NOTARZT
DOI: 10.1055/a-2333-5373
Übersicht

Erkenntnisse aus europäischen Paramedic-Systemen zum prähospitalen Einsatz von Notärzten

Evidence on Physicians in Prehospital Critical Care from European Paramedic Systems
Peter Gretenkort
1   Simulations- und Notfallakademie, HELIOS Klinikum Krefeld, Krefeld, Deutschland (Ringgold ID: RIN27664)
2   Arbeitsgruppe Strukturfragen, Bundesvereinigung der Arbeitsgemeinschaften der Notärzte Deutschlands BAND e.V., Berlin, Deutschland
3   Arbeitsgruppe Strukturfragen, Deutsche Gesellschaft für Notfallmedizin DGfNM e.V., Berlin, Deutschland
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Ulf Harding
4   Zentrale Notaufnahme, Klinikum Wolfsburg, Wolfsburg, Deutschland (Ringgold ID: RIN37088)
2   Arbeitsgruppe Strukturfragen, Bundesvereinigung der Arbeitsgemeinschaften der Notärzte Deutschlands BAND e.V., Berlin, Deutschland
3   Arbeitsgruppe Strukturfragen, Deutsche Gesellschaft für Notfallmedizin DGfNM e.V., Berlin, Deutschland
,
Sebastian Wirtz
5   Anästhesiologie, Asklepios Klinik Barmbek, Hamburg, Deutschland (Ringgold ID: RIN38169)
3   Arbeitsgruppe Strukturfragen, Deutsche Gesellschaft für Notfallmedizin DGfNM e.V., Berlin, Deutschland
,
Peter Sefrin
6   Ehem. Leiter der Sektion für präklinische Notfallmedizin, Universitätsklinikum Würzburg, Würzburg, Deutschland (Ringgold ID: RIN27207)
2   Arbeitsgruppe Strukturfragen, Bundesvereinigung der Arbeitsgemeinschaften der Notärzte Deutschlands BAND e.V., Berlin, Deutschland
3   Arbeitsgruppe Strukturfragen, Deutsche Gesellschaft für Notfallmedizin DGfNM e.V., Berlin, Deutschland
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Thomas Jakob
7   Klinik für Anästhesiologie, operative Intensivmedizin, Notfallmedizin und Schmerztherapie, Universitätsklinikum OWL der Universität Bielefeld, Campus Klinikum Bielefeld, Bielefeld, Deutschland
2   Arbeitsgruppe Strukturfragen, Bundesvereinigung der Arbeitsgemeinschaften der Notärzte Deutschlands BAND e.V., Berlin, Deutschland
3   Arbeitsgruppe Strukturfragen, Deutsche Gesellschaft für Notfallmedizin DGfNM e.V., Berlin, Deutschland
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Florian Reifferscheid
8   Klinik für Anästhesiologie und Operative Intensivmedizin, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Kiel, Kiel, Deutschland (Ringgold ID: RIN15056)
9   Fachbereich Medizin, DRF Stiftung Luftrettung gAG, Filderstadt, Deutschland
2   Arbeitsgruppe Strukturfragen, Bundesvereinigung der Arbeitsgemeinschaften der Notärzte Deutschlands BAND e.V., Berlin, Deutschland
3   Arbeitsgruppe Strukturfragen, Deutsche Gesellschaft für Notfallmedizin DGfNM e.V., Berlin, Deutschland
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Zusammenfassung

In den Paramedic-Systemen des Vereinigten Königreichs, der Niederlande und Skandinaviens gibt es häufig die Möglichkeit, Prozesse und Ergebnisse der Notfallversorgung ohne und mit notärztlicher Unterstützung in einer Region miteinander zu vergleichen. Vorteile einer notärztlichen Präsenz am Einsatzort werden dort bei der Durchführung hochinvasiver Maßnahmen (z. B. Einleitung einer Notfallnarkose) oder bei der Behandlung hochkomplexer Fallsituationen (z. B. bei Polytrauma) erkannt, ebenso bei Entscheidungen am Lebensende unter Wertung ethischer Aspekte. In Regionen, wo aus strukturellen Gründen ein notarztgestütztes Team nicht immer kurzfristig an den Einsatzort gelangen kann, kommen die Autoren vergleichender Studien vielfach zur Empfehlung einer Standortverdichtung und Ausweitung der Notarzt-Disposition.


