Nervenheilkunde 2023; 42(12): 886-890
DOI: 10.1055/a-2136-5473
Geist & Gehirn

Lachgas gegen Depression?

Manfred Spitzer
 

Warum ist eigentlich niemand früher draufgekommen, dass Lachgas gegen Depression helfen könnte? Wie man der Wikipedia entnehmen kann, wurde Lachgas bereits im Jahr 1771 von dem englischen Pfarrer, Chemiker und Physiker Joseph Priestley beschrieben und rein hergestellt. Ebenfalls ein Engländer, der Apotheker Humphry Davy, begann dann 26 Jahre später damit, durch Selbstversuche die psychotropen, analgetischen und anästhetischen Wirkungen des Lachgases zu untersuchen. Daher rührt auch der englische Name „laughing gas“, der mit dem deutschen „Lachgas“ einfach übernommen wurde. Das Gas wurde im vorletzten Jahrhundert in Europa und vor allem in den USA auf „Lachgasparties“ ([ Abb. 1 ]) oder zur Belustigung auf Jahrmärkten verwendet. – Wie konnte man eigentlich angesichts dieser geschichtlichen Ereignisse nicht auf die Idee kommen, Lachgas gegen Schwermut, wie Depression früher auch genannt wurde, therapeutisch einzusetzen?

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Abb. 1 Dieses undatierte Bild einer privaten Lachgasparty trägt den Titel “Doctor and Mrs Syntax, with a party of friends, experimenting with laughing gas. Coloured aquatint by T. Rowlandson after W. Combe”, wurde leicht modifiziert und entstammt der Sammlung Wellcome Images, einer Webseite des gemeinnützigen britischen Wellcome Trust (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Doctor_and_Mrs_Syntax,_with_a_party_of_friends,_experimentin_Wellcome_V0011224.jpg; abgerufen am 17.9.2023). Foto: ©Wikipedia.com/Wellcome Collection gallery.

Vielleicht war es ja Zufall, dass nicht ein Psychiater, sondern der Zahnarzt Horace Wells am 10. Dezember 1844 auf einem Jahrmarkt im neuenglischen Hartfort die schmerzstillende Wirkung von Lachgas bei einer zur Volksbelustigung dienenden Vorführung beobachtete. Er war so beeindruckt, dass er sich selbst am folgenden Tag einen Zahn unter Lachgas-Narkose ziehen ließ. Er und weitere Zahnärzte begannen danach mit der Verwendung von Lachgas in ihren Praxen, und bis heute gehört Lachgas zur Standardausrüstung in der Zahnmedizin. Längere Operationen hingegen waren zunächst nicht möglich, weil Lachgas für die Schmerzbekämpfung so hoch dosiert werden muss, dass den Leuten buchstäblich die Luft ausgeht: Um mit Lachgas Schmerzfreiheit zu erzielen, muss man so viel – etwa 70 % – der Atemluft beimischen, dass es nach wenigen Minuten zu lebensbedrohlichem Sauerstoffmangel kommen kam. Erst nachdem Edmund Andrews, Professor für Chirurgie in Chicago, im Jahr 1868 den Einsatz von Lachgas in Kombination mit 20 % reinem Sauerstoff publiziert hatte und damit erfolgreich in Lachgas-Narkose operierte, fand Lachgas Eingang in die chirurgische Praxis. Seit 1887 wird Lachgas bis heute auch in der Geburtshilfe zur Schmerzbekämpfung eingesetzt.

