Psychiatr Prax 2024; 51(03): 129-138
DOI: 10.1055/a-2133-3527
Originalarbeit

Einfluss von Leitlinienempfehlungen, Versorgungsstrukturen und individuellen Faktoren auf die Inanspruchnahme von psychosozialen Therapien bei schwer psychisch kranken Menschen

Influence of guideline recommendations, care structures and individual factors on the use of psychosocial therapies in severely mentally ill people
Sarah Fritz
1   Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie II, Universität Ulm, Bezirkskrankenhaus Günzburg
,
1   Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie II, Universität Ulm, Bezirkskrankenhaus Günzburg
2   Zentrum für Evidenzbasierte Gesundheitsversorgung, Universitätsklinikum Dresden und Medizinische Fakultät Carl Gustav Carus, Technische Universität Dresden, Chemnitz
,
3   Institut für Epidemiologie und Med. Biometrie, Universität Ulm
,
Thomas Becker
1   Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie II, Universität Ulm, Bezirkskrankenhaus Günzburg
4   Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätsklinikum Leipzig
,
Reinhold Kilian
1   Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie II, Universität Ulm, Bezirkskrankenhaus Günzburg
,
5   Institut für Sozialmedizin, Arbeitsmedizin und Public Health (ISAP), Universität Leipzig Medizinische Fakultät, Leipzig
,
5   Institut für Sozialmedizin, Arbeitsmedizin und Public Health (ISAP), Universität Leipzig Medizinische Fakultät, Leipzig
,
Alkomiet Hasan
6   Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Universitätsklinikum Augsburg
,
Peter Falkai
7   Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Ludwig-Maximilians-Universität München
,
Klemens Ajayi
8   kbo-Isar-Amper-Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Ost, kbo-Isar-Amper Klinikum Region München, Haar
,
Jessica Baumgärtner
6   Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Universitätsklinikum Augsburg
,
Peter Brieger
8   kbo-Isar-Amper-Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Ost, kbo-Isar-Amper Klinikum Region München, Haar
,
Karel Frasch
1   Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie II, Universität Ulm, Bezirkskrankenhaus Günzburg
9   Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Bezirkskrankenhaus Donauwörth
,
Stephan Heres
10   kbo-Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Nord, kbo-Isar-Amper Klinikum Region München
,
Markus Jäger
1   Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie II, Universität Ulm, Bezirkskrankenhaus Günzburg
11   Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Bezirkskrankenhaus Kempten
,
Andreas Küthmann
12   Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Bezirkskrankenhaus Memmingen
,
Albert Putzhammer
13   Fachklinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Bezirkskrankenhaus Kaufbeuren
,
Bertram Schneeweiß
14   kbo-Klinik für Psychosomatik, Psychiatrie und Psychotherapie Taufkirchen/Vils, kbo-Isar-Amper Klinikum Region München, Taufkirchen/Vils
,
Michael Schwarz
8   kbo-Isar-Amper-Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Ost, kbo-Isar-Amper Klinikum Region München, Haar
,
1   Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie II, Universität Ulm, Bezirkskrankenhaus Günzburg
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Zusammenfassung

Ziel der Studie Der Einfluss von Leitlinien-Empfehlungen und weiterer Faktoren auf die Inanspruchnahme von psychosozialen Therapien bei Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen wurde untersucht.

Methodik Es wurden Daten einer Querschnittsstudie mit 397 Personen mit schweren psychischen Erkrankungen deskriptiv analysiert.

Ergebnisse Betroffene erhalten seltener Therapien mit einer starken Empfehlung im Vergleich zu anderen Empfehlungsgraden. Verschiedene weitere Faktoren sind diffus mit den Inanspruchnahmeraten assoziiert, es konnte jedoch kein ubiquitärer Einflussfaktor über alle Therapien hinweg identifiziert werden.

Schlussfolgerung Die aktuelle Praxis beim Einsatz psychosozialer Therapien folgt nicht den Empfehlungsstärken der S3-Leitlinie. Interventionen mit starken Empfehlungen stehen vermutlich nicht ausreichend zur Verfügung, weshalb die Routinepraxis demzufolge nicht in der Lage ist, Leitlinienempfehlungen entsprechend ihrer Stärke zu folgen. Andere einheitliche Prädiktoren konnten nicht identifiziert werden.


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Abstract

Objective The influence of guideline recommendations and other factors on the utilization of psychosocial interventions in people with severe mental illness was examined.

Methods Data from a cross-sectional study of 397 people with severe mental illness were analysed descriptively.

Results Patients are less likely to receive therapies with a strong recommendation compared to other levels of recommendation. Various other factors are diffusely associated with utilization rates, but no ubiquitous predictors could be identified across all therapies.