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Abstract

In the emergency medical services of the United Kingdom, the Netherlands, or Scandinavia, the opportunity for a comparison between paramedic teams and physician enhanced teams can be found frequently. The presence of a prehospital emergency physician has been identified as favourable for highly invasive tasks (e.g. induction of anaesthesia) or highly complex situations (e.g. multiple trauma) as well as for ethically sound end-of-life decisions. For regions without rapid access of a physician enhanced team, authors of comparing studies are often recommending the expansion of emergency physicians’ locations and hours.


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Einleitung

Der Rettungsdienst in Deutschland und einigen Nachbarländern wird seit den 1970er Jahren durch ein flächendeckendes Notarztsystem geprägt. In anderen Ländern Europas entwickelten sich die Rettungsdienste von Beginn an zu Paramedic-Systemen ohne Notärzte. In den vergangenen Jahrzehnten ist in diesen Ländern – parallel mit der Ausweitung notfallmedizinischer Therapie- und Logistikkonzepte sowie mit Ergebnissen zum Patienten-Outcome – eine zunehmende Einbindung von Notärzten zu verzeichnen. Ein evidenzbasierter Vergleich der Systeme hinsichtlich ihrer Effektivität und Effizienz ist aufgrund wissenschaftlich-methodischer Probleme einerseits und aufgrund teils erheblicher geografischer und demografischer Unterschiede andererseits nicht zu erwarten. Dennoch ist die Einnahme alternativer Blickwinkel bei der Betrachtung der Funktionalität verschiedener Rettungsdienstsysteme sinnvoll. In dieser Übersichtsarbeit soll daher in Ergänzung früherer Publikationen unserer Arbeitsgruppe [1] [2] dargestellt werden, wie sich die optionale notärztliche Unterstützung aus der Perspektive dieser Nachbarländer darstellt.


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Methodik

Grundlage dieser Übersicht ist eine systematische Literaturrecherche in PubMed zur Gegenüberstellung der Aufgaben von Notärzten und Paramedics im Vereinigten Königreichs (UK), den Niederlanden und den skandinavischen Ländern sowie zu vergleichenden Studien der beiden Behandlungsmodi (ohne und mit Notarzt) innerhalb und aus der Perspektive dieser Länder. Die Recherche beschränkte sich auf Arbeiten aus den letzten 10 Jahren, da sich gegenüber dem vorletzten Jahrzehnt einige grundlegende Veränderungen ergeben haben, und fokussiert auf die Themen Narkoseeinleitung und Atemwegsmanagement, Polytraumaversorgung und ethische Entscheidungen am Lebensende.


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Ergebnisse

Atemwegsmanagement und Narkose

Kernaussagen

In aktuellen Studien aus den beschriebenen Ländern werden für die endotracheale Intubation bei komatösen Patienten durch Paramedics unterschiedlich hohe Erfolgsraten angegeben. Die Narkoseeinleitung zur Intubation ist in fast allen Regionen ausschließlich Notärzten vorbehalten. In einigen Regionen von UK führen spezialisierte Paramedics die Intubation nach Narkoseeinleitung aus, wenn ein Notarzt im Team an ihrer Seite ist (Rollentausch im Team). Ausnahmen bestehen im Norden Finnlands sowie in Teilen von Schweden, wo Anästhesie-Pflegekräfte mit jahrelanger Erfahrung und fortgesetzter Routine in der klinischen Anästhesiologie auch Notfallnarkosen – je nach geltenden Vorgaben teils ohne, teils mit Einsatz von Muskelrelaxanzien – durchführen. Positive Ergebnisse aus diesen Regionen werden ausdrücklich unter den Vorbehalt gestellt, dass sie an die besondere Erfahrung der eingesetzten Mitarbeiter geknüpft sind und nicht in allgemeiner Form empfohlen werden können.