Das farb- und geruchlose Lachgas ist ein Oxid des Stickstoffs und hat den chemischen Namen Distickstoffmonoxid, die Summenformel N2O und wird zuweilen auch als Stickoxydul bezeichnet. Es brennt nicht, kann aber andere Stoffe wie z. B. Kohle verbrennen wie Sauerstoff. Aufgrund dieser Eigenschaft wurde es zur Steigerung der Leistung von Motoren (z. B. von Flugzeugmotoren im Zweiten Weltkrieg) und sogar als Raketentreibstoff (Oxydator) verwendet. Im chemisch-analytischen Verfahren der Atomabsorptionsspektrometrie wird Lachgas eingesetzt, um hohe Temperaturen (bis zu 2800 °C) zu erzeugen, damit Atome zum Glühen gebracht und das von ihnen ausgesendete Licht analysiert werden kann. Andererseits wird Lachgas auch zur Kryoablation (Abtragung durch „Vereisung“) von Herzmuskelgewebe wegen seiner raschen Verdampfung als Kühlmittel eingesetzt. Das Gas löst sich in Wasser und in Fett. Ein weiterer Name von Lachgas ist E 942, unter dem es als Lebensmittelzusatzstoff zur Verwendung als Treibgas – beispielsweise für Schlagsahne aus der Sprühdose – zugelassen ist. Wenn Sie also einmal gefragt werden, welcher Stoff zum Antrieb von Raketen, bei Autorennen, zum Erzeugen von Kälte und Hitze, für die Narkose und für die Schlagsahne zum Essen verwendet wird – all dies kann/macht Lachgas, ein wahrhaftiges Chamäleon.

Als sei dies alles noch nicht genug, ist Lachgas auch noch in der Drogenszene als Rauschdroge im Gebrauch. Der Rausch selbst ist relativ gefahrlos und mit 30 Sekunden bis 3 Minuten auch nur von kurzer Dauer. Sogar der Erwerb von Lachgas ist gefahrlos: Man kann es in fast jedem Supermarkt in Form von Kartuschen für Schlagsahne-Spender einkaufen. Wahrscheinlich deswegen wird Lachgas mittlerweile von Schülern nach Alkohol und neben Cannabis am häufigsten als Rauschdroge konsumiert. Die niederländische Regierung hat daher seit dem 1. Januar 2023 Lachgas als Rauschmittel eingestuft und verboten [5]. Dies erscheint durchaus berechtigt, nahm doch der Konsum und damit auch die Anzahl der medizinischen Notfälle durch Lachgas in den letzten Jahren deutlich zu ([ Abb. 2 ]) [6]. Nach einer Mitteilung der BBC beispielsweise kam es allein in Großbritannien in den Jahren 2006–2012 zu 17 Todesfällen aufgrund von Lachgas-Abusus [1]. Einem kürzlich erschienen Bericht des britischen 24-Stunden-Nachrichtenkanals Sky News vom 5. September 2023 zufolge entstanden beim diesjährigen Notting Hill Carnival im gleichnamigen Londoner Stadtteil (am 27. und 28. August 2023) etwa 13 Tonnen Lachgas-Kartuschen-Müll. Die Londoner Ambulanzen hatten während des Events im Jahr 2022 mit 213 Anrufen wegen lachgasbedingter Notfälle deutlich mehr zu tun als ein Jahr zuvor (65 Anrufe) [2]. Der Trend nach oben sieht damit jenseits des Ärmelkanals ähnlich aus wie diesseits. Daher ist in Großbritannien zum Ende des Jahres ein gesetzliches Verbot von Lachgas geplant, ähnlich dem bereits in den Niederlanden bestehenden Verbot. Obwohl Lachgas im Tierexperiment und in Studien am Menschen einen belohnenden Effekt hat, wird dessen Suchtpotenzial in der Literatur als gering eingestuft [19].

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Abb. 2 Anzahl der lachgasbezogenen Meldungen in Frankreich pro Jahr beim französischen Sucht-Vigilanz-Netzwerk (addictovigilance network) für die Jahre 2012–2021 (nach Daten aus [6]).

