PSYCH up2date 2024; 18(03): 191-192
DOI: 10.1055/a-2250-4785
Leserbrief

Leserbrief zu: Ketamininfusionstherapie zur Behandlung von Depressionen – Schritt für Schritt

Contributor(s):
Udo Bonnet

Mit großem Interesse habe ich die Übersichtsarbeit von Müller-Dahlhaus et al. über die „Ketamininfusionstherapie zur Behandlung von Depressionen – Schritt für Schritt“ in der PSYCH up2date gelesen [1]. Die Arbeit enthält viele sehr brauchbare Tipps, meiner Meinung nach jedoch auch einige Aussagen und Empfehlungen, die wissenschaftlich besser belegt oder andernfalls relativiert betrachtet werden sollten, wenn dieser Artikel nebst der Darstellung einer möglichen Arbeitsanweisung beabsichtigen sollte einen Standard vorzuschlagen:

  1. Zur Notwendigkeit von einem Perfusor (S. 468): Warum reicht alternativ bei Anwendung der für 40 bis 45 Minuten passenden Tropfenrate ein normales Infusionsbesteck nicht aus?

  2. Aussage auf S. 465: „Höhere Dosen als 0,5mg/kgKG oder schnelle intravenöse Bolusgaben, die zu einer deutlichen Sedierung des Patienten führen, scheinen keinen antidepressiven Effekt zu haben“. Hier wäre ein solider Literaturbeleg sehr hilfreich.

  3. Bezüglich der absoluten Kontraindikationen (S. 466):

    • „Schlaganfall oder Herzinfarkt <12 Monaten?“ Bei solchen akuten Ereignissen sind diese absoluten Kontraindikationen sofort nachvollziehbar – jedoch nicht bei prä- oder post-akut aufgetretenen therapieresistenten schweren Depressionen, die noch 6 Monate nach dem Ereignis persistieren oder neu aufgetreten sind, insbesondere wenn das akute kardio- oder cerebro-vaskuläre Ereignis sonst wenig Folgeschäden hinterlassen hat. Diese Rubrik sollte um Patienten mit Gefäßaneurysmen und Eingriffen im Bereich der oberen Atemwege ergänzt werden. Im Beipackzettel von Ketamin ist übrigens nicht von „absoluten Kontraindikationen“, sondern von „besonderer Vorsicht“ die Rede, wenn Ketamin i.v. bei den Patienten dieser Rubrik angewendet werden soll [2].

  4. Bezüglich der relativen Kontraindikationen (S. 466):

    • „Posttraumatische Belastungsstörung“ (PTSD): obwohl einige Fallberichte und eine Metaanalyse [3] von einer Reaktivierung von beispielsweise Hyperarousal oder Intrusionen insbesondere bei Patienten mit kürzlich erworbener PTSD berichten, zeigen weitere Metaanalysen, dass die Anwendung von Ketamin auch bei der PTSD bisher doch insgesamt relativ gut toleriert wurde [4] [5]. Die Möglichkeit der Provokation/Reaktivierung oder Verstärkung von PTSD-Symptomen könnte bei der Aufklärung über die möglichen Wirkungen und Nebenwirkungen der Ketamin-Infusion antizipiert und während der begleiteten Infusion beim tatsächlichen Auftreten dann im Sinne eines spontanen „Expositionstrainings“ psychotherapeutisch „quasi-in vivo“ bearbeitet werden (in Annäherung an die „Ketamin-assistierte Psychotherapie“ [6]). Auch die Aussage später auf derselben Seite („Komorbide Angst- und Traumafolgestörungen sind relative Kontraindikationen“) wäre begründet und literaturbelegt noch besser nachvollziehbar und informativer.

    • „Alkoholabhängigkeit mit früherem Konsum (<1 Jahr abstinent)“: Auch hier gibt es Evidenz, dass eine Ketaminbehandlung bei (auch kürzer abstinenten!) Alkoholabhängigen eher hilfreich wäre [7] [8].