Im UK wird die Frage der Zuständigkeit für Narkose und endotracheale Intubation seit 2007 diskutiert, nachdem man erhebliche Defizite im Atemwegsmanagement vor allem bei Traumapatienten identifiziert hatte [3]. Noch in den Jahren 2012/2013 zeigten sich dieselben Defizite bei der Atemwegssicherung in einer exemplarischen Fallserie von Traumapatienten in der Metropolregion London. Von den 45 endotrachealen Intubationsversuchen durch Paramedics in einem Jahresverlauf – ganz überwiegend bei Patienten im Kreislaufstillstand – waren nur 64% erfolgreich. Bei 11% musste eine zuvor unerkannte ösophageale Tubusfehllage von einem nachträglich eingetroffenen Notarzt korrigiert werden [4].

Das College of Paramedics, die Berufskörperschaft der Paramedics im UK, reklamierte die Durchführung der prähospitalen Intubation als in seine Zuständigkeit fallend und definierte die erforderlichen Ausbildungs- und Durchführungsbedingungen für die selbstständige endotracheale Intubation von komatösen Notfallpatienten [5]. Für die komplexere Aufgabe einer Narkoseeinleitung zur Intubation und maschinellen Beatmung, die bei vielen Patienten für eine definitive Atemwegssicherung unverzichtbar ist, stellte der anästhesiologische Berufsverband wiederholt fest, dass eine Vermittlung der dazu nötigen Kompetenz an Paramedics auf dem geforderten fachärztlichen Niveau nicht möglich sei. Bis heute bleibt daher die Narkoseeinleitung zur Intubation im UK ausdrücklich Notärzten vorbehalten [6].

Diese werden allerdings im staatlichen Gesundheitssystem des Landes nicht flächendeckend vorgehalten. Lediglich in der Luftrettung, die im UK von gemeinnützigen, nichtstaatlichen Organisationen (Charities) betrieben wird, ist in den letzten Jahren die Besetzung mit Notärzten zum Standard geworden. In der Umgebung der Luftrettungsstandorte fahren diese notarztgestützten Teams auch bodengebunden zum Einsatzort [7] und können dadurch die Einsatzzeiten bis in die Nachtstunden ausdehnen. Von einem zunehmenden Anteil der Air Ambulance Charities werden nächtliche Primäreinsätze aus der Luft ermöglicht.

Die prähospitale Notfallnarkose wird von den Luftrettungsteams verbreitet durchgeführt, ist aber grundsätzlich in der Hand von Notärzten [8]. An einigen Luftrettungsstandorten in UK ist die Aufgabenverteilung zur Intubation nach Narkoseeinleitung im Team variabel, d. h. auch ein Specialist Paramedic in Critical Care (SPCC) kann diese Aufgabe übernehmen, allerdings nur in Anwesenheit des Notarztes. In einer publizierten Serie von 674 Patienten aus der Region East of England im Zeitraum 2015–2020 übernahm der SPCC diese Aufgabe bei 15% der Patienten. Diese Patienten wiesen einen weniger kritischen Schockindex sowie ein signifikant geringeres Körpergewicht auf gegenüber denen, die primär vom Notarzt intubiert wurden. Der First-Pass-Success (FPS) lag in beiden Gruppen identisch bei 90%. Nach dem 2. Versuch war die Erfolgsrate 98,7%, und mit dem 4. Versuch wurden auch die letzten beiden Patienten erfolgreich intubiert. Bei einem Teil der Patienten, bei denen mehr als ein Versuch notwendig war, wurden bei Folgeversuchen die Rollen getauscht (31% bei initialem Versuch durch den SPCC, 24% bei initialem Versuch durch Notärzte), jedoch in keinem der Fälle, wenn der Notarzt Anästhesist war [9].

