Schlüsselwörter Delegation - Befragung - Hausarztpraxis - Medizinische Fachangestellte
Key words Delegation - Survey - General Practice - Medical Practice Assistants
Einleitung
Die hausärztliche Versorgung in Deutschland und vielen anderen
Industriestaaten steht vor komplexen Herausforderungen. Multimorbidität,
Überalterung, Ärzt:innen- und Fachkräftemangel, Arbeitslast,
Bürokratie und Regulierungen nehmen kontinuierlich zu [1 ]
[2 ]
[3 ]. Die Neuverteilung von
Aufgaben und Verantwortlichkeiten in der Hausarztpraxis kann dabei zur
Lösung der sich verschärfenden Problematik beitragen [4 ]
[5 ]
[6 ]
[7 ]
[8 ].
Art und Umfang der Übertragung hausärztlicher Tätigkeiten
variieren sowohl zwischen einzelnen Ländern und Gesundheitssystemen als auch
hinsichtlich des involvierten nichtärztlichen Personals [5 ]
[9 ]
[10 ].
In Deutschland werden grundsätzlich zwei Formen der Übertragung
unterschieden: die Durchführung ärztlicher Tätigkeiten durch
nichtärztliche Personen im Auftrag und mit Beibehaltung der
ärztlichen Endverantwortung und Leitung (Delegation) sowie die
Durchführung entsprechender Tätigkeiten mit zusätzlichem
Übergang der Endverantwortung auf die nichtärztliche Person
(Substitution) [11 ]. Letztere wird nur im
Rahmen von Modellvorhaben genutzt und ist bisher kein Bestandteil der
Regelversorgung [12 ]
[13 ]. In der ambulanten
vertragsärztlichen Versorgung Deutschlands bildet die sogenannte
Delegationsvereinbarung gemäß § 28 Abs. 1 S. 3 SGB V (1.
Oktober 2013; Stand: 1. Januar 2015) den rechtlichen Rahmen für die
Übertragung ärztlicher Leistungen an nichtärztliches
Personal [14 ]. In dieser zwischen der
Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) und dem GKV-Spitzenverband
geschlossenen Vereinbarung werden nicht delegierbare
(höchstpersönliche) Leistungen definiert: Anamnese,
Indikationsstellung, Untersuchung der Patient:innen einschließlich invasiver
diagnostischer Leistungen, Diagnosestellung, Aufklärung und Beratung der
Patient:innen, Entscheidungen über die Therapie, Durchführung
invasiver Therapien und operativer Eingriffe. Daneben lassen sich auch zahlreiche
delegierbare Leistungen nennen, wie beispielsweise Anamnesevorbereitungen durch
standardisierte Erhebung, Unterstützung der Aufklärung durch
Erläuterung standardisierter Informationsmaterialien, Hausbesuche,
Durchführung von diagnostischen Maßnahmen (Labordiagnostik, Erhebung
der Vitalparameter, technische Untersuchungen wie EKG) und therapeutischen
Maßnahmen wie Injektionen [14 ]. Die
Vorgaben der Delegationsvereinbarung sind vielen Hausärzt:innen nicht
bekannt und lassen einen Handlungs- und Interpretationsspielraum (z. B. der
fließende Übergang von der Anamnesevorbereitung zur Anamnese) zu,
welcher mit teilweise ungeklärten Haftungskonsequenzen einhergeht [6 ]
[11 ]
[15 ]. Ausschlaggebend
für den Umfang der Delegation ist nach § 4 der
Delegationsvereinbarung die Qualifikation der nichtärztlichen Person [14 ].
Innerhalb einer hausärztlichen Praxis werden Leistungen, die an qualifizierte
Medizinische Fachangestellte (MFA) delegiert und von diesen erbracht wurden, sowohl
über Selektivverträge als auch im Rahmen der Regelversorgung
finanziell honoriert. Dabei sind die Konzepte der Versorgungsassistent:innen in der
Hausarztpraxis (VERAH) und der Nichtärztlichen Praxisassistent:innen
(NäPa) am bedeutsamsten und am weitesten verbreitet [8 ]
[16 ]
[17 ].
Systematische Übersichtsarbeiten konnten bereits zeigen, dass eine Versorgung
durch nichtärztliches Praxispersonal der durch Ärzt:innen mindestens
gleichwertig ist und zu einer höheren Lebensqualität und
Zufriedenheit der Patient:innen führen kann [5 ]
[18 ]. Aufgrund der
unterschiedlichen Qualifizierungsniveaus und Verantwortlichkeiten sind diese
Ergebnisse allerdings nur eingeschränkt auf die Delegation an MFA (mit und
ohne Zusatzqualifikationen) in deutschen Hausarztpraxen übertragbar [7 ]
[19 ]
[20 ]
[21 ]
[22 ].