Conclusion Current practice in the use of psychosocial interventions does not follow guideline recommendation strength. Interventions with strong recommendations are probably not available across services. Consequently, routine practice is not able to follow guideline recommendations according to their strength. Other consistent predictors could not be identified.


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Einleitung

Hintergrund

Psychosoziale Therapien nehmen neben der psychopharmakologischen und der psychotherapeutischen Therapie eine bedeutende Rolle bei der Behandlung und Begleitung von Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen ein und bilden die „dritte Säule“ der psychiatrischen Behandlung [1]. Unter dem Begriff der psychosozialen Therapien werden verschiedene, sehr heterogene Interventionen, wie z. B. Ergotherapie und Kreativtherapien, aber z. B. auch Unterstützung im Bereich Arbeit und Wohnen zusammengefasst [1]. Durch die Kombination von medikamentöser Behandlung und Psychotherapie mit psychosozialen Therapien können im Vergleich zu Einzelinterventionen bessere Behandlungsergebnisse erzielt werden [1]. Psychosoziale Interventionen haben dabei zum Ziel, die individuellen Möglichkeiten der Betroffenen zu verbessern und ein Leben in der eigenen sozialen Umgebung sowie die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen.

Im Jahr 2013 wurde von der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e.V. (DGPPN) die erste Auflage der S3-Leitlinie “Psychosoziale Therapien bei schweren psychischen Erkrankungen” veröffentlicht [2]. Zur Zielgruppe der Leitlinie zählen Menschen mit Schizophrenie, schweren affektiven Erkrankungen oder schweren Persönlichkeits- und Zwangsstörungen, welche über längere Zeit (mindestens zwei Jahre) Krankheitssymptome aufweisen und deren Erkrankung mit erheblichen Einschränkungen der Aktivitäten des täglichen und sozialen Lebens einhergeht [2].

Die wissenschaftliche Literatur zeigt, dass Leitlinien jedoch oft unzureichend umgesetzt sind [3] [4]. Wachter kommt 2018 in einer Analyse der Inanspruchnahme psychotherapeutischer und psychosozialer Therapien bei Patienten und Patientinnen mit Schizophrenie zu dem Ergebnis, dass die Empfehlungen der Leitlinie „Psychosoziale Therapien bei schweren psychischen Erkrankungen“ keine konsistente Anwendung finden [5]. Laut Bramesfeld et al. (2014) [6] scheint die Inanspruchnahme von psychosozialen Therapien insgesamt weniger von wissenschaftlicher Evidenz als viel mehr von regionalen Gegebenheiten beeinflusst zu werden, wobei unklar bleibt, welche regionalen Gegebenheiten genau gemeint sind. Unklar ist des Weiteren, ob, ähnlich wie bei der Inanspruchnahme von psychiatrischen und psychotherapeutischen Leistungen [7], auch individuelle Faktoren der Betroffenen eine Rolle spielen. Rommel et al. (2017) [7] zeigten, dass unter anderem das Alter, das Geschlecht, die soziale Bindung, der Versicherungsstatus und der sozioökonomische Status Auswirkungen auf die Inanspruchnahme psychiatrischer und psychotherapeutischer Leistungen haben können [7]. Ob ähnliche Faktoren auch die Inanspruchnahme von psychosozialen Therapien beeinflussen, wurde bisher nicht untersucht.

Die vorliegende Studie untersucht, inwieweit die in der S3-Leitlinie „Psychosoziale Therapien bei schweren psychischen Erkrankungen“ gegebenen Empfehlungsgrade sowie regionale und individuelle Faktoren einen Einfluss auf die Inanspruchnahme von psychosozialen Therapien bei Patienten und Patientinnen mit schweren psychischen Erkrankungen haben.


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Methode

Die Daten für die folgenden Auswertungen stammen aus einer nicht-interventionellen Querschnittsstudie mit Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen, die im Rahmen des Projekts IMPPETUS (“Implementierung der Patientenleitlinie Psychosoziale Therapien für Patienten mit schweren psychischen Erkrankungen”) durchgeführt wurde. Für die Studie liegt ein a priori Protokoll [8] gemäß des STROBE-Statements [9] vor. Die vorliegende Analyse ist ein Teil der Auswertung des Primären Endpunktes der Querschnittsstudie (siehe Studienprotokoll [8] bzw. https://drks.de/search/de/trial/DRKS00015801). Die Querschnittsstudie ist Teil 1 des IMPPETUS-Projekts. Das Projekt wird durch einen RCT zur Implementierung der Patientenleitlinie „Psychosoziale Therapien“ (Teil 2) ergänzt [10].

Ein Ethikvotum wurde vor Beginn der Studie bei der Ethikkommission der Universität Ulm eingeholt. Es gab keine ethischen Einwände gegen die Durchführung der Studie. Die Studie wurde in Übereinstimmung mit der Erklärung von Helsinki durchgeführt.