In Lappland, einer gering besiedelten Region im Norden Finnlands, stehen Anästhesisten zur Besetzung des dort stationierten Helikopters – anders als an allen anderen Luftrettungsstandorten in den dichter besiedelten Regionen Finnlands – nicht zur Verfügung. An ihrer Stelle führen erfahrene und trainierte Fachpflegekräfte als Nurse Paramedics Notfallintubationen unter pharmakologischer Sedierung (standardmäßig ohne Einsatz von Muskelrelaxanzien) durch. In einer Fallserie von 51 prähospitalen Patienten, die von Nurse Paramedics intubiert wurden (davon 75% mit Narkose), konnte ein FPS von 72,5% (Second-Pass-Success (SPS) 94,1%) dokumentiert werden. In 6% der Fälle waren 1 bzw. 2 weitere Versuche bis zur definitiven Atemwegssicherung erforderlich. In der Mehrzahl der Fälle wurde aufgrund einer Hypotension Norepinephrin eingesetzt. Eine Aspiration unter der Intubation wurde bei keinem Patienten dokumentiert. Ein Patient wies am Folgetag radiologische Zeichen einer pulmonalen Aspiration auf. Die Autoren der Studie bewerten den Intubationserfolg als „relativ gut“ und diskutieren, dass die FPS- und SPS-Erfolgsraten möglicherweise durch den vorgegebenen Verzicht auf Muskelrelaxanzien eingeschränkt wurde [10].

Auch in Schweden ist ein Teil der unterstützenden Notfallteams in Luft- und Bodenrettung nicht mit Anästhesisten, sondern mit Fachpflegekräften besetzt, die prähospitale Narkosen ohne Notarzt durchführen. Der Atemwegs-Leitlinie der Skandinavischen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin zufolge soll die prähospitale Rapid Sequence Intubation (RSI) hinsichtlich der Medikamentenwahl und des Vorgehens nach gleichen Standards wie eine innerklinische Notfallintubation und ausschließlich von Personen auf fortgeschrittenem Trainingsniveau durchgeführt werden [11].

In einer prospektiven, multizentrischen Studie an 12 Standorten in Skandinavien, darunter 4 schwedische, die nicht mit Anästhesisten, sondern mit anästhesiologischen Fachpflegekräften besetzt sind, lag der FPS unter allen 2028 intubierten Patienten eines Jahresverlaufs insgesamt bei 84,5% (SPS: 95,9%). Die Erfolgsrate bei Durchführung einer RSI mit Muskelrelaxanzien lag im FPS mit 91,6% (SPS 98,0%) noch darüber. Anästhesiologische Pflegekräfte unterschieden sich in der abschließenden Misserfolgsrate (d. h. misslungene endotracheale Intubation trotz mehrerer Versuche) geringfügig, aber signifikant von den Anästhesisten (2,4 vs. 1,0%) [12].

In einer Subgruppenanalyse der Traumapatienten lag die FPS-Rate bei 88,4%. Von den Autoren wird dezidiert darauf hingewiesen, dass die in die Studie einbezogenen anästhesiologischen Fachpflegekräfte über ausgiebige Erfahrung und fortgesetzte Routine im Bereich der klinischen Anästhesie verfügen. 75% der Durchführenden verfügten über eine klinische Erfahrung aus über 2500 Intubationen. Es wird ausdrücklich zu bedenken gegeben, dass die in einem solchen System möglichen positiven Ergebnisse nicht auf Systeme übertragen werden können, in denen die Teams weniger Erfahrung im Atemwegsmanagement mitbringen [13].


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Polytraumaversorgung

Kernaussagen

Nach Studien aus den beschriebenen Nachbarländern bewirken notarztgestützte Systeme im Vergleich mit einer Behandlung durch Paramedics allein einen Überlebensvorteil bei Polytraumapatienten sowie ein besseres neurologisches Outcome beim SHT. Erkenntnisse zu Prozessqualität und Outcome wie auch ethische Überlegungen führen in mehreren Publikationen zu der Empfehlung, die bestehenden Möglichkeiten zur Einsatzunterstützung durch Notärzte auszuweiten.

Niederländische und britische Studien kommen bei dem Vergleich von statistisch zu erwartender und tatsächlich erzielter Überlebensrate bei Polytraumapatienten, die durch ein arztgeleitetes Helikopter-Team versorgt wurden, zu überraschend ähnlichen Ergebnissen. Es konnte gezeigt werden, dass pro 100 Einsätzen mit arztgeleiteter Versorgung 5,33 Patienten [14] bzw. 3,22 [15] und 3,96 Patienten [16] entgegen der statistischen Erwartung überlebten. In der Gruppe der Schwerstverletzten mit der geringsten Überlebenswahrscheinlichkeit überlebten sogar 15 Patienten pro 100 HEMS-Einsätzen entgegen der statistischen Erwartung [15].