Eine Sekundärdatenanalyse von Krankenkassen-Abrechnungsdaten aus Deutschland
konnte zumindest belegen, dass die Einbindung von VERAHs in die
hausärztliche Versorgung mit einer Verringerung von Krankenhauseinweisungen,
Facharztkonsultationen und Medikamentenkosten verbunden ist [23 ]. In Deutschland praktizierende
Hausärzt:innen sehen die Vorteile der Delegation insbesondere in einer
höheren Arbeitszufriedenheit, weniger Überlastungsempfinden und der
Möglichkeit mehr Patient:innen versorgen zu können [21 ]
[24 ]
[25 ]. Positive Effekte
für MFA können sich durch Kompetenzgewinn und damit einhergehend
durch eine höhere monetäre Vergütung sowie
größere Arbeitszufriedenheit ergeben [26 ]
[27 ].
Aus Sicht des nichtärztlichen Praxispersonals bietet die Delegation zudem
zahlreiche Vorteile für die Patient:innen: u. a. besserer Zugang zur
hausärztlichen Versorgung sowie bessere Informationsvermittlung und
Partizipation am Behandlungsprozess [28 ]. Auch
Patient:innen scheinen gegenüber der Delegation ärztlicher
Tätigkeiten an nichtärztliches Praxispersonal grundsätzlich
aufgeschlossen zu sein [29 ]
[30 ]. Als wichtige Faktoren für eine
gelungene Delegation gelten u. a. eine ausreichende Personalausstattung, der
Einsatz von digitalen Praxisverwaltungssystemen, die Möglichkeit der
Verschreibung durch und Professionalisierung von medizinischem Fachpersonal, eine
klare Rollenverteilung im Team, die Akzeptanz bei allen Beteiligten sowie
entsprechende rechtliche Voraussetzungen [5 ]
[10 ]
[16 ]
[21 ]
[24 ].
In Deutschland werden, auch vor dem Hintergrund der gesetzlichen Bestimmungen [6 ]
[11 ]
[14 ], im Vergleich zu anderen
Industrieländern eher weniger Aufgaben delegiert [9 ]
[10 ].
Als mögliche Ursachen dafür wurden neben einem mangelnden Wissen
bezüglich der aktuellen Delegationsvereinbarung und fehlenden rechtlichen
Rahmenbedingungen, hohe bürokratische Hürden, nicht ausreichend
vorhandenes oder qualifiziertes Personal sowie eine unzureichende
Verfügbarkeit von laienverständlichen Informationen und
Entscheidungshilfen identifiziert [5 ]
[15 ]
[21 ]
[24 ].
Im Zuge der Etablierung des Forschungspraxennetzes RESPoNsE der Institute für
Allgemeinmedizin des Universitätsklinikums Jena und der Charité,
Universitätsmedizin Berlin, wurden Hausärzt:innen und MFA in Berlin,
Brandenburg und Thüringen zur Delegation ärztlicher
Tätigkeiten schriftlich befragt. Vor dem Hintergrund der offenkundigen
Diskrepanz zwischen hoher Delegationsbereitschaft und tatsächlicher
Umsetzung haben wir dabei unter anderem erfasst: Welche konkreten
Tätigkeiten werden bereits delegiert und was sollte ergänzend
delegiert werden? Mögliche Zusammenhänge zwischen der
Delegationsbereitschaft und strukturellen oder personenbezogenen Faktoren waren zu
analysieren.
Methodik
Der Fragebogen wurde auf Grundlage einer pragmatischen Literaturrecherche deutsch-
und englischsprachiger Originalarbeiten in den Datenbanken PubMed, Google Scholar
und Cochrane Library (Einschluss bis 11.11.2020) konzipiert. Es wurde jeweils ein
Fragebogen für Hausärzt:innen und einer für MFA
korrespondierend erstellt. Die Auswahl und Bewertung der einzelnen Items erfolgten
zunächst im Konsensusverfahren durch eine Expert:innenrunde von akademischen
Allgemeinmediziner:innen (JB, SD, MK, KS, FW). Dabei wurde sich an bereits erfolgten
Befragungen unter Hausärzt:innen und MFA orientiert [6 ]
[7 ]
[21 ]
[27 ]
[31 ]
[32 ]
[33 ]
[34 ].
