CC BY-NC-ND 4.0 · Psychiatr Prax
DOI: 10.1055/a-2299-1800
Kritisches Essay

Regionale Gesamtversorgung von Menschen mit psychischen Erkrankungen – Chance für Transparenz und innovative Evaluation

Regional Comprehensive Care for People with Mental Disorders – An Opportunity for Transparency and Innovative Evaluation
Stefan Priebe
1   University of London, City, London, United Kingdom of Great Britain and Northern Ireland
,
Peter Brieger
2   Akademisches Lehrkrankenhaus der LMU, kbo-Isar-Anper-Klinikum Region München, Haar
› Author Affiliations
 

Zusammenfassung

Vor dem Hintergrund der Diskussion um eine regionale Gesamtversorgung psychisch kranker Menschen diskutiert der Aufsatz die Möglichkeit einer umfassenden, transparenten und sinnvollen Evaluation. Dazu werden Vorschläge zur Erfassung von Struktur, Prozessen und konkreten Ergebniskriterien dargestellt. Es sollen Daten erhoben werden, die für alle Ebenen einer Gesundheitsorganisation transparent und handlungsrelevant sind. Die vorgeschlagene Evaluation wäre innovativ, bedeutsam für einzelne Patienten, Behandlungseinheiten, Einrichtungen und ganze Regionen, und somit ein Ansatz für eine datengestützte andauernde Qualitätsverbesserung.


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Abstract

Against the background of the discussion about a comprehensive regional mental health care service, the essay discusses the possibility of a comprehensive, transparent and meaningful evaluation. Proposals for how structures, processes, and outcomes may be assessed are presented. We argue for collecting data that are transparent and actionable on all levels of care organisations. The suggested evaluation would be innovative, meaningful for individual patients, services, health care organisations and whole regions, and thus a way for a data-driven ongoing quality improvement.


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In dem Papier „Versorgung von Menschen mit psychischen Erkrankungen – jetzt ist die Zeit für eine grundsätzliche Verbesserung“ haben wir mit anderen Kollegen ein Modell für eine sektorenübergreifende regionale Gesamtversorgung skizziert und Schritte zu deren Umsetzung vorgeschlagen. Die Idee beinhaltet, dass letztlich ein Träger die gesamte regionale Versorgung übernimmt, was die klinische Effektivität der Versorgung erheblich verbessern könnte. Vor allem aber kann es angesichts des Fachkräftemangels auch eine Möglichkeit sein, vorhandene personelle Ressourcen flexibler und effizienter zu nutzen und attraktivere Arbeitsplätze mit neuen Rekrutierungsmöglichkeiten zu schaffen. Der Vorschlag ist an anderer Stelle ausführlicher beschrieben [1]. Eine solche regionale Gesamtversorgung hat verschiedene Vorteile. Ein wesentlicher Vorteil ist, dass sie die Möglichkeit zu einer umfassenden, transparenten und sinnvollen Evaluation eröffnet. Diese Evaluation ist keine Voraussetzung für eine regionale Gesamtversorgung, aber eine innovative Chance, die sich durch und in der regionalen Versorgung ergibt. Wie das aussehen kann, wird im Folgenden erklärt.

