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DOI: 10.1055/a-2249-6079
Erwartungen und Motive des arbeitsmedizinischen Nachwuchses: eine quantitative Befragung in fünf deutschen Akademien
Expectations And Motivations Of Young Occupational Medical Physicians: A Quantitative Survey Of Five German AcademiesZusammenfassung
Zielsetzung Die vorliegende Studie soll die Charakteristika angehender Arbeits- und Betriebsmediziner:innen abbilden sowie deren Erwartungen und Motive für den Beginn einer arbeitsmedizinischen Weiterbildung untersuchen. Damit wird eine Grundlage dafür geschaffen, die Attraktivität der präventiv ausgerichteten betriebsärztlichen Tätigkeit noch weiter zu erhöhen und einem Mangel an Arbeits- und Betriebsmediziner:innen entgegenzuwirken.
Methodik An fünf Standorten in Deutschland wurden angehende Arbeits- und Betriebsmediziner:innen zu ihren Erwartungen an die Arbeitsmedizin, zu ihren Motiven, eine Weiterbildung in der Arbeitsmedizin zu beginnen, und zu ihrer Einschätzung dieser Weiterbildung hinsichtlich der Qualität befragt. Die Befragung fand im Zeitraum von 2018 bis 2021 statt. Die erhobenen Daten wurden deskriptiv ausgewertet. Anhand einer Clusteranalyse wurden die Motive identifiziert, die Ärzt:innen zu einer arbeitsmedizinischen Weiterbildung bewegen.
Ergebnisse Von insgesamt 233 befragten Personen war der Großteil weiblich (68,5%) und im Mittel 43,1 Jahre alt (SD=7,9 Jahre). Die Response an der Sächsischen Landesärztekammer (SLÄK) lag bei 50% und die an den restlichen vier Akademien zwischen 18% und 23%. Die Clusteranalyse ergab vier verschiedene Motive: „Karriere & Interesse“, „Work & Life Balance“, „Selbstständigkeit“ und „Veränderungswunsch“. Zwei Drittel sprachen sich für eine stärkere Einbindung des Faches Arbeitsmedizin in das Medizinstudium aus.
Schlussfolgerung Die Ergebnisse zeigen, dass unterschiedliche Motive Ärzt:innen dazu bewegen, eine arbeitsmedizinische Weiterbildung anzustreben. Auf diese Motive sollte v. a. bei der Akquise von arbeitsmedizinischem Nachwuchs eingegangen werden.
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Abstract
Study aim The aim of this study was to describe the characteristics of future occupational physicians and to evaluate their expectations from and motivations for undertaking postgraduate medical education courses in occupational medicine. This will provide a basis for further increasing the attractiveness of occupational medicine as a discipline in preventive medicine and counteracting the shortage of occupational medical physicians.
Methods At five locations in Germany, physicians in postgraduate medical education courses in occupational medicine were asked about their expectations from occupational medicine, their reasons for starting postgraduate medical education courses, and their assessment of these courses. The survey took place between 2018 and 2021. The data were analysed descriptively, and a cluster analysis was applied to identify the types of motives for continuing postgraduate medical education courses in occupational medicine.
Results Of the 233 respondents, the majority were female (68.5%) and the mean age was 43.1 years (SD 7.9 years). The response at the State Chamber of Physicians of Saxony was 50% and at the remaining four academies was between 18% and 23%. The analysis revealed four different types of motives: “career & interest”, “work & life balance”, “self-employment” and “desire for change”. Two-thirds of the participants were in favour of a greater integration of occupational medicine into medical school curriculum.
Conclusions The results suggest that there are different motives that lead physicians to pursue continuing education in occupational medicine. These motives should be considered when recruiting young occupational physicians.