Anschließend wurde der Fragebogen von fünf nicht wissenschaftlich
tätigen Hausärzt:innen und zwei MFA pilotiert. Hierfür wurde
die Think-Aloud-Methode im Rahmen eines dreistündigen Online-Meetings
genutzt [35 ]. Auf Basis der Pilotierung
erfolgte eine Veränderung der Item-Reihenfolge sowie eine Kürzung
des Fragbogens. Der finale dreiseitige Fragebogen (siehe Onlinematerial) gliederte
sich in folgende Abschnitte: (1) Soziodemografische Daten zur teilnehmenden Person
und hausärztlichen Praxis; (2) ärztliche Tätigkeiten, die
bereits an nichtärztliches Praxispersonal übertragen werden, sowie
bei denen eine Übertragung bzw. Übernahme vorstellbar wäre;
(3) Kontextfaktoren, von denen eine Übertragung weiterer Aufgaben an das
nichtärztliche Praxispersonal abhängig wäre; (4) zwei
Fallbeispiele zu den häufigen Beratungsanlässen „akute
unkomplizierte Harnwegsinfektion“ und „DMP Kontrolle Diabetes
mellitus Typ 2“. Die überwiegende Mehrheit der Antwortkategorien war
in Form von Einzel- oder Mehrfachantworten vorgegeben und konnte von den
Teilnehmer:innen als zutreffend oder nicht zutreffend bewertet werden.
Darüber hinaus bestand die Möglichkeit für Freitextantworten
(siehe Onlinematerial).
Von April bis Mai 2021 erfolgte der Versand je einer Fragebogenversion
(Hausärzt:innen / MFA) an 5.516 Hausarztpraxen in den
Bundesländern Berlin, Brandenburg und Thüringen (1. Versandwelle, im
Sinne einer Vollerhebung aller KV-gelisteten Hausarztpraxen). Die Kontaktdaten
wurden über die Arztsuchfunktion der jeweiligen KV-Homepage gewonnen. Die
Teilnahme wurde auf einer separaten Antwortpostkarte von der Praxis selbst
bestätigt oder abgelehnt und in den jeweiligen Instituten unabhängig
von den anonymen Fragebögen erfasst. Im Juni und Juli 2021 erfolgte eine 2.
Versandwelle an alle Hausarztpraxen, für die bisher keine Antwortpostkarte
vorlag. Die Daten der rückgesendeten Fragebögen wurden anonymisiert
erhoben und deskriptiv mittels SPSS Statistics (Version 27) ausgewertet. Um
mögliche Zusammenhänge zwischen der Profession (Ärzt:innen
oder MFA) und dem Antwortverhalten zu explorieren, erfolgten Chi-Quadrat-Tests mit
Kontinuitätskorrektur.
In explorativen Anschlussanalysen sollte außerdem in Erfahrung gebracht
werden, ob (i) diese Zusammenhänge Bestand haben, wenn für personen-
und praxisbezogene Merkmale der teilnehmenden Ärzt:innen und MFA
kontrolliert wird bzw. (ii) die Zusammenhänge unabhängig von den
genannten Merkmalen auftreten (d. h. nicht durch diese Merkmale moderiert
werden). Vier Merkmale wurden in den Fokus genommen: Praxislage, Geschlecht,
Berufserfahrung und Wochenarbeitszeit. Separat für jedes der vier Merkmale
wurden multiple logistische Regressionsanalysen durchgeführt mit (i) zwei
Prädiktoren (Profession sowie das jeweilige Merkmal) bzw. (ii) drei
Prädiktoren (Profession, Merkmal sowie deren Interaktion). Für
multiples Testen wurde mittels Bonferroni-Holm-Korrektur korrigiert.
Für eine Non-Responder-Analyse wurden demographische Daten aller
angeschriebenen Praxen mit den Charakteristika der Teilnehmer:innen sowie der
sicheren Nicht-Teilnehmer:innen (per Antwortpostkarte dokumentiert) verglichen.
Die zuständigen Ethikkommissionen der Charité –
Universitätsmedizin Berlin (Antragsnummer: EA1/025/21), des
Universitätsklinikums Jena (Reg.-Nr.: 2021–2176-Bef) und der
Landesärztekammer Brandenburg (Antragsnummer: AS34(bB)/2021)
stimmten dem Forschungsvorhaben zu. Zur Erstellung des vorliegenden Manuskripts
wurde das STROBE-Statement verwendet [36 ].
Ergebnisse
Von 5.516 angeschriebenen hausärztlichen Praxen (Vollerhebung in Berlin,
Brandenburg und Thüringen) nahmen 890 Hausärzt:innen
(Rücklaufrate: 16,1%) an der schriftlichen Befragung teil, davon
waren 552 (62,0%) weiblich. Nahezu alle der 566 teilnehmenden Medizinischen
Fachangestellten waren weiblich (95,6%). Unter den nichtärztlichen
Teilnehmer:innen besaßen 21,0% die Zusatzqualifikation VERAH oder
NäPa. In [Tab. 1 ] sind die
Charakteristika der Teilnehmer:innen aufgeführt.
