Z Orthop Unfall 2010; 148(1): 1-2
DOI: 10.1055/s-0030-1249287
Orthopädie und Unfallchirurgie aktuell

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart ˙ New York

Häusliche Gewalt – "Ärzte müssen Brücke sein zum Hilfenetzwerk"

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Publication Date:
22 February 2010 (online)

 
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    Dr. med Astrid Bühren arbeitet als niedergelassene Psychotherapeutin in Murnau/Oberbayern. Die langjährige Vorsitzende des Ärztinnenbundes engagiert sich derzeit vor allem im Vorstand des Hartmannbundes und einem Beirat des Bundesfamilienministeriums gegen Häusliche Gewalt.

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    Dr. med. Astrid Bühren

    ? Frau Bühren, was war Ihr erster Kontakt mit einem Opfer Häuslicher Gewalt?

    1976 während eines Studienaufenthalts in Edinburgh habe ich erlebt, wie eine Konferenz aus Ärzten, Sozialarbeitern einer betroffenen Familie ganz hervorragend half. In Deutschland war Häusliche Gewalt hingegen noch fast 20 Jahre später kaum ein Thema. Meinen ersten Fall hatte ich 1993 zu Beginn meiner Praxistätigkeit. Es war eine Bäuerin, die an Depressionen litt, und es dauerte, bis wir herausarbeiteten, dass die eigentliche Ursache verdrängte Gewalt durch ihren Mann war.

    ? Konnten Sie helfen?

    Leider hat sich die Klientin nicht gewehrt. Was auch schwierig war: Ein Hof ist gleichzeitig Beruf und Familie, jemand riskiert bei offenem Konflikt dann auch beides. Mein Fehler war allerdings damals, nicht sofort bei der Anamnese auch nach der Möglichkeit von Häuslicher Gewalt gefragt zu haben. Das ist des Pudels Kern. Ärztinnen und Ärzte müssen aktiv fragen.

    ? Welche Ärzte sind besonders mit dem Thema konfrontiert? Die Psychotherapeuten?

    Nein, sicher an erster Stelle die Hausärzte, dann Kinder- und Frauenärzte. Und auch Orthopäden und Unfallchirurgen, die vor allem mit den körperlichen Folgen, den Verletzungen, konfrontiert werden. Letzten Endes sind alle Ärzte und Ärztinnen gefordert, mehr auf das Thema zu achten.

    ? Wie viele Opfer gibt es in Deutschland?

    Wir gehen von 60.000 Betroffenen im Jahr hierzulande aus. Hinzu kommen etwa 12.000 Frauen, die primär sexualisierte Gewalt erleben und etwa 3.600 Kinder, die misshandelt werden.

    ? Gibt es Risikogruppen, etwa Migranten oder sozial schwächer gestellte Menschen?

    Nein, das Problem gibt es in allen sozialen Schichten.

    ? Betroffen sind immer Frauen?

    Nein, etwa 80 Prozent aller Opfer sind Frauen. 20 Prozent sind Männer.

    ? Wie das? Sie sind doch körperlich in aller Regel überlegen?

    Wir müssen in die Definition von Häuslicher Gewalt alles hinein nehmen, was krank macht. Männliche Betroffene erleiden eher seelische, psychische Formen der Gewalt. Häufiger sind aber die körperlichen Folgen.

    ? Was sind Verdachtsmomente für Ärzte und Pfleger in Praxis und Ambulanz?

    Sie müssen bei allen Prellungen und Verletzungen genau hinschauen, das Spektrum ist groß. Auch Rückenschmerzen können damit zu tun haben.

    ? Wie bitte?

    Manch unerklärlicher Schmerz ist Spätfolge einer Verdrängung. Ich hatte eine Patientin, die 20 Jahre lang aufgrund starker Schmerzen in der linken Schulter in orthopädischer Behandlung war. Doch die Behandlung war wirkungslos. Bis wir dann in der Psychotherapie darauf kamen, dass sie in ihrer Kindheit oft von ihrem Vater, einem Rechtshänder, heftige Ohrfeigen bekam. Zur Abwehr hat sie immer versucht, die linke Schulter hochzuziehen. Dieses Muster hat sich bei ihr so eingeprägt, dass sie auch später im Leben bei Stress angstvoll die Schulter verkrampfte. Und das, sobald der Chef "nur" brüllte. Als wir andere Bewältigungsstrategien erarbeitet hatten, hatte sie nie wieder Probleme damit.

