzlich verpflichtet sind, ständig zu belegen, dass das Nutzen-Schadensverhältnis ihrer Medikamente im Plus ist.

Knapp 20 000 Fälle mit überwiegend schwerwiegenden UAW aus Deutschland erhielten die Experten der Behörde in 2008. 1 627 davon endeten tödlich.

Diese Zahl ist ein Artefakt. Vielleicht drei bis fünf Prozent aller tatsächlichen UAW werden von Ärzten gemeldet. "Wie viele Menschen an UAW sterben, wissen wir nicht", erklärt Dr. Ulrich Hagemann, Leiter der Abteilung Pharmakovigilanz beim BfArM in Bonn. Forderungen nach Sanktionen für den, der nicht meldet, erteilt er dennoch eine Absage: "Gut gebrüllt Löwe – aber welche Folgen hätte es? Sie können nicht neben jeden Arzt einen Aufseher stellen, Zwang ist da wirkungslos."

Sinn und Zweck des Spontanmeldesystems für UAW bleibt so vor allem Hilfe beim Generieren von Hypothesen – von Verdachtsmomenten gegenüber Wirkstoffen. Hagemann: "Wir brauchen nicht die 1 000ste Meldung über Magenbluten nach Aspirin, wichtig sind Beobachtungen bei neuartigen Arzneimitteln, die auf den Markt kommen." Da, so Hagemann, müsse die Behörde die Kommunikation mit Ärzten durchaus noch verbessern.

Womit zugleich ein Grundpfeiler für eine bessere Fehlerkultur benannt wäre. Motto: Wenn es gelingt, Ärzte dazu zu bewegen, aus freien Stücken, Fehler zu melden, verringert sich am ehesten die Dunkelziffer.

Der britische Psychologe James Reason ist einer der Väter des Konzepts: "no shame, no blame" – keine Schande, keine Vorwürfe. Unternehmen, die Fehler vorrangig bei ihren Mitarbeitern suchen, leisten sich und der Sache einen Bärendienst – fördern logischerweise beim Einzelnen die Tendenz, Fehler dann doch lieber zu vertuschen.

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Bessere Konzepte liegen auf dem Tisch

Dazu gehört CIRS – ein Critical Incident Reporting System, wie es die Luftfahrtindustrie schon lange kennt. Die Grundidee: Jeder in einem Krankenhaus – Patient, Pfleger oder Ärztin – kann, optimalerweise über eine eigene Eingabemaske im Intranet, Auffälligkeiten und manifeste Fehler berichten. CIRS ist eine Chance, verborgene Fehlerquellen aufzuspüren: Im Universitätsklinikum Marburg war es vor Jahren etwa eine Meldung darüber, dass ein Gerät für die Blutgasanalyse just bei einem Notfall ausfiel, weil es zum fraglichen Zeitpunkt ab 24:00 Uhr automatisch kalibrierte. Ersatz ließ sich schlecht beschaffen, da alle Geräte in der Klinik zeitgleich kalibrierten. Das Problem landete im CIRS der Klinik. Die simple Lösung: Für jedes Gerät ein eigenes Zeitfenster für die Eichung, wie Matthias Rothmund auf dem letzten DKOU berichtete.

Es gibt überregionale Systeme: Via Internet betreibt das Ärztliche Zentrum für Qualität in der Medizin (ÄZQ) das CIRSmedical – die Vorbilder kommen aus der Schweiz (siehe links ...). Manche Kammern, etwa die Ärztekammer Westfalen-Lippe und die Ärztekammer Berlin betreiben ihr regionales CIRS.

Ein weiteres probates Mittel sind Checklisten. Schon in den 1980er Jahren setzten einzelne Krankenhäuser hierzulande darauf. "Da wacht Ihnen der Patient auf und Sie müssen feststellen, dass die Arthroskopie am falschen Knie stattgefunden hat", erinnert sich der Generalsekretär der DGU, Professor Hartmut Siebert an einen schlimmen Verwechslungsfall in den 1980ern. Siebert, damals Chefarzt der Unfallchirurgie am Diakonie-Krankenhaus in Schwäbisch Hall, zog Lehren daraus: Bei ambulant zu operierenden Patienten prüfte hinfort der Dienst habende Oberarzt am Abend vor der OP anhand einer Checkliste doppelt nach, ob alle Unterlagen wirklich vollständig sind und stimmen. Vor jeder OP wurde erneut überprüft, ob da auch der "richtige" Patient liegt, dass auch wirklich das richtige Bein für den Eingriff markiert war.