Tab. 1 Charakteristika der befragten Ärzt:innen und
MFA (N=1456).
Ärzt:innen (N=890)
MFA (N=566)
Bundeslanda
Berlin
336 (38,0%)
174 (31,3%)
Brandenburg
223 (25,2%)
138 (24,8%)
Thüringen
325 (35,7%)
242 (43,5%)
andere / keine Angabe
6 (0,7%)
12 (2,1%)
Durchschnittsalter (SD)
54,4 Jahre (10,0)
46,1 Jahre (10,5)
Geschlecht
weiblich
552 (62,0%)
541 (95,6%)
männlich
326 (36,6%)
14 (2,5%)
divers / keine Angabe
12 (1,3%)
11 (1,9%)
Berufserfahrung
bis 15 Jahre
469 (52,7%)
228 (40,3%)
über 15 Jahre
412 (46,3%)
321 (56,7%)
keine Angabe
9 (1,0%)
17 (3,0%)
Praxislage
ländlich
324 (36,4%)
232 (41,0%)
städtisch
558 (62,7%)
312 (55,1%)
keine Angabe
8 (0,9%)
22 (3,9%)
Wochenar-beitsstunden
bis 40 Stunden
263 (29,6%)
405 (71,6%)
mindestens 40 Stunden
611 (68,7%)
139 (24,6%)
keine Angabe
16 (2,1%)
22 (3,9%)
Selbstständig tätig
676 (76,0%)
–
Einzelpraxis
491 (55,2%)
–
≥ 1000 Scheine pro Quartal
470 (52,8%)
–
Zusatzqualifikation VERAH oder NäPa
–
119 (21,0%)
SD Standardabweichung,VERAH Versorgungsassistent:in in der
Hausarztpraxis, NäPa Nichtärztliche/r
Praxisassistent:in. a Rücklaufraten (ärztliche
Teilnehmer:innen / angeschriebene Ärzt:innen): Berlin
13,5% (336 / 2491), Brandenburg 13,9% (223 /
1608), Thüringen 22,9% (325 / 1417).
Im Vergleich zur Grundgesamtheit aller angeschriebenen Hausärzt:innen
(Vollerhebung in Berlin, Brandenburg und Thüringen) arbeiteten die
ärztlichen Teilnehmer:innen häufiger im ländlichen Bereich
(36,4% vs. 28,8%). Darüber hinaus fanden sich keine
Unterschiede in Bezug auf Geschlecht, Durchschnittsalter und Praxisart (siehe
Onlinematerial). Sichere Non-Responder (n=367) waren sowohl im Vergleich zu
den ärztlichen Teilnehmer:innen als auch zur Grundgesamtheit
häufiger in Einzelpraxen tätig (siehe Onlinematerial).
Beide Berufsgruppen gaben an, dass bereits zahlreiche Tätigkeiten
übertragen bzw. übernommen werden (siehe [Tab. 2 ]). Hier sind insbesondere die
Durchführungen von Triagierungen (Einschätzung des Schweregrades
eines Krankheitsbildes und der Erforderlichkeit einer ärztlichen
Konsultation), Impfungen und Kontrollen im Rahmen der Disease Management Programme
(DMP) zu nennen. Darüber hinaus könnten sich sowohl die
teilnehmenden Ärzt:innen als auch die MFA vorstellen, weitere
Tätigkeiten zu übertragen bzw. zu übernehmen, sofern diese
nicht bereits delegiert werden. Die berichtete Übernahme bzw.
Übertragung von EKG-Vorbefundungen sowie die Bereitschaft, diese
durchzuführen, fielen vergleichsweise niedrig aus. [Tab. 2 ] zeigt, dass bei fast allen erfragten
Tätigkeiten die Zustimmung der MFA (Tätigkeit wird bereits
übernommen) signifikant höher lag als die der Ärzt:innen
(Tätigkeit wird bereits übertragen). Diese Zusammenhänge
zwischen Berufsgruppe (Ärzt:innen vs. MFA) und dem Antwortverhalten zeigten
sich in explorativen Anschlussanalysen nach Kontrolle für strukturelle
(Praxislage) und personenbezogene Merkmale (Geschlecht, Berufserfahrung,
Wochenarbeitszeit) nahezu unverändert; es fanden sich darüber hinaus
auch keine systematischen moderierenden Effekte (siehe Fußnote in [Tab. 2 ]).
Tab. 2 Übernahme und Übertragung von
ärztlichen Tätigkeiten.
Übertrage bzw. Übernehme ich bereits
Würde ich gerne übertragen bzw.