Nicht unerwähnt bleiben sollte noch, dass Lachgas nach Kohlendioxid (CO2) und Methan (CH4) das drittwichtigste Treibhausgas ist [17], dessen Beitrag zur globalen Erwärmung durch den Treibhauseffekt vor allem aufgrund seiner Langlebigkeit in der Atmosphäre bei knapp 10 % liegt. Hinzu kommt noch sein Effekt auf Ozon: Weil das Stickoxid Lachgas in der Stratosphäre weiter oxidiert wird und hierbei verschiedene Stickoxide (NOx) entstehen, die dort mit Ozon reagieren und dieses damit abbauen, hat Lachgas mittlerweile alle Fluorchlorkohlenwasserstoffe (FCKW) zusammengenommen im Hinblick auf den negativen Effekt auf das „Ozonloch“ überholt, wie im Fachblatt Science schon vor Jahren nachzulesen war [13].

Zurück zur Depressionsbehandlung in der Medizin. Wenn man in der Datenbank PubMed unter den Stichworten „nitrous oxide“ und „depression“ nach Publikationen sucht (Stand: Mitte September 2023), erhält man 34 „hits“, die jedoch auch von Knochenmarksdepression bei Zahnärzten, die viel Lachgas in ihrer Praxis verwenden, von der Unterdrückung („depression“) kortikaler somatosensorischer evozierter Potenziale (ssEP) durch Lachgas oder von Atemdepression bei Ratten unter Lachgas berichten. Lediglich 13 Arbeiten handeln von Lachgas und psychiatrischer Depression. Wie sich beim genaueren Durchsehen der Literatur herausstellte, drehten sich die älteren der ab 1955 erschienenen Arbeiten durchweg um Lachgas und Atem-, Myokard- und Knochenmarksdepression sowie 30 Jahre später (ab 1985) zusätzlich noch um die Unterdrückung von Potenzialen oder Reflexen. Erst weitere 30 Jahre später – im Jahr 2015 – erschienen gleich 3 Arbeiten über Lachgas zur Therapie der Depression. Seither wurden weitere 11 Arbeiten zu den Suchbegriffen publiziert, von denen sich 10 tatsächlich auf die psychiatrische Erkrankung beziehen. Nur noch eine (publiziert in diesem Jahr) handelt von der Unterdrückung („depression“) eines Phänomens durch Lachgas, nämlich von NMDA-Rezeptoren durch Lachgas, also nicht von klinischer Depression.

Oder vielleicht doch? – Trotz der unübersehbaren semantischen Verknüpfung – Gegensätze wie „heiß–kalt“, „jung–alt“, „klein–groß“ und auch „lachen–weinen“ gehören zu den stärksten Assoziationen, die uns „automatisch“ einfallen [15] – bedurfte es einer zusätzlichen rationalen Motivation, damit der Gedanke „Lachgas gegen Depression“ ernsthaft aufgegriffen und erstmals praktisch erprobt wurde. Diese bestand im vermuteten Wirkungsmechanismus von Lachgas, dessen psychotrope und anästhetische Wirkungen mit einem Antagonismus von bestimmten Glutamatrezeptoren, den N-Methyl-D-Aspartat (NMDA-) Rezeptoren, in Verbindung gebracht werden. Auf diesen Mechanismus werden auch die prinzipiell ähnlichen Wirkungen von Ketamin zurückgeführt, sodass dessen Verwendung zur Therapie der Depression letztlich den Anstoß zu Versuchen mit Lachgas gab. Während das starke Narkosemittel Ketamin bei der Behandlung von Depressionen in einer Dosierung verabreicht wird, die einem Bruchteil seiner Narkosedosis entspricht, wurde Lachgas beim Menschen mit behandlungsresistenten Depressionen in Konzentrationen von 25 % und 50 % verabreicht (die restlichen Anteile sind Sauerstoff), also vergleichsweise nahe an der anästhetischen Dosis.