    ? Auch Orthopäden müssen also an Häusliche Gewalt denken?

    Ja, und im Zweifel aktiv danach fragen, wenn sich sonst keine Ursache für Verletzungen finden lässt.

    ? Aber im Zweifel wird sich ohne Mitwirkung der Betroffenen die wahre Ursache oft kaum finden lassen. Wenn eine Patientin mit schweren Prellungen in die Unfallambulanz kommt und erklärt, sie sei von der Leiter gefallen, denkt wohl kaum jemand gleich an Häusliche Gewalt?

    Pflegerinnen, Ärztinnen und Ärzte sollten das im Hinterkopf haben. Differentialdiagnostisch muss Häusliche Gewalt immer mitgedacht werden.

    ? Bei jedem Unfall?

    Wenn es kein Verkehrsunfall ist, ja. Häufig sind bei Häuslicher Gewalt Verletzungen im Oberkörperbereich. Und wenn eine Frau erklärt, ich bin heute von der Leiter gefallen, Sie aber auch noch gelb-grüne Flecken hat, die schon viele Tage alt sind, stellt sich die Frage, ob sie auch da von der Leiter gefallen ist.

    ? Wie sollen Ärzte dann nachhaken?

    Bitte in einer normalen und höflichen Sprache. Es gibt einen Kitteltaschenzettel, eine MED-DOC-CARD der Rechtsmedizin an der Universität Düsseldorf, mit Formuliervorschlägen dafür (Anm. Redaktion: link zum download am Ende des Interviews)

    ? Können Sie ein Formulierbeispiel geben?

    Niemals ein unverhofftes: Ja, werden Sie denn geprügelt? Tasten Sie sich vielmehr vor. Versuchen Sie es mit: Ich möchte Ihnen nicht zu nahe treten, aber ich kenne solche Verletzungen auch als Folge von Schlägen. Möchten Sie vielleicht dazu etwas sagen? Die Berliner Hilfsorganisation S.I.G.N.A.L. hat die nötigen Schritte in sechs Mustersätze gepackt, die Buchstaben im Namen der Organisation stehen für je einen. Der erste lautet: Sprechen Sie die Patientin an. Signalisieren Sie ihr, dass sie darüber sprechen darf.

    ? Gesetzt den Fall, die Betroffene erklärt sich, wie geht es weiter?

    Dann kommt das Interview mit konkreten, einfachen Fragen. Dann die gründliche Untersuchung alter und neuer Verletzungen. Danach müssen Sie alle Ergebnisse und Antworten notieren und dokumentieren. Vor allem auch gerichtsfest dokumentieren.

    ? Das bedeutet, im Zweifel auch Fotos zu machen?

    Ja. Die Fotodokumentation ist ganz wesentlich. Jetzt haben wir noch das A, das ist Abklären des aktuellen Schutzbedürfnisses der Patientin. Ganz salopp gesagt: Ist der gewalttätige Ehemann im Anmarsch, müssen wir vielleicht schon die Pforte informieren, dass er nicht ins Krankenhaus reinkommt. Das L schließlich steht für Leitfaden über Hilfsangebote und Notrufnummer geben. Das ist die zentrale Aufgabe der Ärzteschaft. Ärzte müssen eine Brücke zum Hilfenetzwerk sein. Wenn sie das schaffen, haben sie ihre Aufgabe erfüllt. Die weitere Betreuung geben Sie damit zugleich ab.

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    Aufgabe der Ärzte ist es durch Gewalt verursachte gesundheitliche Störungen zu erkennen und die Patientinnen sensibel darauf anzusprechen. In einem Interview sollten dann die Verletzungen dokumentiert werden (Bild: Thieme Verlagsgruppe).

    ? Welches Hilfenetzwerk?