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Schlüsselwörter
Medizinische Weiterbildung - Arbeitsmedizin - Motive - Survey - Clusteranalyse - BerufswahlKey words
Medical education - Occupational medicine - Motives - Survey - Cluster analysis - Career choiceArtikel online veröffentlicht 2024Einleitung
Die Arbeitsmedizin ist eine wichtige Säule in der präventiven medizinischen Versorgung; nicht zuletzt angesichts aktueller Entwicklungen wie dem digitalen Wandel sowie der zunehmenden Verflechtung von Arbeit und Freizeit kommt der betrieblichen Prävention eine hohe Bedeutung zu [1]. Eventuell unzureichende Angebote in der arbeitsmedizinischen bzw. betriebsärztlichen Versorgung in Deutschland wurden in den letzten Jahren diskutiert [2] [3] [4]. Hinsichtlich dieses Diskurses stellt sich auch die Frage nach einer adäquaten Akquise des arbeitsmedizinischen Nachwuchses.
Bezüglich der arbeitsmedizinischen Weiterbildung ist zwischen der Weiterbildung zum Facharzt bzw. zur Fachärztin für Arbeitsmedizin und der Zusatzbezeichnung Betriebsmedizin zu unterscheiden. Im Jahr 2018 wurden in der Musterweiterbildungsordnung (die inzwischen weitgehend unverändert Eingang in die neuen Weiterbildungsordnungen aller Bundesländer gefunden hat) die Anrechnungsmöglichkeiten klinischer Fächer neben der Inneren Medizin für die Facharztausbildung Arbeitsmedizin erweitert [5]. Zudem wurde der Weg für den berufsbegleitenden Erwerb der Zusatzbezeichnung „Betriebsmedizin“ geebnet. Die Zusatzbezeichnung Betriebsmedizin können Ärzt:innen mit bereits abgeschlossener Facharztausbildung erwerben, indem sie neun Monate betriebsärztliche Tätigkeit und den Grundkurs Arbeitsmedizin absolvieren [6].
Es wurde bislang keine Studie in Deutschland zu den Motiven durchgeführt, die Ärzt:innen zu einer beruflichen Laufbahn in der Arbeits- bzw. Betriebsmedizin motivieren. Ziel der vorliegenden Studie ist daher die Untersuchung der Motive der Teilnehmenden arbeitsmedizinischer Weiterbildungskurse für die Aufnahme einer arbeitsmedizinischen Weiterbildung sowie deren Zufriedenheit mit der Weiterbildung, um Hinweise auf eine adäquate Akquise von Nachwuchsmediziner:innen abzuleiten. Weiterhin sollen die Rolle und Gestaltung der Arbeitsmedizin im Medizinstudium evaluiert werden, um Möglichkeiten der Attraktivitätssteigerung präventivmedizinischer Fächer bereits während des Studiums zu eruieren.
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Methodik
Stichprobe und Studiendesign
Die vorliegende Studie stellt die Basiserhebung einer geplanten Längsschnitterhebung dar und wurde von April 2018 (Standort Dresden) bzw. Januar 2021 (vier weitere Standorte, vgl. [Tab. 1]) bis einschließlich Dezember 2021 durchgeführt. Die Befragung wurde zunächst sachsen-, später deutschlandweit umgesetzt. An der Erhebung nahmen Teilnehmende arbeitsmedizinischer Kurse von fünf der neun arbeitsmedizinischen Akademien teil. Die Teilnehmenden der vier weiteren Akademien (Bayern, Berlin, Hessen, Nordrhein) konnten für die vorliegende Auswertung nicht berücksichtigt werden, da bis zu Beginn der Datenanalyse keine anonymisierten Teilnehmendenlisten vorlagen. Nach einer einjährigen Erhebungsphase von Januar bis Dezember 2021 wurde ein Stichprobenumfang von n=359 ausgefüllten Fragebögen (Online: n=256; Paper-Pencil: n=103) erreicht. Es wurden bei der Online-Befragung alle Datensätze ausgeschlossen, die unvollständig ausgefüllt waren (n=44), unstimmige bzw. widersprüchliche Antworten enthielten (n=22) oder doppelt bzw. mehrfach vorlagen (n=16). Bei der Paper-Pencil Befragung mussten hinsichtlich dieser Kriterien keine Datensätze ausgeschlossen werden. Nach Abschluss der Bearbeitung der Rohdaten wurden alle Datensätze (n=Online: n=174; Paper-Pencil: 103) zusammengeführt (n=277). Anschließend wurden alle Datensätze von Akademien mit einem Rücklauf von weniger als zehn Prozent sowie von Teilnehmenden an Akademien, für die aufgrund fehlender Rückmeldungen kein Rücklauf berechnet werden konnte, ausgeschlossen (n=233). Die Gesamtresponse an allen eingeschlossenen Akademien (Baden-Württemberg, Hamburg, Rheinland-Pfalz, Sachsen und Westfalen-Lippe) betrug 29%, die Response an der Sächsischen Landesärztekammer (SLÄK) betrug 50%, und die Response an den übrigen vier Akademien lag zwischen 18% und 23%. Die Follow-Up-Befragung soll voraussichtlich im Jahr 2024 beginnen mit weiteren, regelmäßigen Befragungen alle drei Jahre.
