Gesundheitswesen 2023; 85(12): 1107-1109
DOI: 10.1055/a-2187-7645
Editorial

Maria Theresia und ihre Kinder

Manfred Wildner
 

Maria Theresia, Regentin von Österreich, Böhmen und Ungarn und ab 1745 auch Kaiserin des Heiligen Römischen Reichs, hatte kein leichtes Amt. Als sie 1780 im Alter von 63 Jahren starb, hatte sie ihren Herrschaftsraum – aus einer feudalen Staatsordnung kommend – im Sinne eines „aufgeklärten Absolutismus“ umgestaltet. Ihr Mann, Kaiser Franz, war bereits 1765 im Alter von 57 Jahren gestorben und ihr gemeinsamer Sohn Joseph II. war als Kaiser und Mitregent an dessen Stelle getreten – er starb 1790 mit 48 Jahren. Von ihren 16 Kindern erreichten nur zwei mit jeweils 65 Jahren ein höheres Lebensalter als sie selbst. Ein Kind war im ersten Lebensjahr gestorben, fünf weitere Kinder vor ihrem 18. Geburtstag [1]. Für Aufsehen sorgte auch der frühe Tod ihrer 38jährigen Tochter Marie Antoinette 1793 durch eine Guillotine der Französischen Revolution: Diese hatte dem dortigen, unaufgeklärt gebliebenen Absolutismus ein Ende gesetzt. „Media vita in morte sumus – Mitten im Leben sind wir im Tod“, singt ein mittelalterlicher gregorianischer Choral.


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Manfred Wildner

Außerhalb Frankreichs hatten sich Joseph II. von Österreich und Friedrich II. von Preußen bemüht, aufgeklärtes Gedankengut in ihre Regierungstätigkeit zu übernehmen. In ihren jeweiligen allgemeinen Gesetzbüchern („Allgemeines Landrecht“ in Preußen, „Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch“ in Österreich) finden sich parallele Erneuerungen: gleiche Gesetzesgeltung für alle, weitgehende religiöse Toleranz, zumindest teilweise Meinungsfreiheit, Abschaffung der Folter und Humanisierung des Strafvollzugs, Rückbau der Leibeigenschaft, Weiterentwicklung des Beamtentums und gesetzliche Verankerung der Schulpflicht (Preußen 1717/1763, Österreich 1774). Friedrich II. starb 1786 mit 72 Jahren, im Volksmund wurde er als der „Alte Fritz“ bezeichnet. Die Proponenten der Aufklärung hatten in den neuen Akademien, Salons, Diskussionszirkeln und Kaffeehäusern nachhaltige Impulse in Politik und Philosophie, Jurisprudenz und Verwaltung, Medizin und Naturwissenschaften gesetzt, welche mit ihrer Betonung von vernünftiger Rationalität und menschlicher Humanität bis in die Gegenwart wirksam bleiben.

