Handchir Mikrochir Plast Chir 2010; 42(3): 216-217
DOI: 10.1055/s-0030-1247570
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Warum der Begriff „Neurolyse” in der Nervenchirurgie entbehrlich ist

H. Assmus
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Publication Date:
12 April 2010 (online)

Der Begriff Neurolyse wird (nicht nur) von Autoren der HaMiPla häufig verwendet, wobei ihm im Allgemeinen ein therapeutischer Nutzen unterstellt wird. Häufig bleiben Indikation und Durchführung des Eingriffs verschwommen. Nur selten liefert der Autor Hinweise, wie und in welchen Schritten er den Eingriff durchgeführt hat. Allfällige, passagere oder bleibende Verschlechterungen des neurologischen Bildes nach schwierigen Präparationen werden gelegentlich „übersehen”, Besserungen, auch spontane, vom Autor/Operateur als Erfolg verbucht. Prospektive und randomisierte Studien gibt es (u. a. wegen der häufig kleinen Fallzahlen) fast nicht. Dies gilt nicht nur für die „äußere” Neurolyse, die oft als Synonym für Dekompression gebraucht wird, sondern auch für die „innere” oder interfaszikuläre Neurolyse, die einen schwerwiegenden Eingriff in die Nervstruktur darstellt. Zumindest bei Nervenkompressionssyndromen ist diese Technik heute obsolet. Bereits die Epineurotomie ist beim KTS-Ersteingriff überflüssig [1].

Während in der mikrochirurgischen Nervenchirurgie der Erhalt der Nervstrukturen insbesondere des Perineuriums mit der essentiellen Gefäßversorgung höchste Priorität hat, verwendet eine andere Fachrichtung, nämlich die Schmerztherapie denselben Begriff Neurolyse als destruktives Verfahren. So wird der Begriff im Klinischen Wörterbuch (Pschyrembel 1998) definiert als:

Äußere Neurolyse mit chirurgischer Lösung von Verwachsungen um einen Nerven und Dekompression (z. B. bei KTS), Interfaszikuläre Neurolyse als chirurgische Isolierung intakter Nervenfaserbündel aus narbig verändertem Nervengewebe und Neurolytische Nervenblockade mittels Injektion von Alkohol, Phenol usw. in das Nervengewebe.

Im Springer Lexikon Diagnose und Therapie (Springer 2006) wird „Neurolyse” – jetzt in umgekehrter Reihenfolge – erklärt als:

therapeutische Nervenauflösung z. B. bei inkurablen Schmerzzuständen operative Nervendekompression z. B. bei Karpaltunnelsyndrom

Bei einer Pubmed-Recherche unter dem Suchbegriff „Neurolysis” finden sich 50 Review-Arbeiten, bei denen es sich in der Mehrzahl (66%) um destruktive Verfahren im Rahmen der Schmerztherapie handelt. In 28 Fällen ging es dabei um die endoskopische Destruktion des Plexus coeliacus bei Patienten mit Pancreas-Ca (überwiegend durch Ultraschall, vereinzelt auch durch Injektion). In sechs Publikationen wurden chemische Blocka-den bei Trigeminusneuralgie, Spastizität und Synkinesien beschrieben. Demgegenüber betrafen nur 16 Review-Arbeiten kurative Eingriffe an peripheren Nerven, vorwiegend, nämlich 7-mal bei Kompressionssyndromen, 3-mal bei traumatische Nerven- und Plexusläsionen, 3-mal bei Neurolipomatosen und einmal im Rahmen einer Lepra-Neuropathie.

Renommierte Vertreter der Nervenchirurgie äußern sich überwiegend kritisch:

Mazal u. Millesi (2005) bezeichnen in ihrer Arbeit „Neurolysis: is it beneficial oder harmfull” den Begriff „innere Neurolyse” als „Entfernen von fibrotischem Gewebe im Innern eines Nervs, jedoch ohne komplette Isolierung von Faszikeln, die das Risiko einer Schädigung von Verbindungen zwischen den Faszikeln und einer Verschlechterung der Blutversorgung beinhalte”. Die Autoren empfehlen, den schlecht definierten Begriff überhaupt zu verlassen [2].

Ralfe Birch schreibt in Green's Operative Hand Surgery (2005), dass externe Neurolyse bedeute, den Nerv von einengenden und strangulierenden Einflüssen zu befreien, und dass bei dieser Prozedur das Epineurium nicht verletzt werde z. B. bei der Dekompression des N. medianus. Für eine interfaszikuläre Neurolyse mit Durchtrennung bzw. Entfernung des interfaszikulären Epineuriums sieht er nur eine sehr enge Indikation, nämlich im Rahmen von partiellen Nervendurchtrennungen, Nerventumoren, Nervtransplantationen und der Oberlin-Operation, d. h. als Bestandteil von rekonstruktiven Eingriffen.