Merkmale |
Stichprobe n=233 (100%) |
---|---|
Geschlecht |
|
Frauen |
159 (68,2%) |
Männer |
73 (31,3%) |
Fehlend |
1 (0,4%) |
Alter Mittelwert (in Jahren) (SD) |
43,1 (7,9) |
Aktuelle Weiterbildungseinrichtung |
|
Bochum |
28 (12,0%) |
Dresden |
115 (49,4%) |
Hamburg/Lübeck |
23 (9,9%) |
Ulm/Stuttgart |
67 (28,8%) |
Aktueller Kurs |
|
Modul I (ehemals: A1) |
40 (17,2%) |
Modul II (ehem. A2) |
30 (12,9%) |
Modul III (ehem. B1) |
50 (21,5%) |
Modul IV (ehem. B2) |
27 (11,6%) |
Modul V (ehem. C1) |
34 (14,6%) |
Modul VI (ehem. C2) |
51 (21,9%) |
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Datenerhebung
Der Fragebogen wurde in Anlehnung an den Fragebogen von Enderle (2015) [4] erstellt und um eigene Fragen ergänzt. Der initial verwendete Fragebogen mit 31 Items wurde im Zuge der deutschlandweiten Ausweitung im Jahr 2021 um Fragen zur Digitalisierung, SARS-CoV-2 und zur neuen Weiterbildungsverordnung erweitert und von der „Paper-Pencil“- in eine Online-Version übertragen. Die Fragen zu Digitalisierung und SARS-CoV-2 wurden separat von Efimov et al. (2023) [8] ausgewertet. An der arbeitsmedizinischen Akademie in Dresden fand die Befragung in Paper-Pencil-Form statt, an den restlichen Akademien wurde sie online umgesetzt. Der Fragebogen beinhaltete sowohl Fragen zu dem aktuellen arbeitsmedizinischen Kurs (siehe Online-Tabelle B1 im Anhang) als auch zu soziodemographischen und berufsbezogenen Informationen wie z. B. Anzahl der Berufsjahre (siehe Online-Tab. B2/B3). Auch der Umfang der aktuellen Erwerbstätigkeit wurde erfragt sowie geplante berufliche Veränderungen in den kommenden zwei Jahren (siehe Online-Tab. B4). Bezüglich der Weiterbildung wurden die Teilnehmenden nach dem Hauptgrund der Weiterbildung, dem Weiterbildungsziel, dem geplanten Zeitanteil arbeitsmedizinischer Tätigkeit und den Erwartungen an die Arbeitsmedizin befragt (siehe Online-Tab. B5). Zudem wurde erhoben, inwiefern das Fach Arbeitsmedizin stärker in das Medizinstudium einbezogen werden sollte (Online-Tab. B5). Zusätzlich wurde gefragt, wie viele Stunden pro Woche und am Wochenende Zeit für Erholung zur Verfügung steht (Online-Tab. B6). Im Rahmen der neuen (Muster-)Weiterbildungsordnung wurden die Teilnehmenden gebeten einzuschätzen, inwieweit die Anpassungen der neuen Weiterbildungsordnung den Zugang zur Facharztprüfung/Prüfung zur Zusatzbezeichnung erleichtern (Online-Tab. B7). Zusätzlich konnten in einem Freitextfeld Verbesserungsvorschläge zu Förderungsmöglichkeiten der arbeitsmedizinischen Facharztweiterbildung gemacht werden.
