Praxis Handreha 2025; 06(01): 35-38
DOI: 10.1055/a-2411-6051
Aus der Praxis – für die Praxis

Psychosoziale Auswirkungen von Ruhigstellung, Schonhaltung und Ausweichbewegung

Annika Abend
 

Ausweichbewegung, Ruhigstellung und Schonhaltung sind natürliche Reaktionen des Körpers auf Schmerz und Verletzungen. Es handelt sich dabei um Schutzmechanismen, um weitere Schäden zu verhindern und den Heilungsprozess zu unterstützen. Bestehen solche Bewegungsmuster aber über einen längeren Zeitraum, kann das auch psychologische Folgen haben und einen negativen Einfluss auf die Lebensqualität und Leistungsfähigkeit nehmen.

Definition und Ursachen

Ruhigstellung: Damit ist die bewusste oder unbewusste Immobilisation eines bestimmten Körperteils gemeint, um Schmerzen zu vermeiden oder eine Verletzung auszuheilen. Die Ruhigstellung erfolgt meist durch Verbände, Schienen oder Gipsverbände.

Schonhaltung: Die Schonhaltung bezeichnet eine unnatürliche Körperhaltung oder -bewegung, die eingenommen wird, um Schmerzen zu vermeiden. Häufig erfolgt sie reflexartig und wird nicht bewusst wahrgenommen.

Ausweichbewegung: Ausweichbewegungen treten auf, wenn der Körper versucht, eine bestimmte Bewegung zu umgehen, die Schmerzen verursachen könnte. Sie sind häufig bei alltäglichen Bewegungen zu beobachten, z. B. beim Gehen oder Heben.

Die Ursachen für diese Bewegungsmuster sind vielfältig und reichen von akuten Verletzungen über chronische Schmerzen bis hin zu psychischen Einflüssen, z. B. der Angst vor Schmerzen.


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Physische Auswirkungen

Im Alltag

Im Alltag können Ruhigstellung, Schonhaltung und Ausweichbewegungen zu langfristigen Veränderungen des Bewegungsapparats führen. Die häufigsten physiologischen Folgen umfassen Muskeldysbalancen und eine verringerte Gelenkbeweglichkeit. Auch das Nervensystem verändert sich, denn durch die Reduktion der Bewegung erhält das zentrale Nervensystem und somit das Gehirn weniger sensorische Informationen, was wiederum das Körperbewusstsein beeinträchtigt. Langfristig können sich durch diese Veränderungen Fehlhaltungen und -belastungen entwickeln, die den Bewegungsapparat zusätzlich beeinträchtigen und das Risiko weiterer Verletzungen erhöhen.


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Beim Sport

Beim Sport kommt es häufig zu Verletzungen und Schmerzen. Schutzmechanismen wie Ruhigstellung, Schonhaltung und Ausweichbewegungen spielen bei der Reaktion auf Schmerzen eine zentrale Rolle. (Leistungs-)Sportler*innen sind oft besonders anfällig für die negativen Folgen dieser Bewegungsmuster, da die körperlichen Anforderungen beim Sport höher sind als bei Alltagsbewegungen und die körperlichen Leistungen stark von Beweglichkeit, Kraft und Koordination abhängen. Die negativen Folgen von Ruhigstellung, Schonhaltung und Ausweichbewegungen wirken sich auf die Körper von (Leistungs-)Sportler*innen genauso aus wie bei Nichtsportler*innen: Selbst nach der Ausheilung einer Verletzung können asymmetrische Bewegungsmuster durch eine Schonhaltung begünstigt werden. Das fördert wiederum Muskeldysbalancen, die das Risiko für Überlastungsverletzungen und andere Beschwerden erhöhen.

Häufig wird angenommen, dass Ruhigstellung und Ausweichbewegung die Verletzungsheilung fördern. Wenn betroffene Bereiche jedoch zu lange geschont werden, kann sich der Heilungsprozess aufgrund mangelnder Durchblutung und eingeschränkter Stoffwechselaktivität verzögern: Abfall- und Stoffwechselendprodukte werden nur ungenügend abtransportiert und Nährstoffe zur Zellregeneration fehlen. Langfristig besteht für Sportler*innen die Gefahr, dass Schonhaltungen und Ausweichbewegungen zu dauerhaften Bewegungsmustern werden, was eine Rückkehr zum vollen Leistungsniveau erschwert und zu chronischen Beschwerden führt.