Evaluation bei umgrenzten und andauernden Behandlungen

Im gegenwärtigen Versorgungssystem lassen sich nur Behandlungsepisoden in einzelnen Behandlungseinrichtungen dokumentieren und evaluieren, aber nicht langfristige Verläufe über unterschiedliche Einrichtungen hinweg. Die Evaluation einer einzelnen Behandlungsepisode ist sinnvoll, wenn alle Patienten ein sehr ähnliches Gesundheitsproblem haben und eine gut definierte, vergleichbare und begrenzte Behandlung erhalten, wie z. B. eine Bypassoperation bei einem definierten Stadium der koronaren Herzerkrankung. Nach einem festgelegten Zeitraum lassen sich dann Behandlungserfolg und eventuelle unerwünschte Folgen erfassen und bewerten. Bei andauernden oder rezidivierenden Erkrankungen wie Diabetes, Bluthochdruck oder rheumatischen Störungen ist dies jedoch komplizierter. Inwieweit sich der Zustand eines Patienten mit solchen Erkrankungen während eines stationären Aufenthaltes verbessert hat, ist weniger relevant als der Erfolg der gesamten Versorgung des Patienten über einen längeren Zeitraum. Über längere Zeiträume können sich Patienten mit andauernden Erkrankungen in ihrem Zustand nicht endlos verbessern, das Ziel der Behandlung ist oft eher die Verhinderung von Verschlechterungen oder Rückfällen als eine Verbesserung, und die erreichte Lebensqualität kann wichtiger werden als Symptomschwankungen. All dies erschwert eine aussagefähige Evaluation.

In der Psychiatrie gibt es umgrenzte Behandlungen, die sich relativ einfach evaluieren lassen, wie z. B. eine Psychotherapie mit einer definierten Methode bei Patienten mit einem bestimmten Ausmaß depressiver Symptome. Die Mehrzahl der psychischen Erkrankungen sind jedoch eher anhaltend, in ihrem Schweregrad wechselnd oder zumindest potenziell wiederkehrend. Patienten werden in verschiedenen Einrichtungen behandelt, und das Zusammenspiel dieser Einrichtungen ist wesentlich für eine effektive Versorgung.


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Struktur und Prozesse

Eine regionale Gesamtversorgung eröffnet die Möglichkeit, sowohl umgrenzte therapeutische Interventionen als auch langfristige Behandlungen in verschiedenen Einrichtungen sinnvoll zu evaluieren.

Der Träger der Versorgung kann die Erfassung einheitlicher Indikatoren für Struktur, Prozesse und Ergebnisse der Versorgung für alle beteiligten Einrichtungen in der Region vorgeben. Die Strukturqualität – insbesondere die Anzahl und Qualifizierung der Mitarbeiter – aller beteiligten Einrichtungen und die Leistung der Gesamtversorgung lassen sich so überschauen.

In jeder Region in Deutschland lassen sich Daten über die Verteilung von Geschlecht, Alter und Einkommensverhältnisse der Gesamtbevölkerung und auch spezifische Daten über marginalisierte Gruppen wie Arbeitslose oder Flüchtlinge zusammenstellen. In einer regionalen Gesamtversorgung können die soziodemographischen Merkmale aller Patienten vollständig erfasst und in Beziehung gesetzt werden zu den entsprechenden Daten der Allgemeinbevölkerung oder bestimmter Gruppen. Ebenso lassen sich klinische Parameter wie die Dauer der Erkrankung, die bisherigen Behandlungen und die gegenwärtige Diagnose von allen Patienten dokumentieren. All diese Daten können Veränderungen der Versorgung in einer Region über die Zeit aufzeigen und verglichen werden mit anderen Regionen.

Behandlungen aller Patienten in einer Region können über verschiedene Einrichtungen und längere Zeiträume hinweg auch in Details, wie Medikation, psychotherapeutischen Interventionen, sozialen Integrationshilfen und Zwangsmaßnahmen, dokumentiert und evaluiert werden.


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Ergebniskriterien

Kritische Ereignisse wie Suizide und Todesfälle anderer Ursachen, Selbsttötungsversuche, schwerwiegende Selbstverletzungen und Gewalttaten von Patienten sollten als Ergebniskriterien fortlaufend erfasst werden. Andere Ergebniskriterien sollten in regelmäßigen Abständen und zu kritischen Zeitpunkten, wie bei der Entlassung aus stationärer Versorgung, erhoben werden. Zumindest am Anfang sollten dies nur wenige zentrale Kriterien sein. Wenn die Erhebung dieser Kriterien gelingt und sich als sinnvoll erweist, kann die Datenerhebung schrittweise erweitert werden. Ist die Erhebung am Anfang schon sehr umfangreich, besteht das Risiko, dass das ganze Unterfangen scheitert und völlig neu wieder aufgebaut werden muss, während die Erfahrungen in einem schrittweisen Aufbau helfen, das Vorgehen anzupassen und ggf. zu verändern.