Um das Thema der oben für die Regierenden beschriebenen, aus heutiger Sicht überschaubaren Lebensspannen aufzugreifen: Im Jahr 1693 hatte der englische Astronom und Mathematiker Edmond Halley in der beginnenden Epoche der Aufklärung erstmals eine belastbare Analyse zu Sterblichkeit und Lebenserwartung in einer Stadtbevölkerung in den Philosophical Transactions der Royal Society veröffentlicht [2]. Dazu waren ihm die Daten des Breslauer Stadtpfarrers Caspar Neumann zu den Bevölkerungszahlen, Geburten und Todesfällen der zurückliegenden fünf Jahre dieser schlesischen Stadt – damals noch Teil Österreichs – in einer Art frühen internationalen Zusammenarbeit über den deutschen Mathematiker Gottfried Wilhelm Leibniz zugeschickt worden. Die Ergebnisse waren aufrührend, wenn auch damals den Menschen wohl vertraut: Knapp die Hälfte der Kinder starb in den ersten sechs Lebensjahren. Mit dem erreichten siebten Lebensjahr konnte man im Schnitt immerhin 43 weitere Lebensjahre erhoffen, mithin ein mittleres Sterbealter von etwa 50 Jahren. Von Maria Theresias 16 Kindern starben „nur“ drei in diesen ersten sechs Lebensjahren – möglicherweise ein Effekt ihrer gesellschaftlichen Privilegierung, soweit die kleinen Zahlen hier Schlüsse überhaupt zulassen. Heute stirbt in den ersten sechs Lebensjahren weniger als eines von 200 Kindern, eine Verbesserung um den Faktor 100. Die fernere Lebenserwartung in diesem Alter liegt bei über 77 weiteren Lebensjahren bei Mädchen und über 72 weiteren Lebensjahren für Jungen: Deren mittleres Sterbealter von über 80 Jahren ist ein Plus von noch einmal über 30 Jahren gegenüber den alten Zeiten. Nachweisbar ist diese günstige Entwicklung erst seit etwa 200 Jahren – was lediglich den letzten sieben oder acht Menschheitsgenerationen innerhalb von 8000 Generationen seit Auftreten des Homo sapiens entspricht [3].

Mit Blick auf das Gesundheitswesen und die weitere zukünftige Entwicklung ist dann doch die Frage drängend, auf welche von der Aufklärung und ihrer neuen Wissenschaftlichkeit angestoßenen Impulse denn diese enormen Verbesserungen der Lebensspannen und vorbereitend und begleitend auch der Lebensbedingungen zurückzuführen sind: Doch wohl auf die Wohltaten moderner Medizin in der individuellen Heilkunde? Zur Klärung dieser Vermutung ist zunächst eine Differenzierung zwischen den Leistungen der individuellen klinischen Medizin hinsichtlich der Lebensqualität bei Krankheit und ihren Beiträgen zur Lebenserwartung erforderlich, einschließlich psychischer Erkrankungen. Während die Leistungen im ersten Bereich häufig offenkundig sind, sind die Beiträge mit Bezug zur Lebenserwartung in der Bilanz komplementär zu den bevölkerungsmedizinischen Errungenschaften zu sehen. Bei Letzteren sind u. a. die Effekte von sauberem Wasser und städtischer Abwasserkanalisation, dem Angebot von ausreichenden und gesundheitlich unbedenklichen Lebensmitteln, von organisierter Arbeitsplatz- und Verkehrssicherheit, effektiven Infektionsschutzmaßnahmen und Impfprogrammen zu werten, ergänzt von Programmen zur Gesundheit von Mutter und Kind, Maßnahmen zur Förderung der Zahngesundheit und in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts um die Erkenntnisse zu den Gefahren des Tabakkonsums und zu kardiovaskulären Risikofaktoren aus epidemiologischen Studien, welche im weiteren wesentlich zu einer bis heute anhaltenden beeindruckenden Senkung der Sterblichkeit beigetragen haben [4]. Nur ein Teil dieser Maßnahmen liegt in der Zuständigkeit des Öffentlichen Gesundheitsdienstes und auch die Bevölkerung als Ganzes verfügt inzwischen über eine verbesserte Gesundheitskompetenz.

Der relative Beitrag der klinischen Medizin? In einer ausführlichen Analyse bezogen auf den Gewinn an Lebenserwartung in den USA von 30 Jahren im 20. Jahrhundert wurde der Beitrag der klinischen Präventionsmaßnahmen wie Impfungen und Screeningangebote mit 1,5 Jahren geschätzt, bezüglich der kurativen Medizin auf etwa 5 Jahre [5]. Dies entspräche einem Anteil von etwa einem Fünftel des Zugewinns an Lebenserwartung. Bei Betrachtung nur der zweiten Jahrhunderthälfte wird der Anteil der präventiven und kurativen klinischen Medizin allerdings auf die Hälfte der in diesem Zeitraum um 7 ½ Jahre gestiegenen Lebenserwartung geschätzt [6] [7]. Erinnert sei an dieser Stelle noch einmal an den Gewinn an Lebenserwartung und den Gewinn an Lebensqualität als zwei sich ergänzenden Handlungsfeldern – zu beidem trägt die klinische Medizin bei. Zudem ist die Schnittstelle zum Aufgabenfeld des Öffentlichen Gesundheitsdienstes mit diesem eng verzahnt, hier sei nur das Beispiel Impfungen genannt.