    Das Thema Häusliche Gewalt ist seit einigen Jahren auf der politischen Agenda. So haben wir seit 2002 zum Glück das Gewaltschutzgesetz mit der obersten Maxime, der Täter geht, das Opfer bleibt in seiner Wohnung. Das ist ein großer Fortschritt. Und das Familienministerium BMFSFJ finanziert heute Modellregionen in Deutschland. In München, Düsseldorf, Berlin und einigen weiteren Stellen arbeitet heute ein Netzwerk von Ärzten, Gleichstellungsbeauftragten und Vereinen gegen Häusliche Gewalt zusammen. In manchen Modellregionen gibt es bereits Spezialambulanzen an Rechtsmedizinischen Instituten.

    ? Und was sollen jetzt Ärzte, etwa in einer Unfallambulanz, konkret tun?

    Den Kontakt zum Hilfenetzwerk vor Ort vermitteln. Das kann eine Telefonnummer sein, idealerweise auf einem kleinen Kärtchen, das man einer Betroffenen mitgibt, und das sie notfalls im Strumpf verstecken kann.

    Bei schweren Verletzungen ist eine stationäre Aufnahme nötig. Dann könnte auch der Sozialdienst eines Hauses die weitere Betreuung übernehmen.

    ? Aber Sie sagten eben, Netzwerke mit Anlaufstellen gibt es bislang nur in wenigen Modellregionen?

    Nein. Wir haben erst wenige Spezialambulanzen. Aber in jeder Region existieren heute Ansprechstellen für Häusliche Gewalt. Wissen Sie nicht weiter, wenden Sie sich notfalls an Ihr Landesministerium oder an die Gleichstellungsbeauftragte Ihrer Kommune. Ein wichtiger Punkt ist allerdings, dass viele Kliniken und Praxen sich um den Aufbau der Kontakte mehr kümmern könnten.

    ? Wie?

    Ideal ist eine Fortbildungsveranstaltung einer Klinik, bei der alle Mitarbeiter und möglichst jeder in der Region eingeladen wird, der für das Thema zuständig ist: Die kommunalen Gleichstellungsbeauftragten, Vertreter von Frauenhäusern, Ärzte und Pflegepersonal. Solch eine Tagung ist ein gutes Forum, um ein Netzwerk gegen Häusliche Gewalt zu verankern. Daneben weiß ich, dass Vertreterinnen von S.I.G.N.A.L. aus Berlin zum Vortrag vor Ort kommen oder Experten vermitteln.

    ? Was tun, wenn eine Frau gar nichts erzählt und eine Ärztin den Verdacht auf Häusliche Gewalt behält. Soll sie ihn weiter melden?

    Nein, dann muss sie dies respektieren. Es bleibt freie Entscheidung der Patientin, was sie erzählen und unternehmen möchte. Allein durch die Frage hat eine Ärztin schon etwas bewirkt, deutlich gemacht, dass man darüber sprechen kann. Das löst in vielen Betroffenen später doch etwas aus. Anbieten lässt sich in jedem Fall eine Kontaktadresse.

    Das Interview führte Dr. Bernhard Epping

    Weitere Informationen

    Vom Bundesfamilienministerium gefördertes Projekt Medizinische Intervention gegen Gewalt an Frauen (MIGG), mit Adressen zu Modellprojekten:

    http://www.migg-frauen.de/06-impressum.html

    Rechtsmedizin der Universität Düsseldorf, download der MED-DOC-CARD:

    http://www.uniklinik-duesseldorf.de/deutsch/unternehmen/institute/institutfrrechtsmedizin/RechtsmedizinischeAmbulanzfrGewaltopfer/page.html

    Projekt S.I.G.N.A.L. in Berlin:

    http://www.signal-intervention.de

    Informationen der Landesärztekammer Baden-Württemberg:

    http://www.aerztekammer-bw.de/20/gewzuhause/index.html

     
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    Dr. med. Astrid Bühren

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    Aufgabe der Ärzte ist es durch Gewalt verursachte gesundheitliche Störungen zu erkennen und die Patientinnen sensibel darauf anzusprechen. In einem Interview sollten dann die Verletzungen dokumentiert werden (Bild: Thieme Verlagsgruppe).