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Datenanalyse
Die erhobenen quantitativen Daten wurden deskriptiv ausgewertet. Eine hierarchische (agglomerative) Clusteranalyse wurde mithilfe des Ward-Verfahrens für binäre Variablen durchgeführt, um verschiedene Motive für den Beginn einer arbeitsmedizinischen Weiterbildung zu typologisieren. Nicht-binäre Variablen (Alter, Zeit für Nebentätigkeit neben dem Hauptberuf, Anzahl der Berufsjahre als Ärzt:in, Zeit für Entspannung täglich und am Wochenende) wurden vorab dichotomisiert. Die folgenden Variablen wurden für die Clusteranalyse verwendet: Alter, Geschlecht, Familienstand, Kinder, Zeit für Tätigkeit neben dem Hauptberuf, abgeschlossene Facharztausbildung, „angestellt in einem überbetrieblichen Dienst“, Anzahl der Berufsjahre als Ärzt:in, geplante berufliche Veränderungen, Hauptgründe für den Beginn einer arbeitsmedizinischen Weiterbildung, Erwartungen an die Arbeitsmedizin, angestrebtes Weiterbildungsziel sowie Zeit für Entspannung täglich und am Wochenende. Das Ellbogenkriterium wurde genutzt, um die am besten geeignete Anzahl an Clustern zu identifizieren. Nach Identifikation der Cluster wurden mit Hilfe von χ2-Tests Unterschiede zwischen den Clustern identifiziert (Online-Tab. Anhang A1). Die statistische Auswertung erfolgte mit IBM SPSS Statistics (Version 26).
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Ergebnisse
Deskriptive Charakteristika
In die Analysen konnten n=233 Fragebögen einbezogen werden. Da sich die Charakteristika der Dresdner Teilnehmenden nicht substanziell von denen der Gesamtstichprobe unterschieden und auch die sonstigen Studienergebnisse vergleichbar waren, wurde auf eine Subanalyse der Dresdner Stichprobe verzichtet. Der Großteil der befragten Personen war weiblich (68,5%) und das Alter lag im Mittel bei 43,1 Jahren (SD=7,9 Jahre, siehe [Tab. 1]). Die Teilnehmenden waren durchschnittlich 11,2 Jahre als Ärzt:innen tätig (SD=7,4 Jahre), zu 60% vollzeiterwerbstätig und strebten zu 73,4% die Fachgebietsbezeichnung Arbeitsmedizin an. 49% haben am arbeitsmedizinischen Weiterbildungskurs am Standort Dresden teilgenommen.
Mit 51 Nennungen (21,9%) nahmen die meisten Teilnehmenden an Kursteil VI (ehemals C2) teil ([Tab. 1]). 92,7% waren bereits arbeitsmedizinisch tätig, und zwei Drittel strebten eine arbeitsmedizinische Tätigkeit mit einem Zeitanteil von mindestens 75% an ([Abb. 1]).
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Clusteranalyse zur Identifikation von Motiven für den Beginn einer arbeitsmedizinischen Weiterbildung
Von 233 Teilnehmenden konnten n=211 in die Clusteranalyse einbezogen werden. Die Clusteranalyse identifizierte vier Cluster von Motiven: „Work & Life Balance“, „Karriere & Interesse“, „Selbstständigkeit“ und „Veränderungswunsch“, denen 74, 61, 41 und 35 Teilnehmende zugeordnet werden konnten ([Tab. 2]). Im Folgenden werden die einzelnen Cluster näher skizziert (s. auch Online-[Tab. 1] im Anhang).