  5. S. 470: „Bei guter Verträglichkeit können intravenöse Ketaminbehandlungen bei der dritten Infusion auch im teilstationären Setting erfolgen.“ Auch EKTs werden z.T. ausschließlich tagesklinisch (oder auch ambulant) durchgeführt - warum also nicht ebenfalls subnarkotische Ketamin-Infusionen unter Beachtung der üblichen Aufklärungs- und Sicherheitsregeln auch bezüglich der erforderlichen Nachbeobachtung und eventuellen Abholung durch eine Begleitperson?

  6. Folgende konkrete Zeitangaben in den Empfehlungen zur „Vorbereitung“ (S. 467) würden ebenfalls besser nachvollzogen werden können, wenn sie literaturbelegt wären: „Der Patient wird darauf hingewiesen, dass er nüchtern bleiben muss:

    • 6 Stunden vor Ketamingabe: Nahrungs- und Nikotinkarenz

    • 2 Stunden vor Ketamingabe: Flüssigkeitskarenz

    • 2 Stunden vor Ketamingabe: letzte Medikamentengabe“

Demnach dürfte eine subnarkotische Ketamininfusion nicht durchgeführt werden, wenn diese Voraussetzungen nicht erfüllt wären. Wenn jedoch bezüglich subnarkotischer Ketamininfusionen kein klarer Beleg für diese Zeitvorgaben existieren sollte, wäre meiner Meinung nach ein „soll“ oder sogar „sollte“ auch in diesem Kontext angemessener als ein „muss“. Bei der intranasalen Anwendung von Ketamin werden übrigens deutlich kürzere Zeiten empfohlen [9].

Inzwischen zeigt die reichliche klinische Literatur über subnarkotische Ketamininfusionen (off label) in der Psychiatrie, dass dieses Verfahren gut tolerabel und ziemlich sicher ist. Eine aktuelle Metaanalyse zeigt sogar, dass bei Augmentation der antidepressiven Behandlung von therapieresistenten Depressionen subnarkotische Ketamin (Razemat)-Infusionen der intranasalen Anwendung von Esketamin nicht nur therapeutisch, sondern auch bezüglich der unerwünschten klinischen Ereignisse (ACE) signifikant überlegen war: die ACE-Rate der intravenösen Ketamin-Anwendung war auf dem Placebo-Niveau [10] (Dieses entspricht auch meinen praktischen Erfahrungen). Bekanntlich ist die therapeutische Breite von intravenösem narkotischem Ketamin ziemlich groß [11]. Auch deshalb kann mittlerweile durchaus angeregt werden, die Sicherheits- und Überwachungsregeln der subnarkotischen Ketamininfusion an die Rahmenbedingungen und Standards anzupassen, die in der Psychiatrie üblich und möglich sind, etwa analog den Sicherheits- und Überwachungsregeln bei intravenöser Sedierung mit Benzodiazepinen: nach der S2k-Leitlinie „Notfallpsychiatrie“ „muss ein medizierter und sedierter Patient angemessen überwacht werden (Überwachung von Atmung, Puls, Blutdruck, Vigilanz, Sauerstoffsättigung)“ (S. 152 in [12]). Wenn auch anästhesiologisch selten in dieser Indikation alleine angewendet, so kann z.B. auch Midazolam (keine Zulassung für psychiatrische Indikationen) zur intravenösen Narkoseinduktion verwendet werden [11].

Mein Fazit: intravenöse subnarkotische Ketamin- und Benzodiazepin-Behandlungen gehören zum psychiatrischen, narkotische Ketamin- und Benzodiazepin-Anwendungen selbstverständlich zum anästhesiologischen Armamentarium. Die jeweiligen Durchführungs-, Sicherheits- und Überwachungsregeln sollten unter Berücksichtigung der indikationsabhängig deutlich unterschiedlichen intravenösen Dosierungen/Applikationsdauern (z.B. [11], Table 1 in [13]) „setting-spezifisch“ differenziert werden.



Publication History

Article published online:
03 May 2024

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