Nervenheilkunde 2023; 42(12): 893-894
DOI: 10.1055/a-2136-5547
Gesellschaftsnachrichten

Kopfschmerz News der DMKG

 

Flunarizin zur Migräneprophylaxe – Beurteilung nach modernen Kriterien

** Deligianni CI, Sacco S, Ekizoglu E, et al. European Headache Federation (EHF) critical re-appraisal and meta-analysis of oral drugs in migraine prevention-part 2: flunarizine. J Headache Pain 2023; 24(1): 128. doi: 10.1186/s10194-023-01657-3

Hintergrund

In den letzten Jahren sind eine Reihe neue Migräneprophylaktika auf den Markt gekommen, deren Wirksamkeit und Verträglichkeit anhand von modernen, großen, standardisierten RCT untersucht wurde. Richtlinien zur Durchführung solcher RCT wurden veröffentlicht. Der Artikel ist Teil 2 einer Serie, in der die EHF klassische Migräneprophylaktika nach diesen Richtlinien beurteilt, hier: Flunarizin (Teil 1 bezog sich auf Amitriptylin). Dabei wurden die 2021 veröffentlichten COSMIG-Richtlinien verwendet [1].


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Inhalt

Die Studie identifizierte 5 RCT, in denen Flunarizin gegen Placebo getestet wurde. Die Studien wurden zwischen 1981 und 1991 veröffentlicht und hatten zwischen 20 und 101 Patienten eingeschlossen. Es wurde bemängelt, dass inzwischen veraltete Diagnosekriterien für die Migräne verwendet worden waren, dass nicht berichtet worden war, ob eine vorbestehende Prophylaxe mit genügend Abstand ausgeschlichen wurde, dass für die meisten Studien unklar war, ob die Kopfschmerzhäufigkeit anhand von Tagebüchern oder retrospektiv erhoben wurde, und dass die Studien sehr klein waren. Alle Studien waren in Bezug auf ihren Endpunkt (Migräneattacken pro Monat) signifikant. Keine der Studien hatte einen von den Autoren geforderten Wirksamkeitsendpunkt erhoben (akzeptiert wurden: Reduktion der monatlichen Migränetage (MMD) oder Anzahl der 50 %-Responder bzgl. MMD). Eine Zusammenfassung der Nebenwirkungen, die zu einem Studienabbruch geführt hatten, zeigte angeblich einen signifikanten Unterschied zu Placebo, allerdings war die 0 im Konfidenzintervall enthalten. Anhand dieser Ergebnisse wurde geschlussfolgert, dass nach modernen Methoden keine Aussage zur Wirksamkeit von Flunarizin möglich ist.


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Kommentar

Es ist ohne Zweifel ungünstig, dass wir für die klassischen Migräneprophylaktika in vielen Fällen nur ältere und kleinere Studien zur Verfügung zu haben. Diese entsprechen zwar nicht modernen Empfehlungen, sie aber trotz relevanten Endpunkten kategorisch als unzureichend zu klassifizieren, finde ich übermäßig formalistisch. Natürlich wäre es hervorragend, die klassischen Migräneprophylaktika nochmal in modernen Studien untersuchen zu können, aber ich halte es für sehr unwahrscheinlich, dass es dazu jemals kommen wird. Erstens sind Medikamentenstudien extrem aufwändig und teuer, also ohne einen dahinterstehenden Sponsor kaum zu leisten, und zweitens haben Patienten vermutlich kein Interesse, an einer placebokontrollierten Studie mit einem Medikament teilzunehmen, das sie auch ohne Studie erhalten können. Wenn wir die klassischen Prophylaktika nicht für alle Zeit aussortieren wollen, dann müssen wir die vorhandene Evidenz zusammenführen und kritisch diskutieren. Es gibt mehrere gut gemachte Metaanalysen, die zum Schluss kommen, dass Flunarizin zur Migräneprophylaxe wirksam ist, und dies wird durch größere Studien untermauert, die keinen Unterschied zu Propranolol fanden [2], [3]. Schwerer als der nicht mehr moderne Endpunkt wiegen, finde ich, Qualitätskriterien wie ungenügende Informationen über Verblindung oder Erhebung von Migränehäufigkeit ohne Kopfschmerzkalender. Hier wiederum würde ich den Autoren zustimmen, dass über das Evidenzlevel, das mit solchen Studien erreicht werden kann, neu nachgedacht werden müsste.