Die zehn klinischen Rekrutierungszentren liegen in Bayern. Die Rekrutierung und Datenerfassung erfolgte von März bis September 2019. Die Teilnehmer und Teilnehmerinnen wurden ausschließlich während ihres Krankenhausaufenthaltes befragt.

Patienten und Patientinnen

Es wurden stationäre und tagesklinische Patienten und Patientinnen eingeschlossen (beiderlei Geschlechts, 18 bis 65 Jahre, einwilligungsfähig), die eine schwere psychische Erkrankung nach Definition der S3-Leitlinie haben [11]. Um eine möglichst homogene Stichprobe zu erreichen, wurde die Erhebung auf Menschen mit Schizophrenie, schizotypen und wahnhaften Störungen (ICD-10 F2x) sowie affektiven Störungen (ICD-10 F3x) beschränkt. Als Kriterien für eine schwere psychische Erkrankung wurden folgende Schwellenwerte definiert: 1) ein “Global Assessment of Functioning” (GAF) von≤60, und 2) ein “Health of the Nation Outcome Scales-“ (HoNOS-) Wert von (a)≥2 auf einem der Items der Subskala für symptomatische Probleme (Punkt 6, 7 und 8) und eine Punktzahl von≥2 auf jedem der vier Items der Subskala für soziale Probleme (Punkte 9, 10, 11 und 12), oder (b) eine Punktzahl von≥3 bei mindestens einem dieser Items (9, 10, 11 oder 12). Es wurde a priori eine Stichprobe von circa 500 Teilnehmenden (PatientInnen und Angehörige) geplant. Die Auswertungen erfolgten in der vorliegenden Analyse nur für die Patienten und Patientinnen.


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Messungen

Patienten und Patientinnen, die vom Klinikpersonal als potentiell geeignet eingeschätzt wurden, wurden vom Studienpersonal zur Teilnahme an der Studie eingeladen. Nachdem die Eingeladenen ihr informiertes Einverständnis zur Teilnahme erklärt hatten, wurde das Screening mit dem GAF und HoNOS möglichst zeitnah nach der (teil-) stationären Aufnahme durch das Studienpersonal durchgeführt. Personen, die die Einschlusskriterien erfüllten, wurden kurz vor ihrer Entlassung vom Studienpersonal zur Datenerhebung interviewt. Für die vorliegende Analyse wurden u. a. folgende Daten erhoben:

  • Zur Erfassung der Inanspruchnahme der psychosozialen Therapien wurde ein für diese Studie entwickelter Fragenbogen verwendet. Mit diesem Fragebogen wurde die Selbstauskunft der Probanden zur Inanspruchnahme erfasst. Es wurde erfragt, ob die Person „jemals“ die jeweilige psychosoziale Therapie erhalten hat (z. B. „Haben Sie jemals eine Behandlung durch ambulante multiprofessionelle Teams erhalten?“). Im Interview wurden die jeweiligen psychosozialen Therapien ggfs. durch das Studienpersonal erläutert. Eine Beantwortung mit „ja“ wurde für die Auswertung als „in Anspruch genommen“ gewertet.

  • Soziodemographische Daten und die Krankheitsgeschichte der Befragten wurde mit dem F-INK [12] und CSSRI [13] erfasst.


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Variablen

In der Leitlinie werden die psychosozialen Therapien mit den Empfehlungsgraden A (starke Empfehlung, „Soll“), B (Empfehlung, „Sollte“), 0 (offene Empfehlung „Kann erwogen werden“) und KKP (Klinischer-Konsensus-Punkt) empfohlen [2]. In den vorliegenden Analysen werden die Empfehlungsgrade entsprechend dieser Definition einbezogen, wobei jedoch keine Therapien mit Empfehlungsgrad 0 vorliegen.

In den Analysen wurden ausschließlich psychosoziale Therapien berücksichtigt, die die Mehrheit der Betroffenen hätten erhalten können, da diese für die meisten Betroffenen geeignet sind. Therapien, die nur relevant sind, wenn ein spezifischer Bedarf in diesem Bereich besteht (zum Beispiel Unterstützungsbedarf beim Wohnen oder im Bereich Arbeit), wurden demnach in diesen Analysen nicht berücksichtigt, da dies zu einer Unterschätzung der Inanspruchnahme von Leistungen in jenen Bereichen führen würde. Die ausgewählten Therapien und deren Empfehlungsgrade können [Abb. 2] entnommen werden. Eine Beschreibung der Therapien kann der S3-Leitlinie „Psychosoziale Therapien bei schweren psychischen Erkrankungen“ [11] entnommen werden. Die hier berücksichtigten Empfehlungsgrade basieren auf der im Jahr 2013 veröffentlichten ersten Auflage der S3-Leitlinie [2], um den notwendigen zeitlichen Vorlauf bei der Umsetzung von Empfehlungen zu berücksichtigen.

