Diabetes aktuell 2008; 6(6): 240-241
DOI: 10.1055/s-0028-1112233
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© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart ˙ New York

Jahresrück- und -ausblick - Diabetologie 2008

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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
24. Dezember 2008 (online)

 
Inhaltsübersicht

Was hat uns das Jahr 2008 an Innovationen in der Diabetologie gebracht? In diesem Jahr hat die Behandlung des Diabetes mellitus in Hinblick auf neue Therapieansätze und Medikamente eine rasante Entwicklung genommen, die neue Fragen aufwirft, aber auch neue Lösungen anbietet.

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Gliptine

Eine der Innovationen ist die Substanzklasse der Gliptine, die 2008 auf den Markt gekommen ist. Seit April 2007 sind mit Sitagliptin (Januvia®, Xelevia®) und später Vildagliptin (Galvus®) 2 neue orale Antidiabetika auf dem deutschen Markt, welche zur Behandlung des Typ-2-Diabetes zugelassen sind. Sie sind zunächst ausschließlich als Zusatz zu Metformin (z. B. Glucophage®) oder einem Glitazon wie Pioglitazon (z. B. Actos®) oder Rosiglitazon (z. B. Avandia®) zur Behandlung des Typ-2-Diabetes zugelassen, wenn Diät und Bewegung zusammen mit der jeweiligen Monotherapie den Blutzucker nicht ausreichend senken. Beide Substanzen gibt es auch als Kombinationspräparate mit Metformin (Janumet®, Velmetia® und Eucreas®).

Sitagliptin ist der erste Vertreter der neuen Klasse, der so genannten Dipeptidylpeptidase-4-Inhibitoren (DPP-4-Inhibitoren), die auch als Gliptine bezeichnet werden. Anders als das Hormonanalogon Exenatid, das die Inkretinwirkung nachahmt, hemmt Sitagliptin den Abbau körpereigener Inkretine.

Die Dipeptidylpeptidase 4 reguliert die Zusammenarbeit der Hormone Insulin und Glukagon. Untersuchungen zeigten, dass eine oral eingenommene Glukosemenge die endogene Insulinfreisetzung wesentlich stärker stimuliert als eine entsprechende intravenöse Glukoseinfusion. Diese Differenz in der Insulinausschüttung wird als Inkretineffekt bezeichnet, da bei der Passage der Glukose durch den Darm Inkretine für die erhöhte Insulinfreisetzung nach oraler Glukoseeinnahme verantwortlich sind. Die Ursache für diesen Effekt sind die beiden Darmhormone Glucagon-Like-Peptide 1 (GLP-1) und Glucose-dependent-Insulinotropic-Peptide (GIP; Synonym: Gastric-Inhibitory-Peptide). Nach der Aufnahme von Kohlenhydraten werden diese beiden Inkretine im Darm sezerniert und in den Blutkreislauf abgegeben. Als Folge steigt die Insulinsynthese und -freisetzung aus den ß-Zellen des Pankreas und die Glukagonfreisetzung sinkt. Das geschieht allerdings nur, wenn die Blutglukosekonzentration normal oder erhöht ist. Bei Hypoglykämie erhöhen die Peptide die Insulinsekretion nicht. Dies ist ein wichtiger Schutzmechanismus vor Hypoglykämien, den die Gliptine im Gegensatz zu anderen oralen Antidiabetika, wie z. B. Sulfonylharnstoffe, aufweisen. Ein weiterer wichtiger physiologischer Effekt von GLP-1 besteht in der Vermittlung eines Sättigungsgefühls an den Hypothalamus. Diese Verstärkung des Sättigungsgefühls durch Behandlung mit einem DPP-4-Inhibitor hilft Typ-2-Diabetikern bei der Gewichtskontrolle.

Mit den Gliptinen stehen 2 neue Substanzen zur Behandlung von Typ-2-Diabetikern zur Verfügung, die eine echte Innovation darstellen. Betrachtet man den Wirkmechanismus, könnten die Gliptine durchaus zu einem früheren Zeitpunkt der Diabeteserkrankung eingesetzt werden - wozu sie heute noch nicht zugelassen sind. Außerdem fehlen Langzeitdaten bezüglich Überlegenheit und Sicherheit. Ich denke aber, dass wir mit den Gliptinen ein neues - sich an der Pathophysiologie der Erkrankung orientierendes Medikament - zur Verfügung haben, eines mit Zukunft.

