Einleitung
Imatinib (Glivec®) ist ein Tyrosinkinaseinhibitor, der seit 2001 für die Behandlung von chronisch-myeloischer Leukämie und anderen Tumoren eingesetzt wird. Verschiedene, teilweise schwere, dermatologisch relevante, unerwünschte Arzneimittelwirkungen sind beschrieben worden. Hierzu zählen unter anderem Flushsymptomatik, Pruritus, Stevens-Johnson-Syndrom, Erythema exsudativum multiforme, Angioödem und Sweet-Syndrom. Unter den berichteten Nebenwirkungen finden sich auch periorbitale Ödeme. Die Ödembildung scheint dosisabhängig zu erfolgen, was für eine pharmakologisch induzierte unerwünschte Arzneimittelwirkung spricht, und nicht für eine Arzneimittelintoleranz oder eine Arzneimittelallergie.
Wir berichten nachfolgend über einen 61-jährigen Patienten mit ausgeprägten beidseitigen periorbitalen Ödemen der Ober- und Unterlider beidseits durch die Einnahme von Glivec®.
Fallbericht
Anamnese
Ein 61-jähriger Patient bemerkte vor ungefähr 2 Jahren eine stationäre beidseitige periorbitale Schwellung einhergehend mit einer schlaffen, faltigen Hautvermehrung an Ober- und Unterlidern. Dieser Befund war im folgenden Jahr auf beeinträchtigende Ausmaße herangewachsen, sodass der Sehspalt teilweise verdeckt wurde. In dem sich anschließenden Jahr bis zur Erstvorstellung in domo (s. [Abb. 1], [Abb. 2]) blieb der Befund größenkonstant. Es bestand eine chronisch-myeloische Leukämie (CML), die seit 3 Jahren mit der Einnahme von Glivec® (Wirkstoff: Imatinib) in einer Dosierung von inital 600 mg 1-0-0, später 300 mg 1-0-0 behandelt wurde. Des Weiteren waren eine chronisch-obstruktive Lungenerkrankung (COPD) und arterieller Hypertonus bekannt, die mit Apsomol N® (Salbutamol)-Fertiginhalat b. Bed., Symbicort Turbohaler® (Budesonid/Formeterol) 80 µg/4,5 µg 2-0-2 Hübe, Theophyllin ret. 500 mg 1-0-1, ACC® (Acetylcystein)-Brausetabletten 600 mg 0-0-1, Spiriva® (Tiotropiumbromid) 18 µg 1-0-0 und Verapamil 120 mg 1-0-1 behandelt wurden. Diese Medikation war über Jahre unverändert geblieben. Allergien waren nicht bekannt. Die Familienanamnese war in Bezug auf Haut- und Erbkrankheiten leer.
Der Patient wurde vorgestellt zur Diagnosesicherung und operativen Sanierung der nicht nur kosmetisch, sondern auch funktionell störenden ausgeprägten periorbitalen Schwellungen.
Hautbefund
Es zeigte sich ein ausgedehntes, weiches, die Sehspalte teilweise verdeckendes Ödem von beiden Unter- und Oberlidern, einhergehend mit schlaffer, faltiger Haut. Im Unterlidbereich war der Befund stärker ausgeprägt, die Hautlappen erreichten eine Länge von 3 cm ([Abb. 2]).
Abb. 1 Ausgeprägtes Ödem beider Ober- und Unterlider nach einjähriger Glivec®-Therapie.
Abb. 2 Ausgedehntes koriales Ödem im Bereich des rechten Unterlides.
Histologie
In der Histologie zeigten sich eine korbgeflechtartige Orthokeratose, stark ödematös aufgelockertes Bindegewebe i. S. e. ausgeprägten korialen Ödems und schüttere Entzündungsinfiltrate aus Lymphozyten ([Abb. 3]). Die Elastica von Giesen-Färbung sowie die Alcian-Blau-Färbung zeigten keine pathologischen Befunde.
Abb. 3 Histologie: koriales Ödem, Lymphozyteninfiltrate (HE-Färbung).
Labor
Im Differenzialblutbild zeigte sich eine nicht behandlungsbedürftige makrozytäre Anämie (Hb 13,1 mg/dl [Normwert: 14,0 – 18,0 mg/dl], MCV 99,7 fl [Normwert: 85,0 – 95,0 fl]) und eine leichte Leukopenie (Leukozyten 4040/µl). Unauffällig bzw. altersentsprechend waren Leber- und Nierenparameter.
Therapie
Der klinische Befund mit einem ausgedehnten Ödem von beiden Ober- und Unterlidern zusammen mit dem histologischen Befund eines korialen Ödems ließ sich gut als unerwünschte Arzneimittelwirkung der im Jahr zuvor begonnenen Therapie mit Glivec® (Imatinib) erklären. Das überschüssige und ödematöse Hautmaterial wurde mittels konventioneller Blepharoplastik beider Ober- und Unterlider in einer Sitzung in Lokalanästhesie exzidiert. Die Glivec®-Therapie wurde unverändert bei 400 mg/die beibehalten. 6 Monate nach der Operation zeigte sich immer noch ein stabiler Befund ohne Anhalt für ein Rezidiv des beidseitigen periorbitalen Ödems ([Abb. 4]).
Abb. 4 Rezidivfreier Befund 6 Monate nach Blepharoplastik.