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Abb. 2 Inanspruchnahme ausgewählter psychosozialer Therapien eingeteilt in die Empfehlungsgrade A, B und KKP (n=397).

Für die Betrachtung der Fragestellung sind die folgenden im Rahmen der Querschnittsstudie erfassten Daten von Bedeutung: Inanspruchnahme der psychosozialen Therapien, Probandencharakteristika (Geschlecht, Alter, Migrationshintergrund, Familienstand, Schulbildung, Berufsabschluss, Diagnose, Erkrankungsdauer), Versorgungsregion und Empfehlungsgrad der Therapie. Die Versorgungsregionen wurden in großstädtische, mittelstädtische und ländliche Regionen unterteilt.


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Statistische Analyse

Das Patientenkollektiv und die selbstberichteten Inanspruchnahmeraten der psychosozialen Therapien nach Empfehlungsgraden wurden zunächst deskriptiv analysiert. Kategoriale Variablen wurden mit absoluten und relativen Häufigkeiten, kontinuierliche Variablen mit Mittelwerten und Standardabweichungen dargestellt.

Die Beziehung zwischen den Inanspruchnahmeraten der Therapien und ihrer jeweiligen zugeordneten Empfehlungsgrade wurde mithilfe des Friedman-Tests untersucht, basierend auf dem prozentualen Anteil der in Anspruch genommenen Therapien pro Empfehlungsgrad. Um zu ermitteln, welche Empfehlungsgrade sich voneinander unterscheiden, wurde der Post-hoc-Test nach Dunn-Bonferroni angewendet [14]. Die Durchführung der Datenanalyse erfolgte in IBM SPSS, Version 25.0 [15].

Zur Untersuchung des Einflusses regionaler und individueller Faktoren auf die selbstberichteten Inanspruchnahmeraten wurde ein informationstheoretischer (IT) Ansatz verwendet [16]. Hierfür wurden in generalisierten linearen Modellen (GLM) alle oben genannten unabhängigen Variablen analysiert. Das GLM hat im Vergleich zu klassischen linearen Modellen den Vorteil, dass keine Beschränkung auf metrische Kriterien mit normalverteilten und varianzhomogenen Residuen vorliegen und somit auch kategoriale und nicht-normalverteilte Variablen in die Modelle einbezogen werden können [17]. Beim IT-Ansatz werden alle erstellbaren Modelle gemeinsam analysiert mit dem Ziel, ein oder mehrere „beste“ Modelle zu identifizieren [16]. Als Cut-off für gleichwertig „beste“ Modelle gelten laut der IT-Approach-Theorie alle Modelle mit einem korrigierten Akaike Informationskriterium (AICc) innerhalb von zwei Punkten zum Best-Modell Nr. 1 [16]. Anhand des AICc wurden im Anschluss die Modellgewichtung und die relative Wichtigkeit der einzelnen unabhängigen Variablen ermittelt [18]. Als Schwellenwert für die relative Wichtigkeit der Variablen wurde 0,8 festgelegt [19]. Die Durchführung erfolgte mittels automatisierter Modelauswahl-Prozedur mit dem Package ‚glmulti‘ [20] in R [21].


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Ergebnisse

Studienteilnehmer und -teilnehmerinnen

Für die Teilnahme an der Studie wurden 878 Patient und Patientinnen angesprochen ([Abb. 1]). Von den Angesprochenen hatten 471 Personen Interesse teilzunehmen und wurden gescreent. Die restlichen 407 Personen hatten kein Interesse an einer Teilnahme, haben die Einschlusskriterien nicht erfüllt oder hatten andere Gründe eine Teilnahme abzulehnen. Von den 471 gescreenten Personen erfüllten 458 die Einschlusskriterien und willigten zur Teilnahme ein. Von diesen 458 Eingeschlossenen konnten bei 398 Personen Daten erhoben werden. Bei 60 Personen wurden keine Daten erhoben, da diese nicht mehr erreichbar waren oder die Studienteilnahme abgebrochen wurde. Für neun Personen wurde lediglich die Erfüllung der Einschlusskriterien dokumentiert, konkrete Werte fehlen jedoch für den GAF (n=7) bzw. das Alter (n=2). Diese Probanden wurden dennoch in den Analysen berücksichtigt. Eine Person wurde von den Analysen nachträglich ausgeschlossen, da sich während der Erhebung zeigte, dass er das Einschlusskriterium für das Alter (<65 Jahre) nicht erfüllte, so dass die Analysen mit den Daten von 397 Patienten und Patientinnen durchgeführt wurden. Die für die Analyse relevanten Patientencharakteristika sind in [Tab. 1] dargestellt.

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Abb. 1 Flow Chart Probanden.

Tab. 1 Probandencharakteristika (n=397).