übernehmen
Ärzt:innen (N=890)
MFA (N=566)
p
a
Ärzt:innen (N=890)
MFA (N=566)
p
a
Erstanamnese (gültig: 883 / 553)
404 (45,8%)
346 (62,6%)
<0,001
205 (23,2%)
161 (29,1%)
0,015
d
(Telefon-)Triage (gültig: 883 / 554)
671 (76,0%)
480 (86,6%)
<0,001
131 (14,8%)
52 (9,4%)
0,003
e
DMP-Kontrollen (gültig: 880 / 552)
491 (55,8%)
367 (66,5%)
<0,001
241 (27,4%)
126 (22,8%)
0,063
Chroniker-Kontrollen (gültig: 886 / 554)
243 (27,4%)
254 (45,8%)
<0,001
289 (32,6%)
163 (29,4%)
0,225
EKG-Vorbefundung (gültig: 884 / 553)
157 (17,8%)
137 (24,8%)
0,002
b
164 (18,6%)
185 (33,5%)
<0,001
Impfungen (gültig: 884 / 545)
549 (62,1%)
388 (71,2%)
<0,001
149 (16,9%)
98 (18,0%)
0,635
Hausbesuche (gültig: 882 / 555)
428 (48,5%)
305 (55,0%)
0,020
c
209 (23,7%)
144 (25,9%)
0,367
Die Prozentangaben beziehen sich auf die Anzahl der gültigen
Antworten (Ärzt:innen / MFA). Ungültige Antworten
machten maximal 1,1% (bei Ärzt:innen) und maximal
3,7% (bei MFA) aus. Die berichteten Effekte hatten fast ausnahmslos
auch nach Kontrolle für Praxislage, Geschlecht, Berufserfahrung oder
Wochenarbeitszeit Bestand und wurden nicht durch diese Merkmale moderiert.
Ausnahmen sind indiziert. DMP Disease Management Programm,
EKG Elektrokardiogramm. a Chi-Quadrat-Test mit
Kontinuitätskorrektur. b Der Zusammenhang von
übertragener/übernommener EKG-Vorbefundung und
Berufsgruppe wird durch den Faktor Berufserfahrung moderiert und ist nur bei
Teilnehmenden mit Berufserfahrung bis 15 Jahren statistisch bedeutsam
(p<0,001), nicht bei Berufserfahrung >15 Jahre
(p=0,932). c Nach Kontrolle der Praxislage nicht mehr
signifikant (p=0,073). d Nach Kontrolle der
Wochenarbeitsstunden nicht mehr signifikant (p=0,239). e
Nach Kontrolle des Geschlechts nicht mehr signifikant (p=0,108).
Die teilnehmenden Ärzt:innen und MFA sahen insbesondere in der
persönlichen Eignung der übernehmenden Person einen wesentlichen
Faktor für die Implementierung oder Ausweitung von Delegation in ihrer
hausärztlichen Praxis (siehe [Abb.
1 ]). Daneben spielen auch zusätzliche
Qualifizierungsmöglichkeiten sowie rechtliche und finanzielle Aspekte eine
Rolle. Die Schaffung eines höher qualifizierten, nichtärztlichen
Berufs (z. B. Physician Assistant, Nurse Practitioner, Community Health
Nurse) erachteten 26,4% der Ärztinnen und 37,6% der MFA
für wichtig.
Abb. 1 Die Prozentangaben beziehen sich auf die Anzahl der
gültigen Antworten. Ungültige Antworten machten 2,6%
(bei Ärzt:innen) und 1,8% (bei MFA) aus. PA: Physician
Assistant, NP: Nurse Practitioner, CHN: Community Health Nurse,
a Items mit Mehrfachauswahl inkl. Freitextfeld.
Für den vorgegebenen akuten Beratungsanlass „unkomplizierter
Harnwegsinfekt“ konnte sich eine Mehrheit der Ärzt:innen und MFA
vorstellen, dass MFA eine symptombezogene Anamnese und einen Urin-Schnelltest
selbstständig durchführen (siehe [Abb. 2 ]). Sowohl Ärzt:innen (71,6%) als auch MFA
(88,7%) gaben mehrheitlich an, dass MFA selbstständig entscheiden
können, ob eine ärztliche Vorstellung im konkreten Fall notwendig
sei. Eine Übertragung weiterer ärztlicher Tätigkeiten wie
die Ausstellung eines Rezeptes oder einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung
(AU-Bescheinigung) kann sich nur eine Minderheit der teilnehmenden
Ärzt:innen und MFA vorstellen.
Abb. 2 *Signifikanter Zusammenhang zwischen Profession und
Antwortverhalten (p<0,05) im Chi-Quadrat-Test mit
Kontinuitätskorrektur. Ungültige Antworten (fehlend oder
„vielleicht“) wurden nicht in die Analyse einbezogen und
machten maximal 19,2% (bei Ärzt:innen) und maximal
20,8% (bei MFA) aus.