Eine im Fachblatt Biological Psychiatry publizierte randomisierte placebokontrollierte Studie mit Cross-over von Peter Nagele, Charles R. Conway und Mitarbeitern zeigte an 20 Patienten einen signifikanten antidepressiven Effekt der einmaligen einstündigen Inhalation von Lachgas sowohl 2 Stunden als auch 24 Stunden nach der Verabreichung ([ Abb. 3 ]) [12]. Die größten Veränderungen auf Item-Ebene zeigten depressive Stimmung und Suizidgedanken, wiederum ganz ähnlich wie Ketamin. Das Studien-Design war so angelegt, dass eine Woche nach der ersten Gabe die zweite erfolgte, wobei sich zeigte, dass der antidepressive Effekt bei den 10 Patienten, die Lachgas erhalten hatten, noch immer vorhanden war. Das war unerwartet.

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Abb. 3 Auswirkungen der Behandlung mit Lachgas auf depressive Symptome, gemessen mit der 21 Items umfassenden Hamilton Depression Rating Scale (HDRS-21; nach Daten aus [12]); Absolutwerte links und relative Veränderung der Werte rechts. Die Unterschiede gegenüber der Placebo-Kontrollgruppe waren in der Lachgas-Gruppe nach 2 Stunden signifikant (**p < 0,01) und nach 24 Stunden hoch signifikant (***p < 0,001).

Daher wurde von der gleichen Arbeitsgruppe eine Phase-II-Studie bei 24 Patienten mit therapierefraktärer Depression (treatment-resistant major depression; TRMD) durchgeführt und im Jahr 2021 publiziert. Wieder zeigte sich ein antidepressiver Effekt der einmaligen Gabe von Lachgas, der nach einer Woche noch immer anhielt ([ Abb. 4 ]). Da 2 Dosierungen von Lachgas verwendet worden waren, konnte gezeigt werden, dass die Wirksamkeit von 50 % Lachgas der von 25 % Lachgas nicht überlegen war. Da jedoch die Anzahl der Nebenwirkungen (n = 47) in der Gruppe, die mit der höheren Dosis behandelt worden war, signifikant höher war als in den beiden anderen Gruppen (25 % Lachgas: n = 11; Placebo: n = 6; p < 0,0001), ergibt sich ein eindeutiger Vorteil der niedrigen Dosierung (25 %iges Lachgas) – gleiche Wirksamkeit bei besserer Verträglichkeit.

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Abb. 4 Veränderung der depressiven Symptome zum Ausgangswert nach Gabe von 50 % Lachgas, 25 % Lachgas oder Placebo auf der Hamilton Depression Rating Scale. In der von den Autoren durchgeführten Intention-to-Treat-Analyse der 24 Studienpatienten war der Gesamteffekt von Lachgas (beide Gruppen; n = 16) im Vergleich zu Placebo (n = 8) signifikant (p = 0,01), aber es gab keinen signifikanten Unterschied zwischen 25 % und 50 % Lachgas (nach Daten aus [12]).

Im diesjährigen September/Oktober-Heft der Zeitschrift Journal of Clinical Psychiatry wurde schließlich eine Studie publiziert, die die Wirkung von Lachgas speziell auf Suizidalität (HDRS-Item Nr. 3) untersuchte. Hierbei wurden Daten aus 3 kleinen randomisierten, placebokontrollierten Doppelblindstudien mit 30 Patienten mit behandlungsresistenter Depression analysiert, die eine 60-minütige Inhalationssitzung mit 50 % Lachgas oder Placebo (Umgebungsluft) erhielten [3]. Die Suizidalität wurde nach 2 und 24 Stunden erfasst, wobei eine „klinisch bedeutsame Verringerung“ der Suizidalität als eine Verringerung des Wertes um mindestens 2 Punkte auf dem 4-stufigen Item definiert wurde (d. h. Patienten mit einem Ausgangswert von 1 wurden von der Analyse ausgeschlossen, ebenso Personen mit aktiver Suizidabsicht oder -planung, einschließlich Suizidversuchen). Analysiert wurden die Daten von 13 Lachgas-behandelten Patienten und von 17 Patienten in den Placebogruppen. Wie sich zeigte, war ein antisuizidaler Effekt nach 2 Stunden noch nicht, nach 24 Stunden jedoch statistisch signifikant (p = 0,019) nachweisbar: 7 der 13 mit Lachgas behandelten Patienten – aber nur 2 der 17 Patienten in den Placebogruppen – wiesen einen Rückgang der Suizidalität um mindestens 2 Punkte auf. Dies ging einher mit einem signifikanten Rückgang der Depressivität insgesamt. Insbesondere beim Vorliegen von akuter Suizidalität könnte Lachgas in einer Dosis von 25 % mithin zu einem weiteren klinisch relativ einfach einsetzbaren Werkzeug mit wenig Risiken und Nebenwirkungen in der Behandlung depressiver Patienten werden. Damit könnte diese kleine Übersicht schließen, gäbe es nicht noch 3 Fragen, die sich dem aufmerksamen Leser stellen.