In Kline and Hudson's „Nerve Injuries”” wird die Neurolyse als eine komplette zirkuläre Freilegung des Nervs bezeichnet und vorzugsweise für intraoperative elektrische Ableitungen (Neurografie) und im Rahmen von Nervennähten bzw. Transplantationen angewendet. Die manchmal bei schweren posttraumatischen Läsionen und neuropathischen Schmerz-zuständen wirksame innere Neurolyse könne zu zusätzlichen Funktionsausfäl-len führen, sogar wenn die Prozedur lege artis durchgeführt werde [3].

In einer aktuellen Übersicht und Würdigung sämtlicher nervchirurgischer Techniken (Slutzky/Hentz 2006) werden die Begriffe „neurolysis” und „internal neurolysis” nicht mehr als eigenständige Techniken beschrieben, sondern nur beiläufig erwähnt. Sie sind im Index nicht aufgeführt [4].

Schließlich gibt es heute keine wirtschaftlichen Anreize mehr, den Begriff Neurolyse in der Abrechnung zu verwenden, nachdem die Position als eigenständige Leistung im EBM gestrichen wurde. In der GOÄ ist die Abrechnungsposition zwar noch vorhanden, wurde jedoch deutlich abgewertet.

Zusammenfassend ist festzustellen, dass der Begriff Neurolyse heutzutage in erster Linie von Schmerztherapeuten verwendet wird. Es handelt sich hierbei um einen destruktiven Eingriff, bei dem Nerven oder Nervenwurzeln durch bestimmte Methoden (chirurgische, chemische, thermische Verfahren bzw. endoskopischen Ultraschall) verödet werden, um chronische Schmerzen einzudämmen. Im Rahmen der rekonstruktiven Nervchirurgie wird der Begriff zunehmend weniger verwendet und durch exaktere Bezeichnungen bzw. Techniken im Rahmen der Nervrekonstruktion ersetzt. Unkritische, d. h. nicht hinreichend indizierte Eingriffe am Nerv und dessen Hüllen, insbesondere in die Nervstruktur bergen das Risiko einer zusätzlichen Schädigung und sollten daher nur von erfahrenen Nervchirurgen in der Regel im Rahmen rekonstruktiver Eingriffe (z. B. Interpo-sition/Transplantation oder „Split-Repair”) durchgeführt werden.

Es ergibt sich somit die Folgerung, dass die (operative) Neurolyse (insbesondere interfaszikulär) ein häufig überflüssiger, potenziell schädlicher Eingriff ist und keine eigenständige therapeutische Leistung im Bereich der wiederherstellenden Nervchirurgie darstellt. Der schlecht definierte, zweideutige Begriff sollte – dies gilt besonders auch für wissenschaftliche Publikationen – besser vermieden werden. In der Kombination „Neurolyse und Dekompression” ist das Wort Neurolyse ersatzlos zu streichen.

Der Begriff Neurolyse sollte ersetzt werden durch eindeutigere Begriffe oder Prozeduren wie

Diagnostische oder Probe-Freilegung eines Nervs oder Faszikels (auch bei der intraoperativen Neurografie) Nervdekompression bei nachgewiesenem Engpasss Dekompression mit Epineurotomie (selten, nur mit strenger Indikation!) Faszikel-Dissektion oder Fensterung des Epi/Perineurium bei bestimmten Techniken der Nervrekonstruktion (wie Nervennaht, Interposition, End-zu-Seit-Naht usw.)

Der Begriff Neurolyse (nämlich Lyse oder Auflösung bzw. Zerstörung von Nervengewebe) könnte dann problemlos und eindeutig im Rahmen der Schmerztherapie Verwendung finden.

Literatur

  • 1 Borisch N, Haussmann P. Neurophysiological recovery after open carpal tunnel decompression: comparison of simple decompression and decompression with epineurotomie.  J Hand Surg [Br]. 2003;  28 450-454
  • 2 Mazal PR, Millesi H. Neurolysis: is it beneficial or harmfull?.  Acta Neurochir Suppl. 2005;  92 3-6
  • 3 Kim DH, Midha R, Murovic JA. et al .(Eds.) Kline & Hudson's nerve injuries 2nd ed. Saunders/Elsevier; 2008
  • 4 Slutzky DJ, Hentz VR. (Eds.) Peripheral nerve surgery: practical applications in the upper extremity.. Churchill Livingstone/Elsevier; 2006

Korrespondenzadresse

Dr. Hans Assmus

Praxis für periphere Neurochirurgie

Ringstraße 3

69221 Dossenheim

Email: hans-assmus@t-online.de

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