Der Klinikarzt 2010; 39(2): 68-69
DOI: 10.1055/s-0030-1249725
Medizin & Management

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart ˙ New York

Ärztemangel in Deutschland

Schrecken ohne Ende
Further Information

Publication History

Publication Date:
01 March 2010 (online)

 
Table of Contents

In Deutschlands Krankenhäusern sind derzeit rund 5 000 Arztstellen nicht besetzt und auch im niedergelassenen Bereich fehlen fast 4 000 Vertragsärzte. Der Ärztemangel ist längst kein lokales Problem mehr, das sich auf ländliche Regionen beschränkt, sondern ein bundesweites Desaster. Besonderer Mangel herrscht in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen. Spezialisten sind knapp und ein Licht am Ende des Tunnels ist nicht zu sehen, denn den ärztlichen Nachwuchs zieht es nicht in deutsche Kliniken, sondern ins attraktivere Ausland. 70 % der Medizinstudenten wollen laut einer Umfrage der Ruhr-Universität Bochum nach Abschluss ihres Studiums Deutschland den Rücken kehren.

Der Ärztemangel ist evident, wird aber nichtsdestotrotz bislang von der Gesundheitspolitik und von Vertretern der Krankenkassen bestritten. Nach jüngsten Veröffentlichungen des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) gibt es keinen Ärztemangel in Deutschland, sondern nur ein Verteilungsproblem. Dagegen spricht der Facharztindex des Deutschen Ärzteblatts, der angibt, wie viele Fachärzte rein rechnerisch auf ein Stellenangebot im Deutschen Ärzteblatt entfallen; er ist ein eindeutiges Indiz für die angespannte Situation auf dem ärztlichen Stellenmarkt. Vor allem in den kleinen Fachgebieten, wie der Thorax- oder Kinderchirurgie, fehlt es an fachärztlichen Spezialisten.

#

Konsolidierung auf hohem Niveau

Zwar ist 2009 die Zahl der Stellenausschreibungen gegenüber dem Vorjahr leicht gesunken, aber das ist sie auch nach dem letzten Ausschreibungshoch im Jahr 2002, um dann ab 2004 exponentiell anzusteigen. Vermutlich steckt hinter der jetzigen Konsolidierung auf hohem Niveau Resignation, weil die Zahl der Bewerbungen auf Stellenanzeigen in den letzten Jahren erheblich abgenommen hat. Haben sich 2004 durchschnittlich noch 24,3 Fachärzte auf ein Stellenangebot im Deutschen Ärzteblatt beworben, waren es 4 Jahre später nur noch 14,1 Bewerber. Die Gefragtesten unter den Top Ten im Index sind Spezialisten der Fachgebiete Innere und Chirurgie. Es fehlen vor allem Thoraxchirurgen - die Zahl der Stellenausschreibungen hat sich im letzten Jahr verdoppelt - gefolgt von der Plastischen Chirurgie und Kinderchirurgie sowie der Hämatologie/Onkologie und Gastroenterologie.

Zoom Image

Bild: CD 07 Anatomy of Medicine

Im niedergelassenen Bereich sieht es keinen Deut besser aus: Nach einer Statistik der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) fehlen bundesweit 3 620 niedergelassene Ärzte. Vor allem Hausärzte und Psychotherapeuten gibt es demnach zu wenig. Besonders kritisch ist es in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen; dort fehlen 678 beziehungsweise 493 Ärzte. Ob die Anreize, die die KBV schaffen will, um vor allem den Ärztemangel in ländlichen Räumen zu beheben, greifen werden, ist fraglich.