Ist Lachgas aufgrund seiner Verwendung als Rauschmittel für die Therapie der Depression überhaupt geeignet? – Eine kürzlich erschienene britische Studie [4] untersuchte die Prävalenz von illegalem Drogenkonsum und dessen Zusammenhang mit psychiatrischen Erkrankungen bei einer Gruppe von 543 Studenten. Hierzu wurden Substanzkonsum, Angst, Depression, wahrgenommener Stress und Schlaflosigkeit online erfragt. Der Konsum von Cannabis, Kokain, Lachgas, Ketamin und Methylendioxymethylamphetamin (MDMA; Ecstasy) war unabhängig vom betrachteten Zeitraum (das gesamte Leben, das letzte Jahr oder der letzte Monat) häufig ([ Abb. 5 ]). Dies könnte zunächst als Suchtgefährdung von Studenten mit psychischen Auffälligkeiten gewertet werden. Wie sich jedoch herausstellte, waren die Hauptmotivatoren für den Substanzkonsum ein geringes Selbstvertrauen und der Wunsch nach Selbstmedikation. Möglicherweise versuchten die Studenten also, ihre Probleme selbst zu behandeln und wählten hierbei Substanzen aus, von denen zumindest einige bekanntermaßen tatsächlich antidepressiv wirksam sind. Lachgas wird wahrscheinlich nicht umsonst mit einer sehr ähnlichen Häufigkeit konsumiert wie Ketamin, MDMA und Kokain. Sein Abhängigkeitspotenzial ist jedoch vergleichsweise eher gering.

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Abb. 5 Prävalenz von illegalem Drogenkonsum bei einer Gruppe von 543 Studenten (nach Daten aus [4]).

Könnte nicht die Verwendung von Lachgas in der Geburtshilfe zur Schmerzbekämpfung dazu führen, dass es aufgrund von dessen jetzt erst bekannt gewordener antidepressiver Wirkung zu einer geringeren Häufigkeit an postpartalen Depressionen kommen könnte? Oder kurz: Wirkt Lachgas prophylaktisch gegen Wochenbettdepression bzw. Post-partum-Blues? Obwohl Lachgas seit 136 Jahren in der Geburtshilfe zur Schmerzbekämpfung eingesetzt wird, ist die Datenlage hierzu sehr übersichtlich: Eine kanadische Metaanalyse zu den Auswirkungen der geburtshilflichen Analgesie auf postpartal psychische Störungen fand keinen Zusammenhang [10]. Betrachtet man sie genauer, so zeigt sich jedoch, dass sie den gar nicht finden konnte, weil sie ausgehend von einer Art „Schmerz-Stress-PTSD-Depressions-Hypothese“ eigentlich der Frage nachging, ob die Behandlung von Schmerzen unter der Geburt (vor allem durch Epiduralanalgesie) das Risiko einer Wochenbettdepression vermindern kann. Dafür fanden sie keinen Hinweis.