Für das Fallbeispiel einer Routinekontrolle im Rahmen des DMP Diabetes
mellitus Typ 2 (strukturierte Untersuchung und Dokumentation) zeigten die
teilnehmenden Ärzt:innen und MFA eine hohe Bereitschaft zur
Übertragung bzw. Übernahme ärztlicher Tätigkeiten
bei höherer Zustimmung der MFA (siehe [Abb.
3 ]). Auch das Ausstellen eines (Folge-)Rezeptes und einer
Überweisung (z. B. zum/r Augenärzt:in) kann nach
Einschätzung beider Berufsgruppen selbstständig durch MFA
erfolgen.
Abb. 3 *Signifikanter Zusammenhang zwischen Profession und
Antwortverhalten (p<0,05) im Chi-Quadrat-Test mit
Kontinuitätskorrektur. Ungültige Antworten (fehlend oder
„vielleicht“) wurden nicht in die Analyse einbezogen und
machten maximal 10,2% (bei Ärzt:innen) und maximal
14,7% (bei MFA) aus. **Anamnese- und Befunddaten des
Disease-Management-Programms (DMP) Diabetes mellitus Typ 2 umfassen
u. a.: HbA1C-Wert, pathologische Urin-Albumin-Ausscheidung, eGFR,
Fußstatus, Injektionsstellen (bei Insulintherapie),
Spätfolgen, relevante Ereignisse, Medikamente, Schulung,
Behandlungsplan
Diskussion
An der schriftlichen Befragung zur Einstellung gegenüber der Delegation
hausärztlicher Aufgaben und Tätigkeiten nahmen 890
Hausärzt:innen und 566 MFA teil. Bis auf die Praxislage (ländlich
vs. städtisch) stimmten die Charakteristika unserer ärztlichen
Stichprobe weitgehend mit der der hausärztlichen Grundgesamtheit in den drei
untersuchten Bundesländern überein. Die beobachtete Differenz
lässt sich teilweise auf die niedrigere Teilnahmebereitschaft Berliner
Hausärzt:innen zurückführen (Rücklaufraten: Berlin
13,5%, Brandenburg 13,9%, Thüringen 22,9%). Mit
16,1% (bezogen auf die Ärzt:innen) ist unsere Rücklaufrate
niedrig, allerdings vergleichbar mit anderen Befragungen (11,2-31,7%) [7 ]
[31 ]
[37 ]. Ein Grund für die
niedrige Teilnahmerate könnte im Zeitraum der Befragung (April –
Juli 2021) liegen, welcher auf den Start der COVID-19-Impfkampagne in
hausärztlichen Praxen fiel. Für die antwortenden MFA konnte aus
methodischen Gründen keine genaue Teilnahmerate bestimmt werden, da mehrere
MFA pro Standort teilnehmen konnten. 21,0% der nichtärztlichen
Teilnehmer:innen besaßen die Zusatzqualifikation VERAH und/oder
NäPa. In ähnlichen Befragungen lag dieser Anteil gleich hoch [26 ] bzw. höher [32 ]. Weitere Charakteristika der MFA waren mit
den genannten Erhebungen vergleichbar [26 ]
[32 ].
Alle Teilnehmer:innen gaben eine überwiegend hohe Bereitschaft zur
Übertragung bzw. Übernahme ärztlicher Tätigkeiten
an. Bereits heute werden nach Angabe beider Berufsgruppen zahlreiche
Tätigkeiten und Aufgaben in hausärztlichen Praxen delegiert, was im
Gegensatz zu bisherigen Veröffentlichungen steht, die zwar eine hohe
Akzeptanz, jedoch eine niedrige tatsächliche Anwendung in Deutschland
berichten [10 ]
[19 ]
[31 ]
[37 ]
[38 ].
Unsere Ergebnisse weichen teilweise von denen einer vergleichbaren Befragung von
Hausärzt:innen aus Nordrhein-Westfalen ab [7 ]
[39 ]: Die ärztlichen
Teilnehmer:innen unserer Studie gaben häufiger an, dass sie die
standardisierte Anamneseerhebung (45,8% vs. 39,8%) und Triagierungen
(76,0% vs. 34,9%) bereits delegieren. Impfungen (62,1% vs.
76,6%) und Hausbesuche (48,5% vs. 70,3%) werden von den
teilnehmenden Ärzt:innen aus Berlin, Brandenburg und Thüringen
jedoch seltener übertragen. Im Gegensatz zur Hausärzt:innenbefragung
aus Nordrhein-Westfalen konnten wir bei unseren ärztlichen Teilnehmer:innen
keine bivariaten Zusammenhänge zwischen Delegationsbereitschaft und
Geschlecht, Alter oder Praxisform feststellen [7 ]. MFA wurden in der oben genannten Studie nicht befragt [7 ]
[39 ].