Patient*innen

Versorgungsregion, n (%)

Großstädtische Region

180 (45,3)

Mittelstädtische Region

78 (19,6)

Ländliche Region

139 (35,0)

Alter1 in Jahren, MW (SD)

42,7 (13,2)

Geschlecht, n (%)

Weiblich

226 (56,9)

Männlich

171 (43,1)

Migrationshintergrund2, n (%)

Ja, Immigrant / Kind von Immigrant

72 (18,1)

Nein, kein Immigrant

321 (80,9)

Familienstand3, n (%)

Ledig

222 (55,9)

Verheiratet / eingetragene Lebenspartnerschaft

92 (23,2)

Geschieden / getrennt lebend / verwitwet

82 (20,7)

Schulabschluss1, n (%)

Noch in Schulausbildung / Kein Schulabschluss / Förder-/Hauptschulabschluss

153 (38,5)

Realschulabschluss

114 (28,7)

Abitur / Fachhochschulreife

128 (32,2)

Berufsabschluss4, n (%)

Noch in Berufsausbildung / Kein Berufsabschluss

93 (23,4)

Berufsschulabschluss/Lehrausbildung

210 (52,9)

Meister/Techniker / Fachhochschul-/Universitätsabschluss / Sonstiger Abschluss

87 (21,9)

Diagnose, n (%)

Schizophrenie (F2x)

128 (32,2)

Depression (F32, F33)

232 (58,4)

Bipolare Störung (F30, F31)

37 (9,3)

Erkrankungsdauer5 in Jahren, MW (SD)

15,4 (10,9)

Daten von 395 Patient*innen; 2 Daten von 393 Patient*innen; 3 Daten von 396 Patient*innen; 4 Daten von 390 Patient*innen; 5 Daten von 368 Patient*innen; M=Mittelwert; SD=Standardabweichung


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Einflussfaktoren auf die Inanspruchnahme psychosozialer Therapien

Einfluss der Empfehlungsgrade

In den Analysen wurden insgesamt neun psychosoziale Therapien ([Abb. 2]) berücksichtigt, die alle Patienten und Patientinnen dieser Studie hätten erhalten können (siehe Methoden).

Die untersuchten vier Therapien mit dem Empfehlungsgrad B (‚Psychoedukation im Gruppensetting‘, ‚Künstlerische Therapien‘, ‚Sport- und Bewegungstherapie‘ sowie ‚Ergotherapie‘) wurden von den Befragten am häufigsten in Anspruch genommen (51–91% der Befragten haben die jeweilige Therapie mindestens einmal erhalten) ([Abb. 2]). Diesen folgen die drei ausgewählten Therapien mit einer KKP-Empfehlung (‚Trialogforen/Psychoseseminare‘, ‚Psychoedukation im Einzelsetting‘ sowie ‚Erhalt von ausreichenden und verständlichen Informationen‘), die 9–24% bzw. 57% der Befragten bereits mindestens einmal erhalten haben. Die beiden analysierten Therapien mit einer A-Empfehlung (‚Psychoedukation im Beisein von Angehörigen‘ sowie ‚Behandlung durch ein ambulantes multiprofessionelles Team‘) haben bisher nur wenige Betroffene erhalten (10–23% der Befragten).

Die statistische Analyse mittels Friedman-Test bestätigt diese Unterschiede in der selbstberichteten Inanspruchnahme der psychosozialen Therapien zwischen den Empfehlungsgraden (Chi-Quadrat=495,282; p<0,001; n=345; Dunn-Bonferroni-Test: zwischen A und B: z=−1,535; p<0,001; zwischen A und KKP: z=−0.309; p<0,001 und zwischen KKP und B: z=1,226; p<0,001).


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Einfluss regionaler und individueller Faktoren

Die Ergebnisse zur Analyse der regionalen und individuellen Einflussfaktoren auf die selbstberichtete Inanspruchnahmerate der psychosozialen Therapien sind in [Abb. 3] dargestellt. Die gleichwertig „besten“ Modelle der vorliegenden Analysen können im Zusatzmaterial in den Tab. S1–S8 eingesehen werden. Die detaillierten Analyseergebnisse sind im Zusatzmaterial in den Tab. S9–S16 zu finden. Die Inanspruchnahme von Ergotherapie konnte in diesen Analysen nicht untersucht werden, da sehr viele Betroffene Ergotherapie bereits erhalten haben ([Abb. 2]), sodass keine ausreichende Varianz für weitere Analysen vorhanden war.

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Abb. 3 Ergebnisse der Modell-Selektion (Die hervorgehobene Linie markiert den Schwellenwert von 0,8, ab dem Faktoren als eher wichtig angesehen werden können).

