Z Orthop Unfall 2009; 147(3): 279-280
DOI: 10.1055/s-0029-1225603
Orthopädie und Unfallchirurgie aktuell

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Interview - Mögliche Berufskrankheit Karpaltunnelsyndrom

- Die arbeitsmedizinische Einschätzung -
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Publication Date:
23 June 2009 (online)

 
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In der europäischen Berufskrankheitenliste ist das Karpaltunnelsyndrom (KTS) als eigenständige Berufskrankheit unter der Ziffer 506.45 gelistet und wird in vielen Ländern Europas auch anerkannt. Hinsichtlich der bundesdeutschen Berufskrankheitenliste besteht noch Abstimmungsbedarf. Fragen an Dr. med. Michael Spallek, Volkswagen Aktiengesellschaft, Wolfsburg.

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Dr. Michael Spallek

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Wo ist das KTS unter arbeitsmedizinischen Gesichtspunkten einzuordnen?

Bei einem Karpaltunnelsyndrom handelt es sich um das häufigste periphere Nervenkompressionssyndrom; es stellt den zweithäufigsten ambulant durchgeführten Eingriff in Deutschland dar. Die Genese wird überwiegend auf posttraumatische, stoffwechselbedingte oder idiopathische Gewebevermehrung zurückgeführt. Aufgrund der pathophysiologischen Merkmale gehört das KTS zu den sicher diagnostizierbaren Nervendruckschäden und erfüllt dem Grunde nach die Voraussetzungen einer BK 2106 "Druckschädigung der Nerven". Das KTS wurde in dieser BK Ziffer aber vom Verordnungsgeber in 2002, analog zu bandscheibenbedingten Erkrankungen, explizit herausgenommen.

Eine Evidenz arbeitsbedingter Ursachen für ein KTS ist in der internationalen Literatur nachgewiesen und ein kausaler Zusammenhang zwischen arbeitsbedingten manuellen Belastungen in unterschiedlichsten Berufen und dem Auftreten eines KTS aus pathophysiologischer und epidemiologischer Sicht ist hinreichend gesichert [1],[2],[3],[4].

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Welche Berufe sind besonders risikobelastet?

Feldmann weist in einer Zusammenfassung über periphere Nervenengpasssyndrome bereits 1983 auf die berufsbedingten Schädigungsmöglichkeiten für ein KTS hin [5]. In Zusammenhang mit beruflichen Belastungen werden damals Beuge- und Streckbewegungen des Handgelenkes, insbesondere in Kombination mit Greifen, sowie Druck gegen den Karpaltunnel beschrieben. In seiner Listung risikoreicher Berufe finden sich Tätigkeiten wie Fließbandarbeiter, Gärtner, Hausfrau, Musiker, Bauer, Mechaniker und Fabrikarbeiter. Die derzeit international vorliegende epidemiologische Literatur zeigt analog zu diesen älteren Erkenntnissen konsistent die höchsten KTS-Erkrankungsrisiken ebenfalls bei Berufen und Tätigkeiten, die einer intensiven manuellen Belastung durch kraftvolles Greifen oder repetitive Tätigkeiten ausgesetzt sind - z.B. Fleischverpacker, Fließbandarbeiter in der Automobilindustrie, Forstarbeiter beim Umgang mit Hand gehaltenen vibrierenden Werkzeugen, Geflügelverarbeiter, Kassierer im Supermarkt mit Umsetzen von Lasten, Masseure, Polsterer etc. [1], [2]. Diese Tätigkeiten scheinen im Einzelfall geeignet, zu einer Volumenzunahme im Karpaltunnel mit Druckerhöhung auf den N. medianus zu führen. Die Literatur belegt eine Risikoerhöhung insbesondere bei einer Kombination dieser Faktoren. Andersen et al. [6] und Palmer et al. weisen auch darauf hin, dass die vorliegenden Daten für Arbeiten am Computer und mit Tastaturen keine bedeutsame Assoziation mit einem KTS zeigen.

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Wie erfolgt die Abgrenzung der beruflich bedingten Genese zu den sonstigen Formen des KTS?

Die für ein KTS in Frage kommenden Einwirkungen kommen in vielen Berufen vor. Die hohe Prävalenz eines KTS in der Allgemeinbevölkerung - auch ohne besondere berufliche Belastungen - wirft daher die Frage nach der arbeitsbedingten Abgrenzung der Verursachung oder Verschlimmerung auf. Ein KTS tritt normalerweise häufiger bei Frauen als bei Männern auf und zeigt eine deutliche Zunahme mit dem Alter, aber auch Zusammenhänge mit sehr individuellen Faktoren wie beispielsweise Übergewicht. Aufgrund der weiten Verbreitung von KTS in der Allgemeinbevölkerung muss daher bei der Prüfung einer möglichen berufsbedingten Verursachung - neben einer sehr sorgfältigen und möglichst eindeutigen neurologischen Diagnostik - auch eine intensive Prüfung medizinischer Differenzialdiagnosen und auch weiterer psychosozialer Einflussfaktoren wie beispielsweise Arbeitszufriedenheit und Wohlbefinden erfolgen.

Zum zeitlichen Verlauf bis zum Auftreten eines KTS liegen in der Literatur unterschiedliche Angaben vor, ganz überwiegend reichen aber z. T. kurze Expositionszeiten aus [7],[8]. Ein Kausalzusammenhang ist vor allem dann plausibel, wenn der Erkrankungsbeginn in engem zeitlichen Zusammenhang mit der Exposition steht [9].