Eine Stärke der vorliegenden Befragung besteht in der Erfassung von
Einstellungen und Vorgehensweisen beider Berufsgruppen. Dabei fallen bei der bereits
bestehenden Delegation von ärztlichen Tätigkeiten durchweg
höhere Zustimmungstendenzen der MFA auf: So gaben beispielswiese
62,6% der MFA an, die Ersterhebung der Anamnese bereits zu
übernehmen, wohingegen nur 45,8% der Ärzt:innen berichteten,
dass sie die entsprechende Aufgabe delegieren. Die Abweichungen sind
möglicherweise auf ein unterschiedliches Verständnis von Delegation
oder vom Umfang der durchgeführten Tätigkeiten
zurückzuführen. Die erfragten Aufgaben sind zum Teil mehrstufig,
sodass eine bereits praktizierte Arbeitsteilung (im Sinne einer anteiligen
Delegation) von den beiden Berufsgruppen unterschiedlich aufgefasst werden
könnte.
Die unterschiedlichen Einstellungen zwischen den beiden Berufsgruppen erwiesen sich
in unseren explorativen Anschlussanalysen als weitgehend stabil und
unabhängig von strukturellen (Praxislage) und personenbezogenen Merkmalen
(Geschlecht, Berufserfahrung, Wochenarbeitszeit). Dies deutet auf eine hohe
Generalisierbarkeit hin. Lediglich Ärzt:innen mit kürzerer
Berufserfahrung (bis 15 Jahre) gaben seltener an, dass sie eine EKG-Vorbefundung
bereits übertragen. Warum Ärzt:innen mit mehr Berufserfahrung
angeben, diese Aufgabe häufiger zu delegieren, sollte in zukünftigen
Studien exploriert werden.
Die tendenziell höhere Bereitschaft der teilnehmenden MFA zur
Übernahme ärztlicher Tätigkeiten zeigte sich auch
für die beiden Fallbeispiele „DMP-Kontrolle Diabetes“ und
„unkomplizierter Harnwegsinfekt“. Beide Berufsgruppen stimmten
mehrheitlich zu, dass MFA in der Lage sind, selbstständig zu entscheiden, ob
eine ärztliche Vorstellung bei diesen beiden Beratungsanlässen
notwendig ist. Anhand des Fallbeispiels „DMP-Kontrolle“ wurden
weitere Delegationsmöglichkeiten identifiziert, die über die
Vorgaben der Delegationsvereinbarung hinausgehen. So können sich die meisten
Teilnehmer:innen vorstellen, dass MFA eine Routinekontrolle im Rahmen des DMP
Diabetes nach festem Schema eigenständig übernehmen können.
Neben der standardisierten Untersuchung und Dokumentation fallen darunter auch die
Beratung, die Folgeverordnung von Dauermedikation (z. B. für
Metformin) und die Ausstellung einer Überweisung (z. B.
zum/r Augenärzt:in). Entsprechende Tätigkeiten, welche die
Indikationsüberprüfung und Therapieentscheidung betreffen, sind in
der Delegationsvereinbarung allerdings nicht als delegierbare ärztliche
Leistungen definiert [14 ]. Ein Literaturreview
von 2021 legt jedoch nahe, dass Aufgaben wie die Versorgung von Menschen mit
chronischen Erkrankungen, die Verschreibung von Medikamenten und die
Gesundheitserziehung tatsächlich von Hausärzt:innen auf
nichtärztliches Fachpersonal übertragen werden können, ohne
dass die Behandlungsqualität darunter leidet [5 ]. Bei Patient:innen mit Diabetes mellitus Typ
2 kann eine entsprechende Delegation sogar zu einer verbesserten
glykämischen Kontrolle und höherer Zufriedenheit führen
[40 ]. Die Übertragbarkeit
internationaler Erfahrungen und Praktiken auf die deutsche Primärversorgung
ist jedoch aufgrund der bestehenden rechtlichen Rahmenbedingungen mit teilweise
ungeklärten Haftungskonsequenzen [11 ]
[14 ]
[15 ] und der erheblichen Unterschiede zwischen
den Qualifizierungsgraden und Verantwortlichkeiten der nichtärztlichen
Gesundheitsberufe stark eingeschränkt [7 ]
[19 ]
[20 ]
[21 ]
[22 ].