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Psychosoziale Auswirkungen und Schmerzverarbeitung

Der psychologische Aspekt spielt eine bedeutende Rolle bei der Entstehung und Aufrechterhaltung von Schonhaltungen und Ausweichbewegungen. Schmerzen und die Angst davor verstärken das Bedürfnis, die verursachenden Körperregionen zu schonen. Dadurch besteht das Risiko, dass Patient*innen eine Vermeidungsstrategie entwickeln: Sie vermeiden die natürlichen Bewegungen selbst dann noch, wenn diese keine Schmerzen mehr verursachen. Die dadurch bedingte anhaltende Muskelspannung signalisiert dem Gehirn eine dauerhafte Belastung, was die Aktivität im Sympathikus des Gehirns und damit die Ausschüttung des Hormons Cortisol ständig erhöht. Dieser Zustand beeinträchtigt das psychische Wohlbefinden und erhöht die Schmerzempfindlichkeit. Ein Teufelskreis, denn dadurch wird die Schonhaltungen unbewusst weiter aufrechterhalten.

Die Aufrechterhaltung von Schonhaltungen und Ausweichbewegungen trägt gleichzeitig zur Ausbildung eines sogenannten Schmerzgedächtnisses bei. Dabei verknüpft das Gehirn Schmerzen immer stärker mit bestimmten Bewegungen, was dazu führen kann, dass sich der Schmerz chronifiziert, obwohl die Verletzung bereits verheilt ist. Das Risiko für die Entwicklung eines Schmerzgedächtnisses besteht, wenn sich die Schonhaltung länger als notwendig (über die Schonung des verletzten Areals hinaus) manifestiert und chronische (>3 Monate) Haltungs- und Bewegungsänderungen eintreten. Das Gehirn speichert dann die Bewegungs- und Haltungsstrategien und greift in ähnlichen Situationen darauf zurück [4] ([Abb. 1]).

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Abb. 1 1 Um dauerhafte Schonhaltungen und damit die Chronifizierung von Schmerzen zu vermeiden, ist es wichtig, dass Patient*innen in bewusster und therapeutisch sinnvoller Bewegung bleiben. (© Racle Fotodesign/stock. adobe.com)

Emotionale Folgen

Eine Verletzung oder chronische Schmerzen lösen häufig Angst aus, besonders vor erneuten Schmerzen oder einer Verschlechterung des Zustands. Diese Angst kann dazu führen, dass Patient*innen bestimmte Bewegungen vermeiden oder Angst vor alltäglichen Aktivitäten entwickeln. Beim Sport können sich dadurch deutliche Leistungsabfälle zeigen, da die Angst das Vertrauen in die eigene Fähigkeit schwächt und Bewegungen unsicherer ausgeführt werden. Die Einschränkung der Mobilität kann Gefühle der Frustration und Hilflosigkeit auslösen, besonders wenn Fortschritte im Heilungsprozess ausbleiben oder dieser langsamer als erwartet voranschreitet. Das führt bei vielen Patient*innen zu einer negativen Selbsteinschätzung und der Überzeugung, dem Schmerz ausgeliefert zu sein. Im Alltag kann das zu einem Verlust an Lebensqualität führen und das Risiko für depressive Verstimmungen erhöhen. Gleichzeitig beeinflusst die psychische Verfassung auch die Schmerzwahrnehmung [3]. Emotionale Belastungen wie Angst, Stress oder Depressionen können dazu führen, dass Schmerzen intensiver wahrgenommen werden.

Die Fähigkeit, sich frei bewegen und den eigenen Körper kontrollieren zu können, ist eng mit dem Selbstvertrauen verbunden. Durch Ruhigstellung und Schonhaltungen können Patient*innen das Vertrauen in ihre körperliche Leistungsfähigkeit verlieren. Durch die Einschränkungen beim Sport, aber auch bei alltäglichen Tätigkeiten erleben sie zunehmend ein Gefühl von Kontrollverlust. Hält dieser Verlust an Selbstwirksamkeit an, wird auch die Bereitschaft schwächer, sich aktiv am Heilungsprozess zu beteiligen.