#

Arztmangel gefährdet Weiterbildung

Unbesetzte Stellen bedeuten für den Klinikbetrieb nicht nur überlastete Ärzte, zu lange Dienstzeiten und für die Patienten Versorgungslücken, sondern haben langfristig auch gravierende Folgen für die medizinische Weiterbildung an den Kliniken. "Es fehlt zwangsläufig die Zeit für eine angemessene Weiterbildung unseres medizinischen Nachwuchses ... da tickt eine Zeitbombe für die Qualität der Ärzteschaft", warnt Dr. Theodor Windhorst, Präsident der Ärztekammer Westfalen-Lippe. Wenn die noch verbliebenen Ärzte in Routinearbeiten zu ersticken drohten, dann würde notgedrungen auch die ärztliche kollegiale Weiterbildung vernachlässigt oder sogar aufgegeben. In Nordrhein-Westfalen ist der Arztmangel besonders dramatisch: für die Region Bielefeld werden laut Deutschem Ärzteblatt 6 Oberärzte und 29 Assistenzärzte gesucht; in der Region Bochum sind es 4 Chefärzte, 26 Oberärzte und 142 Assistenzärzte.

#

Honorarärzte sind keine Lösung

Auch Honorarärzte seien keine Lösung. Krankenhäuser versuchen zunehmend, diese Lücken mit sogenannten "Honorar-" oder auch "Leihärzten" zu schließen. Windhorst kritisiert, dass die Krankenhäuser dafür gleich in mehrfacher Hinsicht einen hohen Preis bezahlen. Einerseits lägen die Honorare dieser freiberuflich tätigen Ärzte mit Stundenlöhnen bis zu 100 Euro deutlich über denen der fest angestellten Ärzte, was unter den Angestellten des Krankenhauses für Unfrieden sorge. Die Beschäftigung von Honorarärzten berge zudem weitere Risiken, weil sie die Organisationsabläufe im Krankenhaus nicht so gut kennen wie die festen Mitarbeiter, was zu Kommunikationsproblemen und Missverständnissen führe.

Der Ärztemangel wird sich kurz- bis mittelfristig weiter verschärfen, denn in den nächsten Jahren scheiden viele Ärzte in Klinik und Praxis aus dem Berufsleben aus. Ob die Einrichtung von mehr Studienplätzen für Medizin, wie Windhorst sie fordert, das Problem löst, ist fraglich. Denn für die Medizinstudenten ist der Arztberuf längst kein Traumjob mehr, wie eine Umfrage der Abteilung für Allgemeinmedizin der Ruhr-Universität Bochum (RUB) zeigt. "Vor allem im niedergelassenen Bereich wird es eng", für Dr. Dorothea Osenberg, der Projektleiterin der Bochumer Studie, hätte ein Ausbluten der deutschen Ärzteschaft besonders im Hausarztbereich fatale Folgen.

#

Nichts wie weg!

Bundesweit haben rund 4 000 Medizinstudenten aller medizinischen Fachsemester, des Regel- und Modellstudiengangs Medizin sowie Studenten im praktischen Jahr an der Online-Umfrage der Abteilung für Allgemeinmedizin der Ruhr-Universität Bochum (RUB) mitgemacht. Die Ergebnisse der Befragung sind niederschmetternd und eine Ohrfeige für Deutschlands Gesundheitspolitiker. Danach finden 7 von 10 Medizinstudenten das deutsche Gesundheitswesen zum Davonlaufen - das ist die Kernaussage der Umfrage. Existenzängste und Zukunftssorgen haben den einstigen Traumberuf Arzt ins Gegenteil verkehrt.

Weitaus häufigstes Thema (75 %) war die gesundheitspolitische Entwicklung und die eigene berufliche Zukunft. Gefragt wurde aber auch, was eigentlich ein "guter Arzt" ist und was die Gründe dafür waren, Medizin zu studieren. Welche Fachrichtung wird angestrebt? Klinik oder Niederlassung? In der Stadt oder auf dem Land? Was macht den Studierenden Sorgen? Wie zufrieden sind sie mit ihrem Studium? Das wollten die Forscher um Dr. Dorothea Osenberg, die das Projekt leitet, wissen.