Im Kontrast zu den hohen Zustimmungsraten für eine umfängliche
Delegation von DMP-Kontrollen sind die Teilnehmer:innen beider Berufsgruppen
mehrheitlich der Ansicht, dass MFA beim akuten Beratungsanlass
„unkomplizierter Harnwegsinfekt“ ein Rezept für ein
Antibiotikum nicht selbstständig verordnen und ohne ärztlichen
Kontakt ausstellen sollten. Hier zeigt sich, dass die Delegation von Rezeptierungen
an MFA von den Teilnehmer:innen differenziert wahrgenommen wird und wahrscheinlich
davon abhängt, ob es sich um eine Erst- oder Folgeverordnung handelt.
Auch bei der selbstständigen Ausstellung einer AU-Erstbescheinigung durch MFA
sind die Teilnehmer:innen zurückhaltend. Möglicherweise liegt die
Bereitschaft zur Übertragung bzw. Übernahme höher, wenn es
sich um das Ausstellen einer AU-Folgebescheinigung handelt, da diese
Tätigkeit wie auch das Folgerezept und die Folgeüberweisung im
Rahmen eines DMP zwar eine Überprüfung der
Indikationsvoraussetzungen jedoch keine neue Indikationsstellung beinhaltet.
Im Einklang mit der bestehenden Literatur wird als Voraussetzung für eine
mögliche Ausweitung delegierbarer Leistungen neben gesetzlichen und
finanziellen Rahmenbedingungen insbesondere die persönliche Eignung und
Qualifikation der übernehmenden MFA genannt [5 ]
[16 ]
[21 ]
[24 ]
[39 ].
In einer Querschnittsuntersuchung (mit allerdings kleiner Stichprobe) berichteten
vorwiegend im Krankenhaus tätige Fachärzt:innen, die bereits an
Physician Assistants delegieren, dass sie dadurch eine hohe Zufriedenheit und
deutliche Entlastung verspüren [41 ].
Die Schaffung eines höher qualifizierten, nichtärztlichen Berufs im
Sinne einer Community Health Nurse, eines Nurse Practitioners oder einer Physician
Assistance wird in unserer Befragung von lediglich 30% der Teilnehmer:innen
als wichtig empfunden. Diese Einschätzung geht einher mit
Veröffentlichungen von Iqbal-Ochs und Popert [42 ] sowie von Mußgnug et al. [20 ], in denen die Bedeutung von
zusätzlichen nichtärztlichen Berufsbildern für die
hausärztliche Versorgung kritisch gesehen wird.
Die Interpretation unserer Ergebnisse unterliegt einigen Limitationen: Da es zur
Erfassung von Einstellungen zur Delegation kein standardisiertes Vorgehen gibt,
wurde der Fragebogen auf Basis bereits bestehender Fragebögen selbst
entwickelt, anschließend pilotiert jedoch nicht validiert.
In der niedrigen und dazu regional unterschiedlichen Teilnahmerate – sowohl
auf ärztlicher als auch auf nichtärztlicher Seite – liegt
die wahrscheinlich größte Limitation unserer Studie. In der
Literatur gibt es Hinweise darauf, dass das Alter, das Geschlecht, die Praxisform
und die Praxislage einen Einfluss darauf haben, ob Hausärzt:innen an
Befragungen und anderen Forschungsprojekten teilnehmen [21 ]
[43 ]
[44 ]. Die Non-Responder-Analyse
konnte zeigen, dass Ärzt:innen, die nicht an unserer Befragung teilnahmen,
häufiger in Einzelpraxen arbeiten, was auf eine höhere
Arbeitsbelastung hindeuten könnte.
Darüber hinaus ergaben sich bei weiteren erhobenen Charakteristika
(Praxislage, Geschlecht) keine relevanten Unterschiede zwischen der Grundgesamtheit
und den sicheren Non-Respondern [21 ]. Dennoch
können Selektionseffekte nicht ausgeschlossen werden. Zu vermuten ist, dass
überwiegend Ärzt:innen und MFA an der Befragung teilnahmen, die dem
Thema Delegation gegenüber offener eingestellt sind. Weitere Verzerrungen
wie soziale Erwünschtheit, Zustimmungstendenz oder unscharf definierte
Tätigkeitsumfänge,) überschätzen
möglicherweise die tatsächlich in der Gesamtheit der Praxen
vorhandene Delegationsbereitschaft.
Schlussfolgerung
Die Delegation ärztlicher Tätigkeiten wird von den teilnehmenden
Ärzt:innen und MFA in einem hohen Maße befürwortet.
Zahlreiche Aufgaben und Tätigkeiten werden bereits delegiert, die
Bereitschaft zur weiteren Übertragung bzw. Übernahme ist in beiden
Berufsgruppen hoch, jedoch abhängig von unterschiedlichen
Rahmenbedingungen.
Fördermittel
Bundesministerium für Bildung und Forschung — http://dx.doi.org/10.13039/501100002347 ;
01GK1902A