Soziale Folgen

Bei komplexeren Ruhigstellungen oder schweren Verletzungen sind Patient*innen häufig auf die Hilfe von Familie, Freundeskreis oder medizinischem Personal angewiesen. Diese Abhängigkeit kann das Gefühl von Selbstständigkeit und Unabhängigkeit schwächen und das Selbstwertgefühl beeinträchtigen. Gerade für Menschen, die ihr Leben selbstständig bewältigen, kann diese Situation das Gefühl von Verlust der Eigenständigkeit auslösen. Das beeinflusst auch familiäre und partnerschaftliche Beziehungen, da Partner*innen oder Familienangehörige oft viel Verantwortung übernehmen, die das Gleichgewicht der Beziehung verändern kann. Der Druck, sich um die kranke Person kümmern zu müssen, kann außerdem zu Stress und Konflikten in der Familie führen.

Aufgrund von Schonhaltungen und Ausweichbewegungen schränken viele Patient*innen zudem ihre sozialen Aktivitäten ein. Aktivitäten wie Sport, Treffen mit Freunden oder Familienausflüge werden vermieden, um körperliche Beschwerden zu umgehen. Dieser Rückzug aus dem sozialen Leben führt häufig zu Isolation und kann das Wohlbefinden nachhaltig beeinträchtigen ([Abb. 2]). Einige Patient*innen, besonders aus dem Leistungssport, empfinden ihre Verletzungen oder Erkrankung als Schwäche und vermeiden es, mit anderen Menschen darüber zu sprechen, was das Gefühl von Isolation noch verstärkt. Gleichzeitig kann die reale Stigmatisierung, die in unserer Gesellschaft gegenüber „Kranken“ und „Schwachen“ besteht, das Bedürfnis von Patient*innen verstärken, sich zurückzuziehen und soziale Interaktionen zu minimieren, was das Risiko für psychische Probleme wie Depressionen erhöht.

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Abb. 2 Bewegung und Sport in der Gruppe unterstützen die soziale Bewältigung von Verletzungen. (© Robert Kneschke/stock.adobe.com)

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Bewältigungsstrategien und Unterstützung

Ein bewusster Umgang mit Schmerzen und Bewegungseinschränkungen kann die psychischen Folgen mindern [2]. Psychologische Unterstützung hilft dabei, negative Denkmuster zu erkennen und zu durchbrechen. Eine Verhaltenstherapie kann darauf abzielen, Ängste vor Bewegungen abzubauen, das Vertrauen in den eigenen Körper wiederzugewinnen und eine realistische Einschätzung der individuellen Fähigkeiten zu erhalten. Im Rahmen einer solchen Psychotherapie kann auch eine geeignete Sportart, unter Berücksichtigung der jeweils gegebenen Kontraindikationen, empfohlen werden. Beim Sport können Athlet*innen nach einer Verletzung durch die Unterstützung und Ermutigung anderer Sportler*innen profitieren.

Yoga oder Achtsamkeitstraining unterstützen diesen Prozess und helfen Patient*innen, wieder ein positives Verhältnis zu ihrem Körper aufzubauen. Techniken wie progressive Muskelentspannung, Atemübungen oder Meditation unterstützen den Umgang mit Schmerzen und können dazu beitragen, diese besser zu bewältigen. Diese Techniken helfen, Anspannungen zu lösen, die durch Schonhaltung und emotionale Belastung verstärkt werden, und fördern eine positive psychische Einstellung gegenüber dem Heilungsprozess [1].

Die Unterstützung durch die Familie, den Freundeskreis oder eine Selbsthilfegruppe kann ebenfalls dazu beitragen, mit den sozialen und psychischen Folgen von Schmerzen und Einschränkungen besser umzugehen und die soziale Isolation zu reduzieren. Der Austausch mit anderen Menschen, die ähnliche Probleme haben, ist oft besonders wertvoll, da er Patient*innen zeigt, dass sie mit ihren Ängsten und Sorgen nicht alleine sind.