Der Polytrauma-Leitlinie des britischen National Institute for Health Care and Excellence (NICE) zufolge soll eine Narkoseeinleitung zur endotrachealen Intubation und maschinellen Beatmung innerhalb von 45 min nach Alarm vorgenommen werden. Eine nahezu vollständige landesweite Übersicht aus 22 Luftrettungsdiensten zeigte anhand von Daten der Jahre 2017/2018 auf, dass die Narkoseeinleitung innerhalb von 45 min nur bei 25% aller prähospitalen Notfallnarkosen gelang. Die Autoren schließen aufgrund auffällig langer Dispositionszeiten auf einen größeren Anteil an primärer Untertriage und späterer Nachforderung von der Einsatzstelle mit potenziell vermeidbarer Zeitverzögerung. Sie empfehlen eine Beschleunigung der Dispositionsentscheidung, um eine zeitgerechte Narkoseeinleitung am Unfallort durch ein notarztgestütztes Team zu ermöglichen [7].

Ein präziser statistischer Vergleich der Mortalität aus UK-Registerdaten zwischen den beiden Versorgungsoptionen ohne bzw. mit Notarzt ist u. a. deshalb unmöglich, weil sich die Patientengruppen in der Verletzungsschwere unterscheiden. Darüber hinaus wird der Vergleich erschwert durch eine größere Zahl Schwerstverletzter, die nur unter ergänzenden notärztlichen Therapiemaßnahmen die Notaufnahme überhaupt lebend erreichen, gegenüber einer Dunkelziffer von prähospital verstorbenen Patienten, die im Traumaregister nicht erfasst werden [17].

Aus den Registerdaten wird ersichtlich, dass 70% der in den Notaufnahmen durchgeführten Intubationen innerhalb von 30 Minuten nach Ankunft vorgenommen werden. Die Autoren schlussfolgern, dass im derzeitigen System des britischen Rettungsdienstes mit überwiegender Versorgung durch Paramedics einem objektiv bestehenden Bedarf an prähospitaler Narkoseeinleitung und endotrachealer Intubation in der Frühphase der Traumaversorgung (entgegen der gültigen Polytrauma-Leitlinie) nicht entsprochen wird, und gehen davon aus, dass eine verbesserte Verfügbarkeit dieser notärztlichen Maßnahmen am Einsatzort zu einer Abnahme des Anteils der Patienten führt, die das Krankenhaus nicht lebend erreichen [18].

Daten des schottischen Traumaregisters aus einem mehrjährigen Zeitraum ergaben eine höhere statistische Überlebenswahrscheinlichkeit bei Versorgung durch ein notarztgestütztes Team, das in nur 5,4% der Einsätze eingebunden wurde. Die Autoren geben die ausdrückliche Empfehlung, die regionalen Möglichkeiten zur Disposition notarztgestützter Teams weiter auszubauen und bestehende zeitliche Einschränkungen bei der Besetzung der Einsatzmittel mit Notärzten zu reduzieren [19].

In Finnland wurden erste notarztbesetzte Helikopterstandorte im Jahr 2011 eingerichtet. Auf diese Weise war es möglich, das Outcome von Patienten mit schwerem Schädel-Hirn-Trauma aus mehrjährigen Zeiträumen vor und nach der Einführung von Notärzten miteinander zu vergleichen. Bei diesem Vergleich wurde das bessere neurologische Outcome nach Behandlung durch notarztgestützte Teams mit dem hohen Anteil an effektiver Atemwegssicherung – festgemacht an einer signifikant niedrigeren Rate an Hypoxie bei Ankunft in der Notaufnahme – korreliert. Die fehlende Präsenz eines Notarztes am Einsatzort wirkte sich als Variable einer Regressionsanalyse negativ auf die Überlebenswahrscheinlichkeit wie auch auf die Wahrscheinlichkeit eines guten neurologischen Outcomes aus [20] [21].