Die Ergebnisse sind beunruhigend: 93 % der Befragten erwarten vom deutschen Gesundheitssystem nichts Gutes und sehen für ihre Zukunft als Arzt in Deutschland schwarz. 72,7 % spielen deshalb mit dem Gedanken, auszuwandern. Nur 9 % wollen definitiv in Deutschland als Arzt arbeiten. Dass ungeachtet dessen sich rund 61 % der Studierenden wieder für ein Medizinstudium entscheiden würden, ist allerdings auch überraschend. Abschreckend sind für die Nachwuchsmediziner vor allem die Arbeitszeiten (79 %), Budgetierung der Leistungen (65 %) und Vergütung der ärztlichen Leistung (60 %), die Kooperationen zwischen Ärzten und Kostenträgern (56 %), der berufliche Stress (59 %) und die Einschränkung der ärztlichen Handlungsfreiheit (38 %).

#

Frustration und Sorge um die Zukunft

Noch drastischer als die nüchternen Zahlen zeigt sich die Unzufriedenheit unter den Studenten in den Freitexten. Auch hier, wo keine Themenvorgabe einengte, stand die Frustration über die gesundheitspolitische Entwicklung und die Sorge um die eigene berufliche Zukunft an erster Stelle:

"Ich finde unser Gesundheitssystem und den Umgang mit Ärzten und Patienten sehr abschreckend. Werde nicht in Deutschland bleiben, wenn ich fertig bin mit dem Studium."

"Eigentlich schade, dass man als Arzt in Deutschland nicht arbeiten können wird. Aber die, die den Mut haben zu bleiben, werden sicher mehr und mehr ausgebeutet. Werden sie ja jetzt schon! Und da hat keiner mehr Lust drauf. Nicht, nachdem man so ein Studium hinter sich hat. Ich werde jedenfalls mit Sicherheit nicht hier bleiben!"

Erst an zweiter Stelle wurden auch formale und inhaltliche Aspekte der Ausbildung bzw. der aktuellen Approbationsordnung kritisiert. Über die Anonymität des Studienablaufs, die Überfrachtung mit klinisch wenig relevanten Inhalten, den Prüfungsstress im "Hammerexamen" oder auch über die Unvereinbarkeit der Ausbildung und späteren Berufsausübung mit der eigenen Familienplanung machten Befragten ihrem Unmut ebenfalls Luft:

"Das Studium bedarf einer Reform, die einen Studenten viel früher mehr praktisch lernen lässt und bei der Gesprächsführung psychologische Kompetenzen mehr in den Vordergrund gerückt werden. Zudem sollten Fächer wie Philosophie/Weltanschauungen bzw. soziale Nebenfächer integriert werden."

"Das Hammerexamen ist der größte Quatsch, wir kommen ins PJ und haben keine Ahnung, weil wir vorher kein zweites Stex hatten. Es wäre sehr viel sinnvoller für die Motivation und die Wissensvermittlung gewesen, die drei Examina noch weiter zu splitten!"

#

Noch kein Licht am Ende des Tunnels

Ein solches Ausmaß an Resignation und Skepsis über ihre eigene berufliche Zukunft, aber auch über die Entwicklung der medizinischen Versorgungsqualität von Patienten in Deutschland, hatten die Forscher nicht erwartet. Bedenklich sei nicht nur der hohe Anteil der Studenten, die nach der Ausbildung ins Ausland gehen wollen, sondern dass sich mit dieser Planung bereits die Studienanfänger tragen. Die mit 9 % extrem niedrige Zahl der definitiv in Deutschland Bleibenden ist beunruhigend und zeigt, dass die Fluchtbewegung angehender junger Ärzte ins Ausland weiter zunehmen wird. Schon jetzt verlassen jedes Jahr viele gut ausgebildete Ärzte Deutschland. Am häufigsten wurde in der Studie Skandinavien genannt, gefolgt von der Schweiz, England, Österreich, den USA und Australien.

Anne Marie Feldkamp, Bochum

 
Zoom Image

Bild: CD 07 Anatomy of Medicine