Variablen |
Cluster |
|||
---|---|---|---|---|
Work & Life Balance (n=74) |
Karriere & Interesse (n=61) |
Selbstständigkeit (n=41) |
Veränderungswunsch (n=35) |
|
Geschlecht |
||||
Frauen |
70 (94,6%) |
40 (65,6%) |
20 (48,8%) |
19 (54,3%) |
Männer |
4 (5,4%) |
21 (34,4%) |
21 (51,2%) |
16 (45,7%) |
Alter |
||||
Mittelwert in Jahren (SD) |
41,4 (5,6) |
38,8 (6,5) |
43,4 (8,3) |
49,6 (5,7) |
Familienstand |
||||
Feste Partnerschaft |
72 (97,3%) |
54 (88,5%) |
40 (97,6%) |
32 (91,4%) |
Keine feste Partnerschaft |
2 (2,7%) |
7 (11,5%) |
1 (2,4%) |
3 (8,6%) |
Kinder |
||||
Ja |
72 (97,3%) |
19 (31,1%) |
34 (82,9%) |
33 (94,3%) |
Nein |
2 (2,7%) |
42 (68,9%) |
7 (17,1%) |
2 (5,7%) |
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Cluster 1: Work & Life Balance
35% der 211 Teilnehmenden wurden dem Cluster „Work & Life Balance“ zugeordnet. Personen aus diesem Cluster hatten am seltensten eine bereits abgeschlossene Facharztausbildung (39,2%), arbeiteten am häufigsten bei einem überbetrieblichen Dienst (56,8%), waren zum Großteil weiblich (94,6%) und hatten am häufigsten Kinder (97,3%). Jene Teilnehmenden zeichneten sich v. a. durch Erwartungen an die Arbeitsmedizin aus, die auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf abzielen. Sie gaben am häufigsten an, neben dem Hauptberuf zusätzlich mehr als 20 Stunden pro Woche (Care-)Arbeit zu verrichten wie bspw. Kinderbetreuung.
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Cluster 2: Karriere & Interesse
Das Cluster „Karriere & Interesse“ repräsentiert 29% der Teilnehmenden, die in die Clusteranalyse einbezogen wurden. Jenes Cluster umfasst v. a. die jungen (Altersdurchschnitt: 38,8 Jahre) kinderlosen Teilnehmenden (68,9%) mit wenig Berufserfahrung. Circa 77% waren weniger als neun Jahre (Median) als Ärzt:in tätig. Diese nannten am häufigsten karriere- und interessenbezogene Erwartungen wie bspw. „gute Aufstiegsmöglichkeiten“ und „Behandlung eines breiten Spektrums an Krankheiten“. Jene Teilnehmenden gaben am häufigsten an, ihr Einkommen erhöhen zu wollen. Zudem wählten sie am häufigsten das inhaltliche Interesse als Hauptgrund für den Beginn einer arbeitsmedizinischen Weiterbildung.
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Cluster 3: Selbstständigkeit
Das Cluster „Selbstständigkeit“ umfasst 19% der Teilnehmenden und hat den größten Anteil an männlichen Teilnehmern (54,3%) sowie an Teilnehmenden mit bereits abgeschlossener Facharztausbildung (90,2%). Personen dieses Clusters wollten eigenverantwortlich und selbstständig arbeitsmedizinisch tätig sein. Jene waren am seltensten bei einem überbetrieblichen Dienst tätig und gaben am häufigsten an, eine arbeitsmedizinische Tätigkeit in der eigenen Praxis (46,3%) anzustreben. Zudem wählten sie am häufigsten das Weiterbildungsziel „Betriebsmedizin“. In den Freitextantworten der Teilnehmenden aus diesem Cluster wurde häufig der Wunsch nach Selbstständigkeit geäußert wie bspw. „eigenverantwortliches Arbeiten als angestellter Betriebsarzt ohne direkte Vorgesetzte“ oder „nach Praxisabgabe Teilzeittätigkeit mit hoher Selbstorganisation und Eigeninitiative“.