In einer norwegischen Studie wurden theoretische Überlegungen zum Ausbau der arztgestützten Luftrettung im Hinblick auf einen angenommenen Überlebensvorteil gegenüber einer Versorgung durch Paramedics allein angestellt. Dort stehen landesweit an 13 Standorten arztbesetzte Helikopter für erweiterte medizinische Notfallmaßnahmen zur Verfügung. Gesetzlich festgelegt ist eine Eintreffzeit von < 45 min bei 90% der Einwohner. Bei der gegebenen Standortverteilung werden 75% der Einsatzorte in einer Zeit von < 30 min erreicht. Die Reduktion der Eintreffzeit auf 10–15 min würde eine drastische Erhöhung der Standorte um ein Mehrfaches erfordern. Die entstehenden Kosten für die Ausweitung arztbesetzter Helikopter lassen sich aber nach Einschätzung der Autoren volkswirtschaftlich und ethisch-moralisch anhand gewonnener Lebensjahre (geringere Mortalität und Morbidität) begründen [22].


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Ethische Entscheidungen am Lebensende bei prähospitalen Notfällen

Kernaussagen

Ethisch begründete, von Standardvorgehen abweichende notärztliche Entscheidungen zur Nichteinleitung einer Wiederbelebung reduzieren sowohl unethische Maßnahmen am Lebensende als auch eine unnötige Belastung der Notaufnahmen und Intensivstationen.

Der Anteil der notarztunterstützten Rettungsdiensteinsätze 2018 in Kopenhagen betrug 12,1%. Etwas mehr als 10% dieser Einsätze waren Nachforderungen des Rettungsdienstes, bei denen neben technischen notärztlichen Skills in 1 von 8 Fällen auch nichttechnische Skills abgerufen wurden (darunter Teamleitung bei Reanimation, Entscheidung zum Behandlungsabbruch und Todesfeststellung) [23]. In Dänemark besteht inzwischen ein flächendeckendes bodengebundenes Notarztsystem sowie eine ebenfalls flächendeckende Luftrettung mit der Möglichkeit zu nächtlichen Primäreinsätzen, die in einem multimodalen Kontext zur Verbesserung der Überlebensrate nach prähospitalem Kreislaufstillstand beigetragen haben [24].

In der dänischen Stadt Odense wurde der Aspekt des Behandlungsabbruchs nach ärztlicher Entscheidung in einer mehrjährigen Fallserie von 1275 leblos aufgefundenen Patienten fokussiert. Bei 44 dieser Patienten (3,4%) wurde aufgrund ethischer Abwägung durch den Notarzt auf eine Reanimation verzichtet, während ein Paramedic-Team aufgrund der Behandlungsvorgaben eine Reanimation hätte einleiten müssen. Zu den Beweggründen für den Verzicht zählten die schlechte Prognose zur Lebensqualität sowie die begrenzte Lebenserwartung nach einer Wiederbelebung. In einem kleineren Teil war die Kenntnis des Patientenwillens ausschlaggebend. Die Autoren stellen heraus, dass durch die ethisch begründete ärztliche Entscheidung zur Nichteinleitung einer Wiederbelebung sowohl unethische Maßnahmen am Lebensende als auch eine unnötige Belastung der Notaufnahmen und Intensivstationen reduziert werden konnten [25].

Ähnlich bestätigte die Mehrheit aller 108 finnischen Notärzte (88% Rücklaufquote einer Befragung), dass sie regelmäßig in Pflegeheime gerufen werden und dort Patienten antreffen, die trotz eines fortgeschrittenen Krankheitszustandes keine valide Vorausverfügung für End-of-Life-Entscheidungen hatten. Entscheidungen zur Therapiebegrenzung sind nach Feststellung der Autoren ein wichtiger, wenn auch oft unsichtbarer Teil der notärztlichen Aufgaben in der finnischen Luftrettung. Notärzte treffen Entscheidungen zum Therapieverzicht oder zur Therapielimitierung bei fehlender Vorausverfügung nicht selten nach ethischer Abwägung auf dem Hintergrund von physiologischem Zustand des Patienten und prognostischer Einschätzung. Auch in Finnland wird gesehen, dass durch ethisch begründete notärztliche Entscheidungen zugunsten einer Therapierestriktion unnötige Leidensverlängerung und Belastungen für Patienten, Angehörige und das Gesundheitssystem vermieden werden können [26].