Anfang 2009 präsentierte auch eine Gruppe um den US-Experten Atul Gawande Belege für Erfolge mit einer 19-Punkte-Checkliste aus dem WHO-Programm Safe Surgery Safes Lifes. In acht Krankenhäusern in acht Ländern, von Indien, Tansania bis Kanada sank die Rate an Todesfällen bei nicht-kardiologischen Operationen von 1,5 auf 0,8 Prozent der Patienten binnen Jahresfrist nach Einführung dieser Checkliste. Siebert: "So etwas gehört heute in jedes Haus."

Dabei sind die Listen kein Selbstläufer. Sich rein schematisch nur darauf zu verlassen, fördert Fehler eher, als dass es sie verringert. Die Listen müssen vielmehr Anlass sein für einen täglich neuen, aktiven Prozess. "Sie müssen sich kümmern und eine Klinik braucht konkret Mitarbeiter, die dafür zuständig sind", meint Siebert.

Gleiches gilt für Morbiditäts- und Mortalitätskonferenzen (M- und M-Konferenz) - Treffen, auf dem Therapien konkret analysiert und Fehler entdeckt werden. "Sie sind ein besonders wichtiges Forum für die Fehleranalyse" befindet Rothmund.

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Ob bei der Diagnosestellung, im OP oder bei der Medikamentenvergabe: Fehler lauern überall!

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Renaissance von "to blame"?

Zehn Jahre nach To Err is Human mangelt es nicht mehr an Konzepten. Was fehlt, ist die Umsetzung. 40 Prozent der chirurgischen Kliniken hierzulande hatten nach einer Umfrage von 2009 eine M- und M-Konferenz, "Das reicht bei weitem nicht", kritisiert Rothmund. Nicht-Chirurgische Kliniken hätten die Konferenz noch viel seltener.

Und eine Befragung in der Deutschen Assoziation für Fuß und Sprunggelenk (DAF) förderte letztes Jahr Betrübliches zum Thema "Team-Time-Out" zutage: Kenntnis und Anwendung des Instruments hätten sich unter den Mitgliedern bislang "nicht einheitlich durchgesetzt", formulieren die Autoren um Dr. Daniel Frank aus Leverkusen höflich.

Schon meldet sich angesichts schleppender Umsetzung aus den USA ein Protagonist der Patientensicherheit mit dem Ruf nach dem eigentlich verpönten "no blame" zu Wort. Peter Pronovost von der Johns Hopkins University School of Medicine hat eine Checkliste entwickelt, deren konsequente Anwendung Infektionsraten bei Zentralen Venenkathetern im US-Bundesstaat Michigan seit 2006 fast auf Null gedrückt hat.

Ende 2009 erklärten Pronovost und Robert Wachter im New England Journal of Medicine: Dort, wo es heute ausgereifte Techniken für mehr Patientensicherheit gibt, etwa bei der Händehygiene, da sei die Devise "no blame" schlicht das falsche Instrument. Dann gehe es vielmehr darum, wer verantwortlich für die Hygiene ist.

"Wir können uns nicht in eine wolkige Systemdebatte zurückziehen, sondern müssen Ross und Reiter nennen", meint auch Matthias Schrappe und sieht einen Hebel bei Zertifizierungssystemen: Dort sollte mehr abgefragt werden, ob Kliniken sich um ein Risiko-Management kümmern.

Matthias Rothmund setzt auf einen anderen Anreiz: "Die Ärztekammern sollten keinem die Weiterbildungsberechtigung erteilen, der nicht eine Mortalitäts- und Morbiditätskonferenz in seiner Klinik eingeführt hat, ein CIRS und Team-Time-Out."