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Glitazone

Einen weiteren wichtigen Diskussionsgrund gaben die Glitazone, in die wir sehr viele Hoffnungen hinsichtlich vaskulärer Effekte gesetzt haben. Sie sind unter Druck geraten, und in den letzten Monaten wurden Insulinsensitizer (Glitazone) öffentlich intensiv diskutiert, da neuere Studiendaten Hinweise für ein erhöhtes kardiovaskuläres Risiko unter Rosiglitazon gezeigt hatten und auch die Herzinsuffizienzrate bei Einsatz beider Glitazone erhöht zu sein scheint. In einer Metaanalyse, die im Juni 2007 im New England Journal of Medicine veröffentlicht wurde, wird von einer um etwa 40 % erhöhten Herzinfarktrate bei einer Therapie mit Rosiglitazon berichtet. Insgesamt traten 86 Herzinfarkte bei der Behandlung auf, in den Kontrollgruppen waren es lediglich 72 Infarkte. Kardiovaskuläre Todesfälle traten 39-mal unter Rosiglitazon und 22-mal in den Kontrollgruppen auf. Die relativ kleine Anzahl an Ereignissen erklärten sich die Autoren der Analyse mit der kurzen Beobachtungszeit von zumeist 24-52 Wochen. Unter einer längerfristigen Therapie müsse jedoch mit einer höheren Anzahl von Herzinfarkten und kardialen Todesfällen gerechnet werden. Die Bedenken sind dabei nicht neu. Allerdings schließen die Autoren nicht aus, dass eine umgekehrte Tendenz bei längerer Behandlungsdauer zu beobachten sei und Rosiglitazon langfristig betrachtet vielleicht sogar eine schützende Wirkung bei Herz-/Kreislauferkrankungen haben könnte. Neuere Studien zeigen auch, dass Glitazone darüber hinausgehende Wirkungen auf weitere Risikofaktoren, wie den Fettstoffwechsel und Entzündungsparameter, besitzen.

Aus diabetologischer Sicht sind beide Medikamente sinnvoll und enorm hilfreich in der Diabetestherapie. Andererseits dürfen wir unsere Patienten nicht einem höheren Risiko durch die Behandlung aussetzen. Im nächsten Jahr werden wir die Ergebnisse der RECORD-Studie (Rosiglitazon Evaluated for Cardiac Outcomes and Regulation of Glycemia in Diabetes) im Hinblick auf kardiovaskuläre Ereignisse erfahren und müssen diese Ergebnisse im Zusammenhang mit denen der PROACTIVE-Studie, die für Pioglitazon einen Vorteil hinsichtlich von kardiovaskulären Ereignissen, wie Schlaganfall und Herzinfarkt, gegenüber der Standardmedikation zeigte, diskutieren.

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Gesundheitsfonds

Es sind aber nicht nur die Medikamente, die wichtig sind, sondern wir erleben auch gerade eine grundlegende Umwälzung der Strukturen in unserem Gesundheitssystem.

Der Gesundheitsfonds ist ein Konzept zur Umorganisation der Finanzierung der GKV in Deutschland, der am 1. Januar 2009 eröffnet wird. Am 2. Februar 2007 beschloss der Bundestag das Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-WSG). Beitrags- und Steuergelder sollen zentral eingenommen und an die Krankenkassen weitergeleitet werden. Die Krankenkassen sollen die Sozialversicherungsbeiträge zunächst einziehen und an die neue Zentralbehörde übertragen. Die bisher unterschiedlichen Beitragssätze der Krankenkassen werden ab 1. Januar 2009 durch den einheitlichen Beitragssatz von 15,5 % ersetzt. Wenn der Fonds die Ausgaben der Krankenkassen 2 Jahre hintereinander zu weniger als 95 % abdeckt, wird der Beitragssatz erhöht. Die Mittelzuteilung an die Krankenkassen berücksichtigt die Morbidität der Versichertenstruktur einer Krankenkasse, wodurch der Risikostrukturausgleich (MORBI-RSA) neu gegliedert wird. Dadurch soll jede Kasse annähernd die Finanzmittel erhalten, die sie zur Versorgung ihrer Versicherten benötigt. Beim Bundesversicherungsamt wurde ein Wissenschaftlicher Beirat zur Vorbereitung der morbiditätsorientierten Mittelzuweisung eingerichtet; dieser hat am 9. Januar 2008 ein Gutachten zur Auswahl von 80 Krankheiten vorgelegt, die bei dieser Mittelzuteilung berücksichtigt werden sollen. Das Bundesversicherungsamt hat Ende März 2008 die endgültige Liste vorgelegt, bei der es aufgrund einer stärkeren Berücksichtigung der Prävalenz zu erheblichen Abweichungen gegenüber der Liste des Wissenschaftlichen Beirates kommt.

Es stellt sich nunmehr die Frage, ob die Vereinheitlichung der Kassenbeiträge sinnvoll ist oder nicht. Das BMG begründet den Einheitsbeitrag mit einer damit verbundenen Fairness, da alle das gleiche zahlen und dasselbe bekommen. Es ist aber auch möglich, dass sich die Krankenkassen, anders als vom BMG behauptet, um ihre Wirtschaftlichkeit nicht mehr sorgen müssen, da es de facto keine Konkurrenz mehr gibt. Der Gesundheitsfonds ist international kein Einzelfall. In den Niederlanden, Belgien und Israel zum Beispiel, wo ebenfalls mehrere Krankenkassen miteinander konkurrieren, zahlen die Versicherten ihren einkommensabhängigen Beitrag nicht an die individuelle Krankenkasse, sondern an einen Gesundheitsfonds. Erfahrungen in den Niederlanden zeigen aber auch, dass mittlerweile etwa 50 % der Einnahmen für Krankenkassen aus Zusatzprämien finanziert werden müssen. Ist das eine Innovation? Die medizinischen Herausforderungen, die eine immer älter werdende Bevölkerung an das Gesundheitssystem stellt, werden sich nur durch individuelle, zielorientierte und kosteneffiziente Therapien lösen lassen.