Insgesamt macht die Veröffentlichung leider den Eindruck, an einigen Stellen nicht gut durchdacht zu sein. Das betrifft z. B. die beschriebene Unklarheit bezüglich der Signifikanz der Nebenwirkungen, ebenso gibt es Inkonsistenzen bezüglich der geforderten Endpunkte. Auch entsprechen die verwendeten Kriterien nicht denen der zitierten COSMIG-Veröffentlichung (dort werden Kopfschmerztage oder Migränetage pro Monat empfohlen [1]). Es ist schade, dass die EHF sich für diese Art von Veröffentlichungen und die notwendige Diskussion nicht mehr Zeit nimmt.

Ruth Ruscheweyh, München


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Consensus Guidelines der Diagnostik und des Managements der SIH

**** Cheema S, Anderson J, Angus-Leppan H, et al. Multidisciplinary consensus guideline for the diagnosis and management of spontaneous intracranial hypotension. J Neurol Neurosurg Psychiatry 2023; 94(10): 835–843

Hintergrund

Die Definition primärer Kopfschmerzerkrankung verlangt die differenzialdiagnostische Erwägung konkurrierender Ursachen, einschließlich sekundärer Kopfschmerzen, deren Untersuchung herausfordernd sein kann. Die spontane intrakranielle Hypotension (SIH) gehört zu diesen Differenzialdiagnosen, bei der ein Liquorunterdruck die Ursache eines sekundären Kopfschmerzes darstellt. Typischerweise liegt ein orthostatischer Kopfschmerz vor, der in der Arbeit als Kopfschmerz mit reproduzierbarer Entstehung innerhalb von 2 Stunden nach dem Aufrichten, und Abwesenheit oder deutlicher Reduktion innerhalb von 2 Stunden in liegender Position definiert wurde. Sowohl weitere Differenzialdiagnosen des orthostatischen Kopfschmerzes als auch die Diagnose und Management der SIH sind uneinheitlich.


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Zusammenfassung

Diese Consensus Guideline von 33 Autoren, die überwiegend aus Großbritannien stammen, wurde in einem modifizierten Delphi-Verfahren (Agree II, advancing Guideline development, reporting and evaluation in health care) erarbeitet, welches eine systematische Literaturübersicht, Definition von Schlüsselfragen und iterativ konsentierte Leitlinie beinhaltet. Es wurden 22 Schlüsselfragen definiert, die klinische Präsentation, Diagnostik und Management umfassen. Neben orthostatischen Kopfschmerzen werden Schwindel, Übelkeit, Hörstörungen/Ohrdruck, Nackenschmerzen und Tinnitus als typische Symptome berichtet. Als differenzialdiagnostische Hinweise werden Schmerzen durch Manipulation der Halswirbelsäule für einen zervikogenen Kopfschmerz, Bewegungsabhängigkeit ohne Lageabhängigkeit für eine Migräne und lageabhängige Änderungen von Kreislaufparametern für ein posturales Tachykardiesyndrom bzw. eine orthostatische Hypotension angegeben. Zur Diagnosestellung einer SIH werden ein zerebrales MRT mit Kontrastmittel (KM) empfohlen. Typische Befunde sind eine pachymenginale KM-Aufnahme, eine Absenkung der Corpora mammillaria gegenüber dem Pons sowie ein Sagging von Hirnstamm und Kleinhirntonsillen. Ein spinales MRT kann Liquordepots und mögliche Ursachen, z. B. Spondylophyten, jedoch selten die Lokalisation eines Liquorlecks zeigen. Sollte der klinische Verdacht einer SIH trotz unauffälliger Bildgebung bestehen bleiben, wird zunächst eine interdisziplinäre Fallbesprechung mit einem erfahrenen Neuroradiologen empfohlen sowie in Ausnahmefällen bis zu 2-mal ex juvantibus ein epiduraler Blutpatch (EBP, 20–40 ml Eigenblut). Bei unauffälligen MRT-Befunden besteht zudem die Möglichkeit einer Liquor-Venenfistel, die mittels Myelografie von einem erfahren Neuroradiologen detektiert werden kann. Eine CT-Myelografie wird zur Detektion eines Liquorlecks für einen gezielten EBP oder eine neurochirurgische Intervention empfohlen. Zuvor sollten jedoch bis zu 2 Wochen als konservative Maßnahmen Bettruhe, Hydratation und Vermeidung von Valsalva-Manövern durchgeführt werden. Der Einsatz von Koffein kann erwogen werden. Sollten EPB notwendig und hilfreich sein, wird dies in Intervallen von 2–4 Wochen bei Rezidiven empfohlen. Als Komplikationen einer SIH müssen Subduralhämatome, Hirnvenen-/Sinusthrombosen und superfizielle Siderosen, v. a. bei Kleinhirnsymptomen, bedacht werden.