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Cluster 4: Veränderungswunsch
Von 211 Teilnehmenden sind 17% dem Cluster „Veränderungswunsch“ zuzuordnen. Jene hatten den höchsten Altersdurchschnitt von 49,6 Jahren (SD 5,7) und die längste Berufserfahrung. Circa 89% der Teilnehmenden war länger als neun Jahre als Ärzt:in tätig. Für sie stellte der Wunsch nach Veränderung die Hauptmotivation für den Beginn einer arbeitsmedizinischen Weiterbildung dar. Dieser Wunsch betrifft v. a. die ärztliche Tätigkeit an sich. Dies zeigt sich darin, dass jene als Hauptgrund für den Beginn einer arbeitsmedizinischen Tätigkeit prozentual am häufigsten die Frustration in der bisherigen ärztlichen Tätigkeit wählten (51,4%). Verglichen mit Teilnehmenden aus anderen Clustern gaben Teilnehmende aus diesem Cluster am seltensten den Wunsch an, ihr Einkommen erhöhen zu wollen.
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Beurteilung des Faches Arbeitsmedizin im Medizinstudium & der arbeitsmedizinischen Weiterbildung
Etwa zwei Drittel (69%) der Befragten empfanden Umfang und Rolle der Arbeitsmedizin im Medizinstudium als zu gering bzw. zu wenig präsent und sprachen sich für eine stärkere Einbindung des Faches Arbeitsmedizin in der akademischen Ausbildung aus. In den Freitextantworten wurde auch angemerkt, dass das Fach Arbeitsmedizin im Studium praxisnäher gestaltet werden könnte, z. B. durch arbeitsmedizinische Exkursionen. Die Vorteile der Arbeitsmedizin, wie eine gute Vereinbarkeit von Beruf und Familie, sollten stärker hervorgehoben werden. Bezüglich der Frage, inwieweit die Anpassungen im Zuge der neuen (Muster-) Weiterbildungsordnung den Teilnehmenden bei dem Zugang zur Facharztprüfung geholfen haben, zeigte sich kein einheitliches Meinungsbild. Etwa 40% der Befragten waren der Ansicht, dass die Anpassungen hilfreich waren. Demgegenüber erlebten aber auch insgesamt 60% die Anpassungen als (eher) nicht oder nur teilweise hilfreich. 48 Teilnehmende machten Verbesserungsvorschläge zu der arbeitsmedizinischen Weiterbildung. Am häufigsten wurden eine finanzielle Förderung der Weiterbildung, weniger Präsenzanteile und die freie Wahl der Akademien für die Teilnahme an den einzelnen Kursteilen gewünscht. Inhaltliche Änderungswünsche waren z. B. Fortbildungen zu aktuellen klinischen Themen.
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Diskussion
Die vorliegende Studie vermittelt einen ersten Einblick in die Charakteristika von angehenden Arbeits- und Betriebsmediziner:innen sowie deren Motive, eine arbeitsmedizinische Weiterbildung zu absolvieren. Hinsichtlich der Beweggründe, die Ärzt:innen zum Beginn einer arbeitsmedizinischen Weiterbildung bewegen, lassen sich in der vorliegenden Stichprobe vier Motive identifizieren: „Work & Life Balance”, „Karriere & Interesse”, „Selbstständigkeit“ und „Veränderungswunsch“. Das Motiv „Work & Life Balance“ war dabei am häufigsten vertreten, d. h. der Wunsch nach einer stärkeren Vereinbarkeit von Beruf- und Privatleben war für die Mehrheit der Befragten ein zentraler Beweggrund für die Weiterbildung. Dies zeigte sich ebenso in der Studie von Enderle [4], in der auch die Möglichkeiten der familienfreundlichen Arbeitszeitgestaltung in der Arbeitsmedizin am häufigsten als Hauptgrund für den Beginn einer arbeitsmedizinischen Weiterbildung gewählt wurden. In dem Cluster „Work & Life Balance“ wurde am häufigsten von den Personen angegeben, dass sie noch neben dem Hauptberuf zusätzlich mehr als 20 Stunden pro Woche (Care-)Arbeit verrichteten. Dies könnte auch ein Grund dafür sein, dass jenen Personen eine familienfreundliche Arbeitszeitgestaltung wichtig ist, damit sie diesen Tätigkeiten weiterhin nachgehen können. Die vorliegende Clusteranalyse ergab aber auch, dass zwei Drittel der Teilnehmenden andere Motive als die Vereinbarkeit von Arbeit und Familie haben, die sie zu einer arbeitsmedizinischen Weiterbildung bewegen: karriere- und interessenbezogene Bewegründe sowie der Wunsch, selbstständig zu arbeiten, aber auch das Bedürfnis nach Veränderung hinsichtlich der ärztlichen Tätigkeit können Ärzt:innen dazu bewegen, eine arbeitsmedizinische Weiterbildung zu beginnen. Die Teilnehmenden aus dem Cluster „Selbstständigkeit“ wählten am häufigsten das Weiterbildungsziel „Betriebsmedizin“. Dies lässt vermuten, dass sie primär die Motivation haben, sich mit der Zusatzweiterbildung „Betriebsmedizin“ in Ergänzung zu ihrer Haupttätigkeit ein zweites Standbein aufzubauen.