In [Abb. 3] ist zu erkennen, dass die Inanspruchnahmeraten der untersuchten psychosozialen Therapien mit jeweils unterschiedlichen relevanten Einflussfaktoren assoziiert sind. Auf die Inanspruchnahme von ‚Psychoedukation im Beisein von Angehörigen‘ zeigen das Alter und der Familienstand einen Einfluss, wobei jüngere Betroffene im Vergleich zu älteren und verheiratete oder in einer Partnerschaft lebende Personen im Vergleich zu ledigen häufiger diese Therapie in Anspruch nehmen.

Auf die Inanspruchnahme von ‚Behandlungen durch ambulante multiprofessionelle Teams‘ zeigt dagegen die Diagnose einen Einfluss, wobei Betroffene mit Schizophrenie diese Behandlung häufiger in Anspruch nehmen als Betroffene mit Depression. Auf den ‚Erhalt von ausreichenden und verständlichen Informationen zur Erkrankung, deren Ursachen und Behandlungsmöglichkeiten‘ hat ebenfalls die Diagnose einen Einfluss, wobei hier Betroffene mit Depression häufiger berichten, ausreichende Informationen erhalten zu haben als Betroffene mit Schizophrenie.

Auf die Inanspruchnahme von ‚Künstlerischen Therapien‘ und ‚Psychoedukation im Einzelsetting‘ zeigt die Versorgungsregion einen Einfluss. In ländlichen Regionen lebende Betroffene nehmen dabei ‚Künstlerische Therapien‘ häufiger in Anspruch als in Großstädten lebende Betroffene. ‚Psychoedukation im Einzelsetting‘ wird von Personen in ländlichen Regionen häufiger und in mittelstädtischen Regionen seltener als von Personen in Großstädten in Anspruch genommen.

Auf die Inanspruchnahme von ‚Psychoedukation in einer Gruppe von Mitbetroffenen‘ zeigt dagegen der Schulabschluss einen Einfluss. Betroffene mit Abitur/Fachhochschulreife nehmen die Therapie häufiger in Anspruch als Betroffene ohne Abschluss oder mit einem Förder- oder Hauptschulabschluss.

Für die Inanspruchnahme von ‚Trialogforen/Psychoseseminaren‘ und ‚Sporttherapie‘ konnten keine relevanten Einflussfaktoren identifiziert werden.


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Diskussion

Die Analysen zeigen, dass die selbstberichteten Inanspruchnahmeraten psychosozialer Therapien sich zwar zwischen den Empfehlungsgraden unterscheiden, diese jedoch nicht mit den Empfehlungsstärken der S3-Leitlinie ‚Psychosoziale Therapien bei schweren psychischen Erkrankungen‘ einhergehen. Wünschenswert wäre, dass die Patientinnen und Patienten insbesondere Therapien mit einer A-Empfehlung erhalten. Die vorliegenden Analysen zeigen jedoch, dass die Betroffenen vorrangig Therapien mit einer B-Empfehlung erhalten, gefolgt von Therapien mit einer KKP-Empfehlung und erst nachfolgend Therapien mit einer A-Empfehlung, wobei zwei der drei KKP-Therapien eine ähnlich geringe Inanspruchnahmerate aufweisen wie die A-Therapien. Das Beispiel der Psychoedukation zeigt, dass diese im Gruppensetting (B-Empfehlung) fünfmal häufiger in Anspruch genommen wird als im Beisein von Angehörigen (A-Empfehlung). Somit spiegeln die Inanspruchnahmeraten die Stärke der Empfehlungen der S3-Leitlinie nicht wider.

Zu ähnlichen Ergebnissen kommt auch Wachter (2018) [5]. In seiner Studie beobachtete er, dass die Inanspruchnahme psychotherapeutischer und psychosozialer Therapien bei Personen mit Schizophrenie nicht den Empfehlungen der S3-Leitlinien „Schizophrenie“ und „Psychosoziale Therapien bei schweren psychischen Erkrankungen“ entsprechen, wobei in dieser Studie nicht nach Empfehlungsgraden differenziert wurde [5]. Bramesfeld et al. (2014) [6] deuten des Weiteren an, dass die Inanspruchnahme von psychosozialen Therapien weniger von wissenschaftlicher Evidenz abhängig ist, sondern vermutlich eher von regionalen Gegebenheiten. Im Fall der S3-Leitlinien „Psychosoziale Therapien“ wurde bis zum Zeitpunkt der vorliegenden Studie noch keine strukturierte Implementierung durchgeführt, so dass sich der geringe Umsetzungsgrad vermutlich auch mit der noch ausstehenden Implementierung erklären lässt, wobei jedoch auch strukturierte Leitlinienimplementierungen nur geringe positive Effekte auf die Behandlungsdurchführung erzielen [4] [22].