Auch im 21. Jahrhundert finden sich noch Chancen auf mehr Gesundheit für alle, sowohl bezogen auf die Gegenwart mit Blick auf die Verteilung von Gesundheit in der Bevölkerung als auch bezogen auf die Zukunft mit Blick auf noch ungehobene Potentiale [8]. Auch wenn die Rolle verhaltensbezogener Risikofaktoren zunehmend verstanden wird, sollten doch auch die distaleren Faktoren hinter diesem Verhalten mit bedacht werden – Verhalten hat auch Ursachen, welche nicht in der Verfügung der einzelnen Person stehen. In einer kleinräumigen Analyse von Lebenserwartung und Lebensqualität auf Ebene der über 3000 counties in den USA fällt das Ergebnis diesen Überlegungen entsprechend aus: Nur etwa 10-20% der erklärten Variabilität ist dem Zugang zur bzw. der Qualität der klinischen Medizin zuzuordnen [9] [10] [11]. Etwa 30% wird lebensweisenbezogenen Risikofaktoren zugeschrieben, etwa 40% sozioökonomischen Rahmenbedingungen wie ungleichen Bildungschancen oder einer ungleichen Einkommensverteilung und etwa 10% Gefährdungen aus der physikalisch-chemischen Umwelt – drei Handlungsfeldern, welche der Domäne der Öffentlichen Gesundheit zuzuordnen sind. Auch unter dem Eindruck dieser Analysen wird aktuell als „Sechste Welle der ärztlichen Professionalisierung“ eine verstärkte Hinwendung zum systemischen Denken propagiert: die Ärztin bzw. der Arzt soll befähigt werden, eine Diagnose und Therapie der systemischen gesellschaftlichen Zusammenhänge wie bei der Behandlung eines Patienten bzw. einer Patientin vorzunehmen [12]. „Bedingungen schaffen, in denen Menschen gesund sein können“? Für die im Bereich der Öffentlichen Gesundheit Tätigen ist dieser Ansatz wahrlich keine Neuigkeit [13] [14] [15]. In Deutschland klingt zudem auch das Diktum von Rudolf Virchow und Salomon Neumann aus einem vergangenen Jahrhundert an: “Die Medicin ist eine sociale Wissenschaft, und die Politik ist weiter nichts, als die Medicin im Großen“ [16] [17].