Limitationen
Die vorliegende Studie unterliegt möglichen Limitationen. Bei der Studienpopulation handelt es sich um eine relativ kleine, in Bezug auf soziodemographische Faktoren wie z. B. den sozioökonomischen Status homogene Gruppe. Dies erschwerte die Bildung von Clustern [7]. Eine weitere Limitation ergibt sich aus der Eigenschaft der Clusteranalyse selbst, da keine objektiven Kriterien für die Festlegung der Anzahl an Clustern bestehen und in der Regel versucht wird, die Anzahl der Cluster so zu bestimmen, dass sie leicht interpretierbar sind [8]. Dennoch erscheinen uns die in der explorativen Clusteranalyse gefundenen Typologien als eine gute Grundlage für weitere Analysen. In der geplanten Follow Up-Untersuchung wird sich zeigen, ob und inwieweit die gefundenen Cluster tatsächlich trennscharf sind und ggf. Cluster-spezifisch zugeschnittener (Weiterbildungs-)Angebote bedürfen.
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Implikationen für Forschung und Praxis
Die Ergebnisse der vorliegenden Studie zeigen, dass eine praxisnähere Vermittlung von arbeitsmedizinischen Inhalten im Studium dazu beitragen könnte, mehr arbeitsmedizinischen Nachwuchs zu generieren v. a. im Hinblick darauf, dass das Berufsmonitoring Medizinstudierender 2018 durch die KBV ergab, dass die Arbeitsmedizin als zukünftiges Fachgebiet mit am seltensten von den Medizinstudierenden angestrebt wird [9]. Daher ist eine verbesserte, auf die Zielgruppen zugeschnittene Informationsvermittlung zu arbeitsmedizinischen Karrierewegen bereits im Studium, aber auch danach für die Akquise von arbeitsmedizinischem Nachwuchs wichtig. Um zeitliche Trends erkennen und bei der Gestaltung der Weiterbildung berücksichtigen zu können, sind weitere Befragungen mit dem gleichen Instrument erforderlich. Zudem wären auch Längsschnittbetrachtungen sinnvoll, um zu untersuchen, ob die Motive oder Erwartungen im weiteren Erwerbsverlauf realisiert werden können.
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Schlussfolgerungen
Die vorliegende Studie liefert erste empirische Ergebnisse zu den unterschiedlichen Motiven der Teilnehmenden arbeitsmedizinischer Weiterbildungskurse. Diese zeigen, dass es unterschiedliche Beweggründe gibt, die Personen dazu bewegen, eine arbeitsmedizinische Weiterbildung anzustreben. Auf diese sollte v. a. auch bei der Akquise von arbeitsmedizinischem Nachwuchs eingegangen werden, indem zielgruppenspezifisch für die Arbeitsmedizin geworben wird. Die clusteranalytische Differenzierung unterschiedlicher Motive könnte auch für andere Tätigkeiten im Gesundheitswesen einen Beitrag zu einer bedarfsgerechteren Gestaltung beruflicher Karrierewege und zu einer auf die individuellen Bedürfnisse besser zugeschnittenen Karriereberatung leisten. Da die Arbeitsmedizin beispielhaft für präventivmedizinische Fächer im Medizinstudium steht, kann die Evaluation der Arbeitsmedizin in Studium und Weiterbildung auch dazu beitragen, andere präventivmedizinische Fächer attraktiver zu gestalten.