Hier ist ein exemplarischer Vorschlag für wenige Kriterien, die wesentliche Aspekte der Behandlungsergebnisse abbilden, deren Erhebung aber weder für die Patienten selbst noch für das Personal überfordernd sein sollte:

  • Die objektive soziale Situation kann entweder der Routinedokumentation entnommen oder speziell erfragt werden. Zum Beispiel fasst der Index SIX die Wohnsituation (keine Wohnung, beschütztes Wohnen, unabhängiges Wohnen), die Arbeitssituation (keine Arbeit, beschützte Arbeit, reguläre Arbeit) und die Lebenssituation (alleinlebend oder mit Partner/Familie, keine sozialen Kontakte oder zumindest ein sozialer Kontakt in der letzten Woche) übersichtlich zusammen. SIX ist frei verfügbar [2].

  • Das klinische Personal kann die aktuelle Erkrankungsschwere auf eine einzige Frage hin global einschätzen, zum Beispiel auf der Skala der Symptomschwere (CGI-S) [3].

  • Und schließlich können Patienten selbst ihre subjektive Lebensqualität in Form von Zufriedenheit mit zentralen Lebensbereichen (wie seelischer und körperlicher Gesundheit, Arbeit, Familie, sozialen Kontakten) und ihre Behandlungszufriedenheit beurteilen. Für Lebensqualität und Behandlungszufriedenheit sind zum Beispiel auf der Skala DIALOG + insgesamt nur 11 Fragen erforderlich, die in transparenter Weise die Zufriedenheit mit jeweils einem Lebensbereich oder Behandlungsaspekt wiedergeben. DIALOG + ist frei verfügbar [4] [5] [6].

Die Behandlungszufriedenheit der Patienten zu einem einzelnen Zeitpunkt, also in einer Querschnittserhebung, hat immer einen Aussagewert. Inwieweit Patienten mit der Behandlung zufrieden sind, ist eine relevante Information und nicht unbedingt davon abhängig, ob sie zuvor mehr oder weniger zufrieden waren. Für andere Ergebniskriterien wie die objektive Lebenssituation, die Krankheitsschwere und die subjektive Lebensqualität gilt dies aber nicht. Für diese Kriterien gilt zu jedem einzelnen Zeitpunkt nur, dass die Krankheitsschwere hoch und die Lebenssituation und -qualität aller Patienten im Mittel schlecht sein sollten, um nachzuweisen, dass die Einrichtungen auch wirklich die bedürftigen Patienten behandeln. Über die Erfolge einer Versorgung sagen diese Kriterien nur etwas aus, wenn Verläufe von Patienten über die Zeit, also im Längsschnitt, analysiert werden.


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Evaluation für alle Ebenen

Die genannten Kriterien sollten soweit möglich für alle Patienten erhoben werden. Man kann sie je nach Interesse erweitern, zum Beispiel durch Symptomskalen. Zusätzliche Kriterien muss man aber nicht unbedingt für alle Patienten erheben. Für viele Evaluationsfragen ist es oft hinreichend, eine kleine, aber gut selektierte Zufallsstichprobe oder eine definierte klinische Subgruppe, z. B. mit einer bestimmten Diagnose, zu befragen. Dies erfordert jedoch eine zusätzliche Organisationsleistung in den beteiligten Einrichtungen.

Wenn Datenerhebungen in Versorgungseinrichtungen ausschließlich der Dokumentation und Überprüfung dienen, werden sie für das klinische Personal zu einer zusätzlichen Belastung. Auch Patienten tendieren nach einer Weile zur sogenannten Survey-Fatigue und haben wenig Motivation, regelmäßig Fragebögen auszufüllen, die für sie selbst keinen Vorteil bringen. So bleiben die Daten in der Regel unvollständig und fehlerbehaftet.

