Psychiatr Prax 2008; 35(8): 411-412
DOI: 10.1055/s-0028-1104637
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Euthanasie und Psychiatrie

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Publication Date:
18 November 2008 (online)

 

In der Forschung zur Geschichte des Nationalsozialismus stellt die Psychiatrie, auch aufgrund ihres engen Bezugs zu gesellschaftlichen Entwicklungen, einen wesentlichen Aspekt dar. Seit bspw. der Krankenaktenbestand zur Tötung der psychiatrischen Patientinnen und Patienten im sog. Dritten Reich mit der Öffnung der Archive des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR Anfang der 90er-Jahre der Forschung zugänglich ist, begann man mit deren wissenschaftlicher Auswertung, die so interessante wie erschreckende Innenansichten zur Medizin des deutschen Unrechtsregimes ergaben. Das genannte Herausgeberteam gehörte zu den Forschern der ersten Stunde. Neben bereits erschienenen Publikationen dieser Arbeitsgruppe, deren Arbeit durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft und die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde unterstützt wurde, wurde auch die vorliegende publiziert, die 23 "Geschichten aus dem Leben" enthält, die auf Basis dieser Akten erarbeitet wurden. Ein eindringliches Geleitwort bringt der Leserschaft den Inhalt dieser Thematik näher, eine mehrteilige Einführung erläutert die Methodik der einschlägigen Forschung. Im Hauptteil werden die Opfer im Sinne einer "personalen Würdigung" in den historischen Kontext der deutschen Anstaltspsychiatrie und der sog. nationalsozialistischen "Euthanasie" gestellt. Die 23 individuellen Beispiele unterschiedlichster geografischer Herkunft aus dem ehemaligen Reichsgebiet erheben keinen Anspruch auf Repräsentativität, stehen jedoch auch symbolisch für die mehr als 70 000 psychisch Kranken und geistig Behinderten, die allein 1940/41 von deutschen Ärztinnen und Ärzten als "lebensunwertes Leben" in sechs hierfür errichteten Anstalten ermordet wurden. Die Leserschaft erfährt u.a. vom Schicksal der Patientin Gerda N. und ihrer Behandlung in der Heidelberger Universitätsklinik sowie in der Privatklinik Kennenburg, Esslingen, oder von dem jüdischen Heidelberger B. Oppenheimer, seinen Aufenthalten in Kork und der evangelischen Anstalt Stetten im Remstal. Auch die außergewöhnlich detaillierte und lebensnahe Schilderung des Schicksals des Schumachermeisters Martin Bader, Patient in Tübingen und Schussenried, bleibt nach der Lektüre deutlich in Erinnerung. Diese Patienten wurden in Grafeneck ermordet. Die biografischen Darstellungen sind eindrücklich und bedrückend zugleich. Der Versuch, quantitative Ergebnisse in nachvollziehbare Geschichte zu übersetzen, ist gelungen. Auch weil hierüber ein Einbezug emotionaler Aspekte der Bearbeitung dieses Kapitels der Psychiatrie unterstützt wird, ist diesem Buch eine breite Leserschaft zu wünschen.

Thomas Müller, Ravensburg/Ulm

Email: th.mueller@zfp-weissenau.de

Fuchs P, Rotzoll M, Müller U, Richter P, Hohendorf G (Hrsg). Das Vergessen der Vernichtung ist Teil der Vernichtung selbst - Lebensgeschichten von Opfern der nationalsozialistischen "Euthanasie". Göttingen: Wallstein, 2007, 392S., geb., 29,90 €. ISBN 978-3-8353-0146-2