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Kommentar

Diese hochrangig publizierte Übersichtsarbeit und konsentierte Leitlinienempfehlung ist eine sehr wertvolle Ergänzung zur S1-Leitlinie zur intrakraniellen Hypotension der Deutschen Gesellschaft für Neurologie [1]. Beide Arbeiten zeigen, dass die Differenzialdiagnostik herausfordernd sein kann und eine genaue Anamnese sowie Kenntnis klinischer Symptome wegweisend ist, da selbst ein unauffälliges MRT die Diagnose nicht ausschließt. Die S1-Leitlinie weist deutlich mehr Optionen der Pharmakotherapie aus, während die britisch dominierte Arbeit physikalische Therapien in den Vordergrund rückt. Insbesondere die Fließdiagramme können eine hilfreiche Orientierung bieten.

Robert Fleischmann, Greifswald

INFORMATION

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Exzellente Arbeit, die bahnbrechende Neuerungen beinhaltet oder eine ausgezeichnete Übersicht bietet

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Gute experimentelle oder klinische Studie

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Gute Studie mit allerdings etwas geringerem Innovationscharakter

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Studie von geringerem klinischen oder experimentellen Interesse und leichteren methodischen Mängeln

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Studie oder Übersicht mit deutlichen methodischen oder inhaltlichen Mängeln

Die Kopfschmerz-News werden betreut von der Jungen DMKG, vertreten durch Dr. Robert Fleischmann, Greifswald, Dr. Katharina Kamm, München (Bereich Trigemino-autonomer Kopfschmerz & Clusterkopfschmerz), Dr. Laura Zaranek, Dresden (Bereich Kopfschmerz bei Kindern und Jugendlichen) und Dr. Thomas Dresler, Tübingen (Bereich Psychologie und Kopfschmerz).

Ansprechpartner ist Dr. Robert Fleischmann, Klinik und Poliklinik für Neurologie, Unimedizin Greifswald, Ferdinand-Sauerbruch-Str. 1, 17475 Greifswald, Tel. 03834/86-6815, robert.fleischmann@uni-greifswald.de

Die Besprechungen und Bewertungen der Artikel stellen die Einschätzung des jeweiligen Autors dar, nicht eine offizielle Bewertung durch die Deutsche Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft.


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  • Literatur

  • 1 Haywood K. et al BMJ Open. 2021; 11: e043242
  • 2 Jackson JL. et al PLoS One. 2015; 10: e0130733
  • 3 Stubberud A. et al Pain. 2019; 160: 762-772
  • 4 Dieterich M.. et al Diagnostik und Therapie des postpunktionellen und spontanen Liquorunterdruck-Syndroms, S1-Leitlinie. In: DGN (Hrsg.), Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie. Berlin. 2023

Publication History

Article published online:
13 December 2023

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  • Literatur

  • 1 Haywood K. et al BMJ Open. 2021; 11: e043242
  • 2 Jackson JL. et al PLoS One. 2015; 10: e0130733
  • 3 Stubberud A. et al Pain. 2019; 160: 762-772
  • 4 Dieterich M.. et al Diagnostik und Therapie des postpunktionellen und spontanen Liquorunterdruck-Syndroms, S1-Leitlinie. In: DGN (Hrsg.), Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie. Berlin. 2023