Auffällig ist, dass nur selten eine Inanspruchnahme einer ‚Behandlung durch ambulante multiprofessionelle Teams‘ (A-Empfehlung) durch die Teilnehmenden berichtet wurde, obwohl ausdrücklich die Behandlung durch Psychiatrische Institutsambulanzen (PIA) abgefragt wurde. Vermutlich trägt hauptsächlich die allgemein schlechte Verfügbarkeit dieser Behandlungsform in Deutschland zur seltenen Inanspruchnahme bei. Durch die Anbindung der PIAs an psychiatrische Kliniken ist die wohnortnahe ambulante Versorgung nur für einen Teil der Betroffenen zugänglich [23]. Erst seit einigen Jahren, und bisher nur sehr vereinzelt, wird die gemeindenahe Versorgung in Deutschland durch aufsuchende multiprofessionelle Teams in Form von Home Treatment und StäB (stationsäquivalenten Behandlung) umgesetzt [24] [25]. Der Ausbau dieser Versorgungsformen ist langwierig und bedarf einer Umgestaltung der Versorgungsstrukturen. Die Routinepraxis ist daher bisher noch nicht in der Lage, der Leitlinienempfehlungen entsprechend ihrer Stärke zu folgen. Hier zeichnet sich eine Aufgabe des Versorgungssystems ab, die Verfügbarkeit von Interventionen entsprechend der Leitlinienempfehlungen in Deutschland auszubauen, um die Inanspruchnahme und damit die Leitlinienadhärenz zu ermöglichen. Des Weiteren kann zum einen nicht ausgeschlossen werden, dass die Befragten die Behandlung in der PIA nicht als multiprofessionell wahrgenommen haben, da sie z. B. überwiegend von einem Behandler betreut wurden oder nicht zwischen den Berufsgruppen differenzieren konnten. Zum anderen kann die berichtete Inanspruchnahme der PIA auch durch die Rekrutierung der Probanden im (teil-) stationären Setting beeinflusst worden sein.

Bezüglich der zweiten hier analysierten Therapie mit A-Empfehlung, ‚Psychoedukation im Beisein von Angehörigen‘, wissen wir, das Psychoedukation, insbesondere mit Einbezug von Angehörigen, in Deutschland ebenfalls noch nicht regelhaft etabliert ist [11]. Mögliche Barrieren einer Umsetzung könnten hierbei v. a. Personalmangel, Zeitmangel und finanzielle Engpässe sein [26]. Auch hier bedarf es daher unter Umständen einer Verbesserung der Versorgungsangebote im stationären und ambulanten Bereich.

Die weiterführenden Analysen von individuellen und regionalen Einflussfaktoren auf die Inanspruchnahme der psychosozialen Therapien konnten vereinzelte Prädiktoren für die Inanspruchnahme aufzeigen. Es konnte jedoch kein einheitlicher Prädiktor, der die allgemeine Inanspruchnahme der Therapien beeinflusst, identifiziert werden. Das zeigt, dass der Erhalt oder Nicht-Erhalt der Therapien nicht von einem verallgemeinerbaren Faktor abhängt. Gleichzeitig bedeutet dies aber auch, dass keine pauschale Benachteiligung bestimmter Patientengruppen beobachtet werden konnte.

Einzeln betrachtet bieten die beobachteten Prädiktoren ergänzende Informationen. So deutet die Beobachtung, dass die Versorgungsregion nur mit der Inanspruchnahme von zwei von neun Therapien (‚Künstlerischen Therapien‘ und ‚Psychoedukation im Einzelsetting‘) assoziiert ist, darauf hin, dass die allgemeine Verfügbarkeit von psychosozialen Therapien in den Regionen und Kliniken wahrscheinlich keine starken regionalen Unterschiede aufweist.

Dass ‚Psychoedukation im Beisein von Angehörigen‘ eher von jüngeren und verheirateten oder in einer Partnerschaft lebenden Personen in Anspruch genommen wird, geht Hand in Hand mit der Form der Therapie einher, da ein Interesse an der Einbindung seitens der Betroffenen und der Angehörigen eine Voraussetzung für die Beteiligung ist. Dies ist insbesondere bei verheirateten oder in einer Partnerschaft lebenden Betroffenen zu erwarten, während ungebundene oder weniger fest gebundene Betroffene möglicherweise eher Vorbehalte gegenüber dem Einbezug von Angehörigen haben. Jüngere Betroffene erhalten möglicherweise noch mehr Unterstützung aus dem Elternhaus bei ihrer Therapie.

Die gezeigte Assoziation der Diagnose mit der Inanspruchnahme von ‚Behandlungen durch ambulante multiprofessionelle Teams‘ stimmt mit der Beobachtung einer anderen Studie, die im gleichen Erhebungszeitraum in einer der zehn Rekrutierungskliniken der vorliegenden Studie (kbo-Isar-Amper-Klinikums München-Ost) durchgeführt wurde, überein, dass hauptsächlich Patientinnen und Patienten mit Schizophrenie StäB in Anspruch nehmen [27]. In anderen Teilen Deutschlands bzw. in der Schweiz zeigen Beobachtungen jedoch auch, dass zu einem größeren Anteil Personen mit affektiven Störungen StäB erhalten [28] [29].