Besprechung
Glivec® (Imatinib) ist ein Tyrosinkinaseinhibitor, der mit hoher Affinität Abl-, Bcr-Abl, c-Kit und den PDGF(platelet-derived growth factor)-Rezeptor zu blockieren vermag. Er wird eingesetzt zur Behandlung der Philadelphia-Chromosom(bcr abl)-positiven CML, von myelodysplastischen/myeloproliferativen Erkrankungen mit PDGF-Genumlagerung, von gastrointestinalen, cKIT (CD 117)-positiven Stromatumoren, vom nicht resezierbaren Dermatofibrosarcoma protuberans sowie von weiteren malignen Erkrankungen. Seit seiner Erstzulassung in den USA im Mai 2001, zunächst für die Therapie der auf Interferon α nicht ansprechenden bcr abl+ CML, wurden multiple, z. T. schwere, unerwünschte Arzneimittelwirkungen berichtet.
Während Verschiebungen im Differenzialblutbild, Ödeme, Nausea, Myalgien, Diarrhoen und Hepatotoxizität häufige internistische Nebenwirkungen darstellen, sind aus dermatologischer Sicht vor allem Pruritus, Flushsymptomatik, erythematöse, exfoliative oder pustulöse Exantheme als häufige unerwünschte Arzneimittelreaktionen zu nennen [1]
[2]
[3]. Bedeutsam aufgrund der möglichen Schwere des Krankheitsbildes, wenn auch nur selten berichtet, sind Stevens-Johnson-Syndrom, Erythema exsudativum multiforme, Angioödem, Sweet-Syndrom und akute generalisierte exanthematische Pustulose [2]
[3]
[4]
[5]
[6]. Weiterhin wurden Hypopigmentierungen, Onychodystrophie, Alopezie, Petechien und Sugillationen beobachtet [3]
[7]. Eine oder mehrere dieser dermatologischen Reaktionen treten bei bis zu 21 % der Patienten auf [1]. Es konnte gezeigt werden, dass diese Hautveränderungen meistens ab einer Dosierung von 600 mg/die oder höher auftreten [1]
[2]. Die Dosisabhängigkeit spricht für einen pharmakologischen Effekt des Arzneimittels und nicht für eine Intoleranz- oder allergische Reaktion.
Periphere Ödeme zählen zu den häufigen Nebenwirkungen von Glivec®. Die Entwicklung eines beidseitigen korialen Ödems der Ober- und Unterlider unter laufender Glivec®-Therapie wurde in der Literatur bereits beschrieben [8]
[9]. Sie ist eine charakteristische Nebenwirkung von Glivec® [10]. Bis zu 70 % der Patienten mit Imatinib-Therapie sollen sich mehr oder weniger stark ausgeprägte periorbitale Ödeme entwickeln [11]. In einem Fallbericht wird über ein leichtes Ödem bei einer Tagesdosis von 400 mg und eine deutliche Befundverschlechterung nach Erhöhung der Dosis auf 600 mg/die berichtet [8]. Als zugrunde liegender Pathomechanismus wird die Blockade des PDGF-β-Rezeptors auf den dendritischen Zellen mit nachfolgender Störung der Homöostase des Wasserhaushaltes angenommen [7].
Für das histologische Bild ist ein ausgedehntes koriales Ödem charakteristisch [8]
[9], wie es auch in unserem Fall vorlag.
Aufgrund der anatomischen Beschaffenheit des Periorbitalgewebes mit besonderer Nachgiebigkeit des Gewebes treten lokalisierte Ödeme besonders häufig an dieser Stelle auf. Dies ist auch der Fall beim Angioödem, M. Morbihan (Rosacea oedematosa), Blepharochalasis (schlaffe Hautfalten unterschiedicher Ätiologie, histologisch fehlen elastische Fasern), floppy eyelid-Syndrom (schlaffe Tarsalplatte des Oberlids mit nächtlichem Ektropium, eher bei adipösen Männern) und beim nephrogenen Lymphödem.
Konservative Therapie mit salzarmer Kost, restriktiver Flüssigkeitszufuhr, nächtlicher Kopfhochlagerung und steroidhaltigen Externa scheint beim Imatinib-induzierten periorbitalen Ödem keine Erfolge zu erzielen [8].
Wir führten bei unserem Patienten eine beidseitige Blepharoplastik der Ober- und Unterlider in einer Sitzung in Lokalanästhesie durch.
Auch in anderen Fallberichten wird die Blepharoplastik als einzig erfolgreiche Therapie erwähnt [8]
[9]. In unserem Fall war 6 Monate nach der beidseitigen Blepharoplastik der Ober- und Unterlieder das Periorbitalödem trotz laufender Imatinib-Behandlung nicht wieder aufgetreten.
Da die Dermatochalasis als häufige Nebenwirkung zumeist erst ab einer Dosierung von 600 mg/die auftritt, scheint eine Fortführung der Glivec®-Therapie mit niedrigerer Dosierung nicht zu einem Rezidiv zu führen. Auch in unserem Fall blieb das periorbitale Ödem bis zum jetzigen Zeitpunkt (6 Monate nach der Blepharoplastik) unter 300 mg/die in kompletter Remission. Larson et al. berichteten über einen Patienten, der auch unter 600 mg Tagesdosis 17 Monate nach Blepharoplastik rezidivfrei ist [8]. Die Blepharoplastik stellt demnach den einzigen uns bekannten kurativen Therapieansatz bei Blepharochalasis durch Glivec® dar.