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Waschen allein ist nicht genug

Mit der Aktion Saubere Hände mühen sich derweil APS, Gesellschaft für Qualitätsmanagement im Gesundheitswesen und Nationales Referenzzentrum, die Zahl nosokomialer Infektionen zu senken. Die banale Botschaft: Ärzte müssen vor jedem Patientenkontakt ihre Hände desinfizieren.

Doch das alleine reicht nicht. Der niederländische Mikrobiologe Dr. Ron Hendrix beschreibt im ZFOU-Interview, dass nur ein Zusammenspiel von Hygiene, guter Mikrobiologie, Antibiotikapolitik und guter Kommunikation die MRSA-Raten in den Niederlanden niedrig hält (siehe das Interview auf Seite 126).

A propos gute Kommunikation. Seit 2008 legt §105 im Gesetz über den Versicherungsvertrag fest: Kein Arzt verliert seinen Versicherungsschutz, wenn er dem Patienten sagt: Ja, es ist ein Fehler passiert und wir tun alles, damit wir ihn beheben.

Im Gegenteil, der Arzt muss aufklären. Und selbst hier hilft die für manchen noch vermeintlich paradoxe Therapie Offenheit. 99 Prozent der Patienten, so Matthias Schrappe, klagten nur deswegen, weil keiner mit ihnen spricht, sie sich allein gelassen fühlen. Schrappe: "Reden ist der beste Schutz vor Haftpflichtprozessen."

Dr. Bernhard Epping

Weitere Informationen

WHO

Safe Surgery Safes Life:

http://www.who.int/patientsafety/safesurgery/en/

Evaluation der WHO-Checkliste:

http://content.nejm.org/cgi/content/full/NEJMsa0810119

Deutschland

Das Aktionsbündnis Patientensicherheit

http://www.aktionsbuendnis-patientensicherheit.de/

Broschüre Aus Fehlern lernen:

http://www.aktionsbuendnis-patientensicherheit.de/apsside/Aus_Fehlern_lernen_0.pdf

Das Forum Patientensicherheit von BÄK und KBV:

http://www.forum-patientensicherheit.de/

Das Ärztliche Zentrum für Qualität, ÄZQ mit CIRSmedical:

http://www.cirsmedical.de/

CIRS ÄK Berlin:

http://www.cirs-berlin.de

Das Tübinger Patienten-Sicherheits- und Simulations-Zentrum, TÜPASS:

https://www.d-i-p-s.de/Tupass2008/index.html

Die Jahresstatistik der Gutachterstellen der Ärtzekammern – MERS:

http://www.arzt.de/page.asp?his=3.71.6895.7531.7539&all=true

Die Norddeutsche Schlichtungsstelle:

http://www.norddeutsche-schlichtungsstelle.de/start.html

Safe-Trac der DGU:

http://www.safe-trac.de/

Aktion Saubere Hände:

http://www.praxis-page.de/ash/index2.htm

Das Zentrum für Qualität und Management im Gesundheitswesen der Ärztekammer Niedersachsen:

http://www.zq-aekn.de/

USA

Joint Commission on the Accreditation of Healthcare Organisations

http://www.jointcommission.org/PatientSafety

Agency for Healthcare Research and Quality (AHGR)

http://psnet.ahrq.gov/

UK

National Patient Safety Agency:

http://www.npsa.nhs.uk/

Schweiz

Das CIRRNET der Schweizer Stiftung für Patientensicherheit

http://www.cirrnet.ch/

Übersicht zu CIRS:

http://www.cirs.ch/

Literatur

Recherche der Hearst Newspapers zu Behandlungsfehlern in den USA:

http://www.chron.com/disp/story.mpl/deadbymistake/6555095.html

Der Report To Err is Human

http://www.nap.edu/openbook.php?isbn=0309068371

Artikel von Wachter und Pronovost:

http://content.nejm.org/cgi/content/short/361/14/1401

 
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Ob bei der Diagnosestellung, im OP oder bei der Medikamentenvergabe: Fehler lauern überall!