Die vorliegende Befragung ist in Deutschland bisher einzigartig, und es sind weitere Befragungen mit dem gleichen Instrument notwendig, um zeitliche Trends identifizieren und ihnen in der Gestaltung der Weiterbildung begegnen zu können. Die geplanten Längsschnittanalysen versprechen einen wertvollen Aufschluss darüber, inwieweit sich Motivation bzw. Erwartungen tatsächlich im weiteren Berufsverlauf realisieren ließen. Aus solchen Längsschnittanalysen lassen sich Gestaltungsmöglichkeiten ableiten, die die Attraktivität einer präventivmedizinischen Tätigkeit noch weiter steigern können.
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Verfügbarkeit von Daten und Materialien
Die in der vorliegenden Studie analysierten Datensätze sind aufgrund der deutschen Datenschutzbestimmungen nicht öffentlich zugänglich, können aber beim korrespondierenden Autor angefragt werden.
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Genehmigung der Ethikkommission und Einverständniserklärungen
Die Studie wurde in Übereinstimmung mit der Deklaration von Helsinki und dem Genfer Gelöbnis durchgeführt und von der Ethikkommission der TU Dresden, Deutschland, genehmigt (EK 119042018). Vor der Durchführung der Umfrage wurden alle Teilnehmenden schriftlich über den Datenschutz, die Vertraulichkeit und die Anonymität der Studienergebnisse aufgeklärt. Alle Teilnehmenden unterzeichneten eine Einverständniserklärung.
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Interessenkonflikt
Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Danksagung
Wir danken den arbeitsmedizinischen Akademien in Baden-Württemberg, Hamburg, Rheinland-Pfalz, Sachsen und Westfalen-Lippe für die Unterstützung unserer Studie! Ein herzlicher Dank gilt allen Absolventinnen und Absolventen arbeitsmedizinischer Weiterbildungskurse, die sich an unserer Erhebung beteiligt haben!
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Literatur
- 1 Schoeller A. Arbeitsmedizin: Trendwende beim Nachwuchs. Dtsch Arztebl International 2014; 111: A-1746
- 2 Barth C, Hamacher W, Eickholt C. Arbeitsmedizinischer Betreuungsbedarf in Deutschland. In: (BAuA) BAuA ed. Dortmund. 2014
- 3 Kraus T, Panter W. für die Task Force “Arbeitsmedizin” bei der Bundesärztekammer. Evaluation und Monitoring der arbeitsmedizinischen Versorgung. ASU 2021; 56: 473-479 DOI: 10.17147/asu-2108-10050.
- 4 Enderle G. Wie hat sich die Nachwuchssituation in den letzten Jahren verändert?. VDBWaktuell. 2015
- 5 AfAMed. Perspektiven für die Arbeitsmedizin. ASU 2022; 57 DOI: 10.17147/asu-1-226448.
- 6 Bundesärztekammer. (Muster-)Kursbuch Arbeitsmedizin/Betriebsmedizin 2. Aufl: Bundesärztekammer. 2022
- 7 Backhaus K, Erichson B, Gensler S. et al. Clusteranalyse. Multivariate Analysemethoden: Eine anwendungsorientierte Einführung 2021; 489-575
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- 9 Schnell R, Hill PB, Esser E. Methoden der empirischen Sozialforschung (10., überarb. Aufl.). München [ua]: Oldenbourg; 2013
- 10 Jacob R, Kopp J, Fellinger P. Berufsmonitoring Medizinstudierende 2018 - Ergebnisse einer bundesweiten Befragung. Bericht der Universität Trier. Germany: Kassenärztliche Bundesvereinigung; 2018
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Article published online:
06 May 2024
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