Als Beiträge zu einer der ernsthaften Erkenntnissuche verpflichteten Wissenschaftlichkeit mit gleichzeitiger sozialer Verpflichtung sind auch die wieder vielfältigen Beiträge in dieser Ausgabe zu verstehen: Zur Versorgung von Patient*innen an umweltmedizinischen Ambulanzen, zur Einstellungen von Hausärzt:innen und Medizinischen Fachangestellten zur Delegation ärztlicher Leistungen, zur Rolle der VERAH in der hausärztlichen Versorgung, zu primärärztlichen Versorgungsungleichheiten zu Ungunsten der Bevölkerung sozial benachteiligter Stadtgebiete, zur Ermittlung des soziostrukturellen Versorgungsbedarfs in der ambulanten medizinischen Versorgung in Brandenburg sowie zur Erreichbarkeit der kardiologischen Versorgungsinfrastruktur in diesem Bundesland, zur onkologischen Versorgung von Brustkrebspatientinnen mit vorbestehender Behinderung, zur Sicherstellung adäquater stationärer Versorgungskapazitäten für das Pandemiemanagement innerhalb einer Region und zu Erfahrungen von HausärztInnen mit COVID-19 und der Pandemie, zu Bewertungen von Individuellen Gesundheitsleistungen (IGeL) des IGeL-Monitors in Hinblick auf bestehende Leitlinien, zu den Erkenntnissen aus dem Mikrozensus zum Einkommen von niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten in Deutschland, zu Privatverordnungen von Benzodiazepinen und Z-Substanzen in Ost- und Westdeutschland, zur Implementierung von KI-basierten Entscheidungsunterstützungssystemen zur Antibiotikavorhersage im Krankenhaus, zum Einfluss des Case Managements auf den Umzug von Menschen mit Demenz in eine Pflegeeinrichtung, zum hygienischen Grundwissen im ehrenamtlichen Katastrophenschutz am Beispiel des Deutschen Roten Kreuzes im Rhein-Erft-Kreis sowie zum Qualitätsdiskurs zur informellen Pflege in Österreich.

Um am Ende den Anfang noch einmal aufzugreifen: Maria Theresia und ihre Nachkommen waren „auf Gedeih und Verderben“ Kinder ihrer Zeit. Sie war selbst auch auf Leben und Tod an Pocken erkrankt gewesen, wie viele Mitglieder des damaligen Hochadels, unter denen diese Seuche so manche Erbfolge zu Nichte machte und damit auch zu politischen Komplikationen führte. Maria Theresia setzte sich schon früh für die Variolation, eine frühe Form der Pockenimpfung, ein und ließ nach dem frühen Pockentod von vier ihrer Kinder auch bei den eigenen Kindern eine Inokulation mit Sekret aus abgeheilten Pockennarben durchführen – allerdings erst, nachdem dieses mit erheblichen Risiken verbundene Verfahren an 100 Waisenkindern getestet worden war [18]. Es war erst Edward Jenner zwanzig Jahre nach ihrem Tod, der seine Ergebnisse mit der nebenwirkungsarmen Vakzination durch nicht pathogene Kuhpocken im Sinne der neuen aufgeklärten, empirischen Wissenschaftlichkeit überprüfte, dokumentierte und in den Jahren 1798 bis 1800 überzeugend publizieren und damit auch international weit verbreiten konnte [19] [20] [21]. Dies wurde auch dadurch unterstützt, dass Jenner mit Blick auf die ärmere Bevölkerung auf eine Patentierung verzichtet hatte. In den folgenden Jahrhunderten wurde die Tür zu einer reflektierten und kritischen Wissenschaftlichkeit dann noch einmal weiter aufgestoßen. In Verbindung mit humanitären und demokratischen Bildungs- und Gerechtigkeitsidealen vermag diese Wissenschaftlichkeit großartige Beiträge für unsere heutige Gesellschaft eines langen Lebens zu leisten, in Medizin und Öffentlicher Gesundheit gleichermaßen. Käuflich war diese Entwicklung nicht bzw. nur um den Preis einer auch neuen Staatlichkeit und den Verlust von überkommenen Privilegien. Dies schließt, schon mit besonderem Blick auf die Weihnachtszeit, die Erkenntnis ein, dass neben Investitionen in die Wissenschaft eine faire Verteilung der gesellschaftlichen Ressourcen und Chancen und das Bemühen auch um gesundheitliche Chancengleichheit gut für die Gesundheit aller ist – einschließlich der Gesundheit der Kinder und Kindeskinder der relativ privilegierten Mitglieder einer Gemeinschaft [22].


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Interessenkonflikt

Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.


Korrespondenzadresse

Prof. Dr. med. Manfred Wildner
Pettenkofer School of Public Health, c/o Bayerisches Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit, Veterinärstraße 2
85764
Oberschleißheim
Deutschland   

Publication History

Article published online:
11 December 2023

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Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany


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