Geht man den in der Metaanalyse genannten Studien, in denen Lachgas zum Einsatz kam nach ([ Tab. 1 ]), so zeigen diese zumindest Hinweise darauf, dass der Einsatz von Lachgas bei der Geburt mit vergleichsweise weniger Wochenbettdepressionen einhergeht. Allerdings war diese Frage nie explizit Thema und wurde daher auch nicht wirklich untersucht, weswegen diese ohnehin schon spärliche Literatur nur ein paar „Erkenntniskrümel“ liefert. Hiltunen und Mitarbeiter [7] fanden am zweiten Tag postpartum einen antidepressiven Effekt von Lachgas-Analgesie, der jedoch zum zweiten Beobachtungszeitpunkt nach 4 Monaten nicht mehr vorhanden war. Zanardo et al. [21] fanden nur einen numerischen Effekt, heben jedoch in ihrer Zusammenfassung hervor, dass die Analgesie mit Lachgas sich positiv auf das psychoemotionale Erleben der Wehen und den Stillerfolg der Frauen auswirkt, d. h. mit signifikant höheren Stillraten ab dem siebten Tag nach der Entlassung (p < 0,031), im ersten (p < 0,043) und im dritten Lebensmonat (p < 0,016) assoziiert war. Suhitharan und Mitarbeiter [16] fanden keinen antidepressiven Effekt von Lachgas, wohl aber einen positiven Effekt der Epiduralanalgesie (mit 10,0 % signifikant weniger Wochenbettdepressionen im Beobachtungszeitraum von 4–8 Wochen postpartum, verglichen mit 19,3 % der Patientinnen ohne). In der sehr großen Studie von Wu und Mitarbeitern gab es keinen Unterschied zwischen der Analgesie mit Lachgas (27 % Wochenbettdepression) und der Epiduralanalgesie (26 %), die Gabe von Opioiden hatte jedoch einen negativen Effekt (45 % Wochenbettdepression) [20].

Tab. 1

Studien zum möglichen Einfluss von Lachgas unter der Geburt auf die Entwicklung einer Wochenbettdepression, die in der Metaanalyse von Munro et al. 2020 [10] aufgeführt sind.

Autor/Jahr

n (ges)

N2O depressiv

Vergleich

Vergleich depressiv

p

Hiltunen et al. 2004

162

1/16

6,3 %

keine Analgesie

8/23

34,8 %

0,056

Suhitharan et al. 2016

479

29/203

14,3 %

Epiduralanalgesie

33/329

10 %

k. A.

Zanardo et al. 2017

184

33 %

Epiduralanalgesie

44 %

n. s.

Wu et al. 2018

80 606

27 %

Epiduralanalgesie

Opioide

26 %

45 %

k. A.

k. A.: keine Angaben, n. s.: nicht signifikant

Eine einzige prospektive Beobachtungsstudie zum Zusammenhang zwischen der Häufigkeit von postpartalen Depressionen und der Art der geburtshilflichen Analgesie, also direkt zum Thema, wurde erst nach der genannten Metaanalyse im vergangenen Jahr publiziert und stammt aus Kiew in der Ukraine [14]. Zwischen März 2020 bis Mai 2021 wurden 321 Frauen am zweiten oder dritten Tag nach der Entbindung mit dem Childbirth Experience Questionnaire befragt, von denen 35 % einem weiteren Screening auf postpartale Depression (PPD) mit der Edinburgh Postnatal Depression Scale zustimmten. Bei Frauen, die Lachgas (50:50) bzw. alternative Methoden der Schmerzbekämpfung erhielten, war die relative Häufigkeit des Auftretens einer Wochenbettdepression signifikant geringer (p = 0,044) – im Vergleich zu Frauen, bei denen eine Epiduralanalgesie durchgeführt worden war. Die Faktoren Alter, Parität, Art der Entbindung und Schmerzintensität hatten keinen Einfluss. Der fehlende Effekt der Epiduralanalgesie und der Schmerzintensität auf die Wahrscheinlichkeit einer Wochenbettdepression spricht gegen die Hypothese ihrer Verursachung durch Schmerz-Traumatisierung. Der signifikante Effekt von Lachgas bei einer nicht allzu großen Stichprobe spricht auf jeden Fall nicht gegen einen möglichen antidepressiven Effekt von Lachgas. Weitere Studien hierzu erscheinen definitiv wünschenswert.