Wichtig ist deswegen, Daten zu erheben, die für alle Beteiligten selbst von Interesse sind und auf unterschiedlichen Ebenen der Versorgung konstruktiv genutzt werden können. Alle der wenigen oben genannten Ergebniskriterien erfüllen diese Anforderung. Sie können relevant sein für die Behandlung einzelner Patienten, für Behandlungseinheiten, für ganze Einrichtungen und auch für die Ebene der regionalen Versorgung insgesamt. Behandler erhalten für einzelne Patienten unterschiedliche Indikatoren des Behandlungsverlaufs, und auch Patienten selbst können nachvollziehen, wie sich ihr Zustand im Verlauf der Behandlung verändert hat. Behandlungseinheiten und Einrichtungen können anhand der Daten jederzeit sehen, inwieweit sich Patienten in einzelnen Bereichen verbessern, ob unterschiedliche klinische Arbeitsformen und Behandlungen mit anderen Ergebnissen verbunden sind und wo eventuell Probleme bleiben. Die Informationen ermöglichen eine reflektive Praxis, die sich auf differenzierte Ergebnisse stützt. Und schließlich entsteht auch auf regionaler Ebene eine Transparenz aller Aktivitäten und Ergebnisse der Versorgung.

Um einen solchen durchgreifenden Effekt zu erzielen, müssen die Daten nicht nur erhoben, sondern elektronisch erfasst und zeitnah, fortlaufend und in anschaulicher Weise auf alle Ebenen zurückgemeldet werden (z. B. in Form von dashboards). Das erfordert informationstechnische Lösungen, die auch dem Datenschutz Rechnung tragen, und vor allem initial einen gewissen Organisationsaufwand. Idealerweise sollte der Träger der regionalen Versorgung zum Aufbau einer solchen Evaluation verpflichtet werden.

Nach einer Aufbauphase werden alle genannten Informationen zu Routinedaten, die im Prinzip für die Arbeit aller Beteiligten an der Versorgung, einschließlich der Patienten und Angehörigen, relevant sind. Wenn das gelingt, ist die Evaluation nicht eine zusätzliche bürokratische Belastung, sondern ein Weg zur Transparenz und Verbesserung der Versorgung, der für alle Beteiligten von Nutzen ist.


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Daten und Qualitätsverbesserung

Die aufgeführten Indikatoren von Struktur, Prozessen und Ergebnissen ermöglichen eine zusammenfassende Beurteilung der Qualität der Versorgung. Um diese dann aber nicht nur aufzuzeigen, sondern auch zu verbessern, bedarf es weiterer Schritte.

Empirische Forschung hat gezeigt, dass die Rückmeldung von Behandlungsergebnissen allein noch keinen Einfluss auf die Effektivität psychiatrischer Versorgung hat [7]. Um die Versorgung tatsächlich zu verbessern, müssen Einrichtungen über Prozesse und Mechanismen verfügen, die das Verhalten der Behandler nachhaltig beeinflussen [8]. Das kann in Form eines formalisierten Qualitätsmanagements, Audits oder auch informell und variabel geschehen. Die geschilderte Evaluation schafft eine zuvor nicht realisierbare Transparenz auf allen Ebenen, ist aber für eine echte Verbesserung der Versorgung somit nur ein erster Schritt. Dieser Schritt wäre allerdings nicht nur für die psychiatrische Versorgung, sondern für die gesamte medizinische Versorgung insgesamt in Deutschland innovativ und der Ausgangspunkt für eine effektive Verbesserung der Versorgungsqualität für einzelne Patienten, Behandlungseinheiten, Einrichtungen und ganze Regionen.


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Interessenkonflikt

Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.


Korrespondenzadresse

Prof. Peter Brieger
Kbo-Isar-Amper-Klinikum
Akademisches Lehrkrankenhaus der LMU
Vockestr. 72
85540 Haar
Deutschland   

Publication History

Received: 17 February 2024

Accepted: 03 April 2024

Article published online:
15 May 2024

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