Behandlungen, für die vor 20 Jahren noch ein Krankenhausaufenthalt nötig war, lassen sich heute durch eine Arzneimitteltherapie ambulant durchführen. Diese Erfolge gilt es fortzuschreiben. Lebensqualität und Selbstständigkeit für alle Altersstufen in einem bezahlbaren Gesundheitswesen sind die Ziele, die wir als Mediziner mit allen Akteuren im Gesundheitswesen gemeinsam erreichen müssen. Wenn uns der Gesundheitsfonds dabei hilft - dann ist es gut - wenn er durch Kostendruck, Fusionen oder fragwürdige Marketingausgaben der Kassen die Versorgung verschlechtert - dann stehen wir vor der nächsten Gesundheitsreform.

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Diabetes.DE

Wir erlebten 2008 nicht nur wie die Strukturen in unserem Gesundheitssystem umgewälzt wurden, sondern auch entscheidende Veränderungen unserer wissenschaftlichen und professionellen Standes- und Fachgesellschaften sowie der Patientenorganisationen. Nach dem Vorbild "Diabetes UK", unserem britischen Nachbarn, initiierte die Deutsche Diabetes-Gesellschaft (DDG) zusammen mit dem Verband der Diabetesberatungs- und Schulungsberufe in Deutschland e. V. (VDBD) und wichtigen Patientenorganisationen einen Prozess, welcher die Schaffung einer gesundheitspolitisch und klinisch relevanten sowie wissenschaftlich bedeutsamen und schlagkräftigen Diabetes-Gesamtorganisation namens Diabetes.DE anstrebt. Am 13. Oktober 2008 wurde, beginnend mit den Mitgliedern der DDG und dem VDBD, unterstützt von der Deutschen Diabetes-Stiftung (DDS), Diabetes.DE gegründet. Diabetes.DE wird mit Beginn des Jahres 2009 mit einer Geschäftstelle in Berlin aktiv. Die Ziele von Diabetes.DE sind Bündelung der Kompetenzen in der Diabetologie zum Wohle der Patienten, allen eine Heimat bieten, in deren Leben Diabetes eine Rolle spielt, und Förderung der Forschung und des Forschungstransfers in Klinik und Praxis. Mit dieser Neustrukturierung der bis dato sehr zersplitterten "Diabetes-Landschaft" soll unter aktiver Einbindung einer möglichst großen Zahl von Menschen mit Diabetes das Leitmotiv von Diabetes.DE "Wissen schafft Gesundheit" mit Leben erfüllt werden.

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NAFDM

Das Nationale Aktionsforum Diabetes mellitus (NAFDM) konzentrierte sich im Jahr 2008 maßgeblich auf die Ausarbeitung eines Eckpunktepapiers aus den 3 Bereichen Prävention, Forschung und Versorgung und Versorgungsforschung als Grundlage für einen Nationalen Aktionsplan Diabetes. Der zweite Entwurf des Eckpunktepapiers wurde bei der 43. Jahrestagung der Deutschen Diabetes-Gesellschaft vom 30.4.-2.5.2008 in München präsentiert. Auf der Basis dieses Eckpunktepapiers soll zusammen mit dem Bundesministerium für Gesundheit und vielen anderen Gesundheitsanbietern ein evidenzbasierter, konzentrierter Nationaler Aktionsplan (NAP) erstellt werden. Detaillierte Ausführungen zu den vorgeschlagenen Zielen und Maßnahmen können als PDF-Datei unter www.nafdm.de/publikationen abgerufen werden.

Die Veröffentlichung dieses Eckpunktepapiers führte sowohl auf fachlicher als auch auf gesundheitspolitischer Ebene zu kontroversen Diskussionen, welche teilweise auch in den Medien aufgegriffen wurden. Vor dem Hintergrund der bereits oben genannten Umstrukturierungen in der deutschen Diabetologie sind die Verantwortlichkeiten für die weitere Ausarbeitung des Nationalen Aktionsplans Diabetes zum jetzigen Zeitpunkt aber ungeklärt.

Um eine schlagkräftige Diabetesgesellschaft aufzubauen, die wissenschaftliche und professionelle sowie die Belange der Patienten adäquat vertritt, braucht es noch Zeit und Energie. Am Ende entsteht eine politische Kraft, aber nur durch die Mitgliedschaft einer großen Anzahl von Betroffenen und Patienten. Das zeigen verschiedene europäische Vorbilder. Um dahin zu kommen ist noch ein Meinungsbildungsprozess notwendig, den wir vielleicht 2009 schaffen können - die Diabetologie in Deutschland hat das unbedingt nötig.

Dr. med. Peter Schwarz, Dresden