Rehabilitative Maßnahmen zur Prävention

Um die negativen Folgen von Ruhigstellung, Schonhaltung und Ausweichbewegungen beim Sport zu vermeiden, ist eine umfassende und gezielte Rehabilitation von entscheidender Bedeutung. Eine frühzeitige und kontrollierte Mobilisation ist der wichtigste Ansatz der modernen Sportrehabilitation: Die Muskulatur wird aktiviert und die Gelenke, vor allem deren umgebenden Bandstrukturen und Knorpel, möglichst mobil gehalten. Es geht aber auch um eine Bewegungsschulung, damit Patient*innen lernen, ihre Bewegungen bewusst auszuführen. Dabei lernen sie anhand von speziellen Techniken, Ausweichbewegungen abzubauen und sich bewusst auf die Koordination und Tiefensensibilität (Propriozeption) zu konzentrieren. Das Üben dieser Techniken verbessert die Stabilität und das Vertrauen in die eigene Beweglichkeit. Bei diesen Übungen werden auch Spiegel eingesetzt, damit die Patient*innen ihre Bewegungen sofort reflektieren und korrigieren können, mit Fotos und Videos werden die Übungen dokumentiert, um das Training zu unterstützen.

Während einer Rehabilitation wird das Training stufenweise an den Heilungsprozess und die individuellen Möglichkeiten der Patient*innen angepasst, wodurch Überlastungen und erneute Verletzungen vermieden werden. Athlet*innen können so die Belastungen für ihren Sport ebenfalls in kleinen Schritten wieder steigern. Sportpsycholog*innen und Physiotherapeut*innen arbeiten während einer Reha-Maßnahme eng zusammen, um die Bewegungsangst von Patient*innen zu reduzieren. Zur Förderung eines symmetrischen Muskelaufbaus sollte im Anschluss ein umfassendes Ganzkörpertraining durchgeführt werden, das auch Rumpfstabilität, Beweglichkeit und Gleichgewicht umfasst. Dadurch lassen sich muskuläre Dysbalancen korrigieren und der gesamte Bewegungsapparat wird als funktionelle Einheit gestärkt.


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Maßnahmen zur Vermeidung von langfristigen Schäden

  • Physiotherapie ist eine der wichtigsten Maßnahmen, um die Beweglichkeit zu fördern und die Muskulatur zu stärken. Eine gezielte Mobilisation hilft, die Gelenke beweglich zu halten und die Muskelkraft wiederherzustellen.

  • Schmerz ist ein zentraler Faktor bei Schonhaltungen und Ausweichbewegungen. Ein effektives Schmerzmanagement, ergänzt durch psychologische Unterstützung, kann helfen, Vermeidungsverhalten zu reduzieren und das Vertrauen in den eigenen Körper zu stärken.

  • Besonders beim Sport und nach Verletzungen ist es hilfreich, die Körperwahrnehmung und Tiefensensibilität (Propriozeption) zu trainieren. Dadurch lernen Patient*innen, Bewegungen präziser wahrzunehmen und die Haltung zu korrigieren.

  • Die Aktivierung der betroffenen Körperregionen in einem frühen Stadium der Rehabilitation (wenn von medizinischer Seite empfohlen) kann die Gefahr von Muskelatrophien und verringerter Gelenkbeweglichkeit minimieren.


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Autorin

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Annika Abend
ist Physiotherapeutin, Manualtherapeutin und zertifizierte Handtherapeutin der Akademie für Handrehabilitation, Weiterbildungen in MLD, FDM und CMD, und arbeitet als fachliche Leitung in einer Berliner Praxis mit Schwerpunkt auf die obere Extremität.

Interessenkonflikte

Die Autorin gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.


Korrespondenzadresse

Annika Abend
HLO Hand- und Physiotherapie GmbH, Argentinische Allee 40
14163 Berlin
Deutschland   

Publikationsverlauf

Artikel online veröffentlicht:
15. Januar 2025

© 2025. Thieme. All rights reserved.

Georg Thieme Verlag
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany


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Annika Abend
ist Physiotherapeutin, Manualtherapeutin und zertifizierte Handtherapeutin der Akademie für Handrehabilitation, Weiterbildungen in MLD, FDM und CMD, und arbeitet als fachliche Leitung in einer Berliner Praxis mit Schwerpunkt auf die obere Extremität.
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Abb. 1 1 Um dauerhafte Schonhaltungen und damit die Chronifizierung von Schmerzen zu vermeiden, ist es wichtig, dass Patient*innen in bewusster und therapeutisch sinnvoller Bewegung bleiben. (© Racle Fotodesign/stock. adobe.com)
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Abb. 2 Bewegung und Sport in der Gruppe unterstützen die soziale Bewältigung von Verletzungen. (© Robert Kneschke/stock.adobe.com)