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Welche Tätigkeiten können zu einem KTS führen?

Problematisch für eine Zusammenhangsbeurteilung eines KTS mit beruflichen Belastungen ist vor allem der Umstand, dass es weder ein belastungskonformes Schadensbild gibt noch eine eindeutige Dosis-Wirkungsbeziehung vorliegt. Die arbeitsbedingt schädigenden Einwirkungen hängen daher weniger von einer konkreten Berufsbezeichnung, als vielmehr von den Tätigkeiten mit Risikofaktoren für ein KTS ab.

  • Sie sind nach derzeitigem Kenntnisstand gekennzeichnet durch

  • repetitive manuelle Tätigkeiten mit Beugung und Streckung der Hände im Handgelenk oder

  • erhöhten Kraftaufwand der Hände (kraftvolles Greifen) oder

  • Einwirkung von Hand-Arm-Schwingungen, z.B. durch handgehaltene vibrierende Maschinen.

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Literatur

  • 01 Bernard B.P . (Ed.): Musculoskeletal disorders and workplace factors. A critical review of epidemiologic evidence for work-related musculoskeletal disorders of the neck, upper extremity, and low back. US Department of Health and Human Services, National Institute for Occupational Safety and Health, 1997. 
  • 02 Radon K . Nowak D . Szadkowski D . : Berufsbezogene Beschwerden und Erkrankungen im Bereich der oberen Extremitäten durch repetitive Belastung. In: Rettenmeier, A. 
  • 03 Viikari-Juntura E . Silverstein B.A . : Role of physical load factors in carpal tunnel syndrome.  Scand. J. Work Environ. Health. 1999;  25 163-185
  • 04 Palmer K.T . Harris E.C . Coggon D . : Carpal tunnel syndrome and ist relation to occupation: a systematic literature review.  Occupational Medicine. 2007;  57 57-66
  • 05 Feldman R.G . Goldman W . Kaysermann M . : Classical syndromes in occupational medicine. Peripheral nerve entrapment syndromes and ergonomic factors.  Am J Ind Med. 1983;  4 661-681
  • 06 Anderesen JH . Thomsen JF . Overgaard E . Lassen CF . Brandt LP . Vilstrup I . Kryger AI . Mikkelsen S . Computer use and carpal tunnel syndrome: a 1-year follow-up study.  JAMA. 2003;  2963-2969
  • 07 Masear V.R . Hayes J.M . Hyde A.G . : An industrial cause of carpal tunnel syndrome.  J. Hand Surg. [Am]. 1986;  11 222-227
  • 08 Barnhart S . Demers P.A . Miller M . Longstreth W.T . Rosenstock L . : Carpal tunnel syndrome among ski manufacturing workers.  Scand. J. Work Environ. Health. 1991;  17 46-52
  • 09 Giersiepen K . Eberle E . Pohlabeln H . : Wann verdoppelt sich für berufliche manuelle Tätigkeit das Erkrankungsrisiko für ein Carpaltunnel-Syndrom? In: G.Schaecke (Hrsg.): Dokumentationsband der 40. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin e.V. 2000; 193-196. 
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Literatur

  • 01 Bernard B.P . (Ed.): Musculoskeletal disorders and workplace factors. A critical review of epidemiologic evidence for work-related musculoskeletal disorders of the neck, upper extremity, and low back. US Department of Health and Human Services, National Institute for Occupational Safety and Health, 1997. 
  • 02 Radon K . Nowak D . Szadkowski D . : Berufsbezogene Beschwerden und Erkrankungen im Bereich der oberen Extremitäten durch repetitive Belastung. In: Rettenmeier, A. 
  • 03 Viikari-Juntura E . Silverstein B.A . : Role of physical load factors in carpal tunnel syndrome.  Scand. J. Work Environ. Health. 1999;  25 163-185
  • 04 Palmer K.T . Harris E.C . Coggon D . : Carpal tunnel syndrome and ist relation to occupation: a systematic literature review.  Occupational Medicine. 2007;  57 57-66
  • 05 Feldman R.G . Goldman W . Kaysermann M . : Classical syndromes in occupational medicine. Peripheral nerve entrapment syndromes and ergonomic factors.  Am J Ind Med. 1983;  4 661-681
  • 06 Anderesen JH . Thomsen JF . Overgaard E . Lassen CF . Brandt LP . Vilstrup I . Kryger AI . Mikkelsen S . Computer use and carpal tunnel syndrome: a 1-year follow-up study.  JAMA. 2003;  2963-2969
  • 07 Masear V.R . Hayes J.M . Hyde A.G . : An industrial cause of carpal tunnel syndrome.  J. Hand Surg. [Am]. 1986;  11 222-227
  • 08 Barnhart S . Demers P.A . Miller M . Longstreth W.T . Rosenstock L . : Carpal tunnel syndrome among ski manufacturing workers.  Scand. J. Work Environ. Health. 1991;  17 46-52
  • 09 Giersiepen K . Eberle E . Pohlabeln H . : Wann verdoppelt sich für berufliche manuelle Tätigkeit das Erkrankungsrisiko für ein Carpaltunnel-Syndrom? In: G.Schaecke (Hrsg.): Dokumentationsband der 40. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin e.V. 2000; 193-196. 
 
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Dr. Michael Spallek