Frauenheilkunde up2date 2009; 3(3): 197-210
DOI: 10.1055/s-0028-1098936
Geburtshilfe und Perinatalmedizin

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Die regelwidrige Geburtsdauer

W.  Stein, G.  Emons
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Publication Date:
29 June 2009 (online)

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Einleitung

Die spontane vaginale Entbindung ohne geburtshilfliche Intervention stellt für viele Schwangere ein wichtiges Ziel dar. Der Geburtsvorgang als ein komplexes mehrdimensionales Geschehen ist außerordentlich facettenreich. Die alleinige Fokussierung auf die Geburtsdauer und die Gleichsetzung vermeintlicher oberer Zeitgrenzen – wie beispielsweise ein über 2 Stunden vollständiger Muttermundsbefund – mit einer Indikation zur Geburtsbeendigung bedeutet einerseits eine unzulässige Vereinfachung und andererseits eine unnötige Pathologisierung des Geburtsgeschehens.

Die gegenwärtig allgemein benutzten Normwerte für die Geburtsdauer gehen auf grundlegende Arbeiten von Friedman vor über 50 Jahren zurück [1]. Durch die Einteilung in Phasen und die Angabe von Normwerten für die Dauer der einzelnen Geburtsabschnitte konnten protrahierte Verläufe definiert werden, und es gelang die Zuordnung unterschiedlicher Phasen zu entsprechenden Pathologien.

Die Wahl der Muttermundsweite als wesentliches Kriterium zur Beurteilung des Geburtsverlaufs und die Aufstellung rein statistisch begründeter Obergrenzen zur Geburtsdauer berücksichtigte allerdings die natürliche Variabilität von Geburtsverläufen nur unzureichend, und es erwuchs die Gefahr einer reflexhaften Einordnung von Geburtsverläufen als behandlungsbedürftige Pathologie allein anhand ihrer zeitlichen Dauer.

Die Geburtsdauer ist nur dann von Bedeutung, wenn sich aus ihr Konsequenzen für die Gebärende oder das Neugeborene ergeben.

Die eigentliche Frage geburtshilflicher Begleitung und Handelns darf somit nicht primär auf die Geburtsdauer und die sich daraus vermeintlich ergebenden therapeutischen Konsequenzen abheben, sondern sie muss vorrangig Bezug auf die Schwangere und ihr ungeborenes Kind nehmen.

Von den übergeordneten Zielen der minimalen Morbidität (und der maximalen Zufriedenheit) für die Schwangere und ihr ungeborenes Kind her muss geprüft werden, inwieweit die Geburtsdauer als ein alleiniges Kriterium überhaupt ein geeigneter Surrogatparameter für maternale und neonatale Morbidität darstellen kann.

Folgende Fragen sollen hier beantwortet werden:

Kann die Geburtsdauer zuverlässig gemessen werden? Wie lauten die rein statistisch festgelegten oberen Normwerte? Gelten diese Normwerte für alle Frauen in gleichem Maße oder müssen Subgruppen gebildet werden? Zeigen Frauen und Neugeborene mit längeren Geburtsdauern eine höhere Morbidität? Wenn ja, lassen sich eindeutige Zeitgrenzen definieren? Welche Bedeutung haben Maßnahmen zur Verkürzung der Geburtsdauer? Wie lauten Empfehlungen bei einem protrahierten Geburtsverlauf und welchen Handlungsspielraum weisen sie auf?