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Diskussion

Eine abschließende wissenschaftliche Evidenz zum Vergleich von Effektivität und Effizienz von Rettungssystemen ohne und mit Notarzt ist aus den vorgestellten Studien nicht abzuleiten. Es wurden vielmehr Publikationen, in denen Erkenntnisse aus der Perspektive der einzelnen Systeme heraus beschrieben werden, in narrativer Weise nebeneinandergestellt. Externe Vergleiche zwischen verschiedenen Ländern etwa zum Outcome nach Reanimation sind aufgrund komplexer Systemunterschiede mit differenzierten statistischen Methoden möglich, sofern die Daten einheitlich nach Utstein-Style dokumentiert wurden. Hierzu sei beispielsweise auf eine Modellierung unter Nutzung von Daten des Deutschen Reanimationsregisters und der britischen PARAMEDIC2-Studie verwiesen, die erhebliche kurz- und langfristige Überlebensvorteile im deutschen gegenüber dem britischen Rettungssystem aufzeigt [27].

Studien aus dem Rettungsdienst stellen lediglich Momentaufnahmen in einem sich dynamisch weiterentwickelnden System dar. Zu erkennen ist jedoch die fortgesetzte wissenschaftliche Beschäftigung in Paramedic-Ländern mit der Frage, ob die bis dato bestehende Einbindung von Notärzten in die prähospitale Notfallrettung ausreichend ist oder ausgebaut werden muss.

Ein Problem besteht darin, dass die eindeutige Disposition eines unterstützenden Notarztes durch die Leitstelle bei unklarer Schädigungsintensität und Dringlichkeit des Notfalls vielfach schwierig ist, sodass sich die Entscheidung auf dem schmalen Grat zwischen Unter- und Übertriage bewegt. Die Zuordnung der bestgeeigneten Ressource scheitert darüber hinaus nicht selten an geografischen und personellen Strukturvoraussetzungen.

Sichtbar wird auch, dass es sich bei der Qualifizierung von nicht ärztlichen Mitarbeitern für die erforderlichen technischen und nicht technischen Kompetenzen bei hochinvasiven und hochkomplexen Maßnahmen um jahre- oder jahrzehntelange Prozesse handelt. Der Bedarf an ärztlicher Expertise erschöpft sich nicht in der Beherrschung invasiver Maßnahmen, sondern erstreckt sich vor allem auf die Antizipation komplikativer Verläufe bei initial unkritisch erscheinender klinischer Symptomatik. In Deutschland können Notärzte nach mindestens 6-jähriger Ausbildung und mindestens 2-jähriger Weiterbildung in der Klinik gerade in der Differenzialdiagnose und in der entsprechend differenzierten Therapie Vorteile bieten.


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Fazit

Der Einsatz von Notärzten in den Rettungsdiensten der beschriebenen Nachbarländer wird aus dortiger Sicht zunehmend als unverzichtbar beschrieben, um hochinvasive und hochkomplexe Maßnahmen vorzunehmen. Lediglich in den wenigen Regionen, wo Notärzte gänzlich außer Reichweite sind, werden sehr erfahrene und spezialisierte Paramedics – typischerweise mit fachpflegerischem Hintergrund – mit speziellen Kompetenzen ausgestattet, um in solchen Fällen eine leitliniengerechte Versorgung ohne Notärzte sicherzustellen. Diese Kompetenzen unterscheiden sich in Voraussetzungen, Inhalt und Umfang von denjenigen, die derzeit im deutschen Rettungssystem erworben werden können. Sowohl in traditionellen Paramedic-Systemen als auch in Notarztsystemen ist ein abgewogenes Miteinander von Notarzt und Paramedics mit definierten Kompetenzen die beste Voraussetzung für ein effektives und effizientes Rettungssystem.


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Interessenkonflikt

Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.


Korrespondenzadresse

Dr. Peter Gretenkort
Simulations- und Notfallakademie, HELIOS Klinikum Krefeld
Lutherplatz 40 40
47805 Krefeld
Deutschland   

Publication History

Received: 06 March 2024

Accepted after revision: 26 May 2024

Article published online:
11 June 2024

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