Lachgas ist das drittwichtigste Treibhausgas. Lässt sich der erhöhte medizinische Einsatz von Lachgas aus dieser Sicht überhaupt verantworten? Einer im Fachblatt Nature publizierten Übersicht [18] zufolge ist global betrachtet der größte Teil davon nicht anthropogenen Ursprungs, sondern entsteht durch verschiedene natürliche Prozesse. Aufgrund dieser Tatsache erscheint es wenig sinnvoll, auf die Verwendung von Lachgas im Bereich der Medizin zu verzichten – zumindest solange man auch Schlagsahne mit Lachgas zum Kuchen genießt. Es ist davon auszugehen, dass eine zusätzliche Verwendung von Lachgas in der psychiatrischen Behandlung verglichen mit den Gesamtemissionen keine nennenswerte Rolle spielt. In der bisherigen, sehr umfassenden Betrachtung der globalen N2O-Emissionen [18] wird die medizinische Verwendung gar nicht gesondert aufgeführt. Zwar sollte auch die Medizin nicht prinzipiell aus den Überlegungen zur Reduktion von Treibhausgas-Emissionen ausgenommen werden, aber eventuelle Hürden oder Einschränkungen sollten mit Augenmaß gehandhabt werden.


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Interessenkonflikt

Der Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.


Korrespondenzadresse

Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer
Universität Ulm
Abteilung für Psychiatrie
Leimgrubenweg 12–14
87054 Ulm
Deutschland

Publikationsverlauf

Artikel online veröffentlicht:
13. Dezember 2023

© 2023. Thieme. All rights reserved.

Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany


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Abb. 1 Dieses undatierte Bild einer privaten Lachgasparty trägt den Titel “Doctor and Mrs Syntax, with a party of friends, experimenting with laughing gas. Coloured aquatint by T. Rowlandson after W. Combe”, wurde leicht modifiziert und entstammt der Sammlung Wellcome Images, einer Webseite des gemeinnützigen britischen Wellcome Trust (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Doctor_and_Mrs_Syntax,_with_a_party_of_friends,_experimentin_Wellcome_V0011224.jpg; abgerufen am 17.9.2023). Foto: ©Wikipedia.com/Wellcome Collection gallery.
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Abb. 2 Anzahl der lachgasbezogenen Meldungen in Frankreich pro Jahr beim französischen Sucht-Vigilanz-Netzwerk (addictovigilance network) für die Jahre 2012–2021 (nach Daten aus [6]).
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Abb. 3 Auswirkungen der Behandlung mit Lachgas auf depressive Symptome, gemessen mit der 21 Items umfassenden Hamilton Depression Rating Scale (HDRS-21; nach Daten aus [12]); Absolutwerte links und relative Veränderung der Werte rechts. Die Unterschiede gegenüber der Placebo-Kontrollgruppe waren in der Lachgas-Gruppe nach 2 Stunden signifikant (**p < 0,01) und nach 24 Stunden hoch signifikant (***p < 0,001).
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Abb. 4 Veränderung der depressiven Symptome zum Ausgangswert nach Gabe von 50 % Lachgas, 25 % Lachgas oder Placebo auf der Hamilton Depression Rating Scale. In der von den Autoren durchgeführten Intention-to-Treat-Analyse der 24 Studienpatienten war der Gesamteffekt von Lachgas (beide Gruppen; n = 16) im Vergleich zu Placebo (n = 8) signifikant (p = 0,01), aber es gab keinen signifikanten Unterschied zwischen 25 % und 50 % Lachgas (nach Daten aus [12]).
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Abb. 5 Prävalenz von illegalem Drogenkonsum bei einer Gruppe von 543 Studenten (nach Daten aus [4]).