Dass Betroffene mit Schizophrenie des Weiteren weniger ‚ausreichende und verständliche Informationen‘ erhalten als andere Diagnosegruppen geht möglicherweise damit einher, dass diese Patientengruppe auf Grund einer oft fehlenden Krankheitseinsicht [30] bzw. eines geringen oder fehlenden Krankheitsgefühls ggf. weniger Informationen über ihre Erkrankung einfordern, annehmen oder für erforderlich halten. Des Weiteren könnten erhaltene Informationen nicht als solche durch die Betroffenen wahrgenommen worden sein. Möglicherweise trauen die Behandelnden dieser Patientengruppe auch keine umfangreichen Informationen zu oder es wird vermutet, dass die Informationen nicht ausreichend verstanden werden.

Offen bleibt die Beobachtung, dass Betroffene mit einem höheren Schulabschluss häufiger ‚Psychoedukation in einer Gruppe von Mitbetroffenen‘ in Anspruch nehmen als Betroffene mit anderen oder keinen Schulabschlüssen. Für die Psychoedukation liegen keine vergleichbaren Daten anderer Studien vor, um dieses Ergebnis einordnen zu können. Für die Psychotherapie konnte jedoch zumindest gezeigt werden, dass mit höherer Schulbildung eher eine Präferenz zur Einzeltherapie steigt [31]. In der vorliegenden Untersuchungsgruppe hat diese Präferenz für Einzelgespräche jedoch offenbar nicht zu einem geringeren Inanspruchnahmeverhalten der Psychoedukation in der Gruppe geführt. Die Ergebnisse sollten daher nur sehr vorsichtig interpretiert werden.

Limitationen

Die vorliegenden Daten wurden mit Hilfe eines fragebogengestützten Interviews erhoben. Durch die Selbstauskunft zur Inanspruchnahme von Therapien durch die Probanden selbst sind Antwortverzerrungen (z. B. durch Unverständnis, mangelnde Motivation, kognitive Symptome etc. der Probanden) und Erinnerungsverzerrungen (Recall Bias) möglich. Den möglichen Antwortverzerrungen wurde durch eine Erläuterung der jeweiligen psychosozialen Therapie durch das Studienpersonal, je nach Bedarf der Probanden, während der Befragung entgegengewirkt. Eine weitere mögliche Quelle für Verzerrungen können irrtümliche oder unvollständige Antworten sein.

Eine weitere mögliche Limitation ergibt sich aus der Definition der Inanspruchnahme („jemals in Anspruch genommen“ – ja/nein), da nicht erfasst wurde, welche Intensität und Qualität die Inanspruchnahme hatte. In der S3-Leitlinie „Psychosoziale Therapien“ [11] sind keine Empfehlungen zum Umfang und zur Dauer der Therapien vorgelegt und die von uns gemessene Bedarfsdeckung kann nicht auf einzelne Interventionen zurückgeführt werden, so dass weitere Analysen diesbezüglich nicht möglich waren.

Die Studie birgt des Weiteren das Risiko eines Selektionsbias hinsichtlich der Patientengruppe, da möglicherweise sehr belastete Patienten und Patientinnen nicht teilgenommen haben. Darüber hinaus wurden nur (teil-) stationäre Patienten und Patientinnen und keine Personen mit Persönlichkeitsstörungen, Angststörungen und Zwangsstörungen eingeschlossen, sodass die Stichprobe nicht für alle Menschen mit schweren psychischen Störungen repräsentativ ist. Zudem mussten die Teilnehmenden die deutsche Sprache beherrschen.

Des Weiteren muss berücksichtigt werden, dass alle Rekrutierungskliniken in Bayern lagen, so dass die Ergebnisse der Studie nicht uneingeschränkt auf andere Regionen Deutschlands übertragbar sind.


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Schlussfolgerung

Die Ergebnisse zeigen, dass aktuell nur ein Teil der Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen die empfohlenen Interventionen der S3-Leitlinie “Psychosoziale Therapien bei schweren psychischen Erkrankungen” in Anspruch nehmen. Ziel sollte sein, dass die Betroffenen vermehrt Therapien mit einer A-Empfehlung erhalten, was jedoch derzeit nicht der Fall ist. Die Hauptursache hierfür ist vermutlich eine zu geringe regionale Verfügbarkeit von Therapien mit A-Empfehlungen, weshalb die Routinepraxis nicht in der Lage ist, Leitlinienempfehlungen entsprechend ihrer Stärke zu folgen. Die Umsetzung von komplexen Versorgungsmodellen, wie z. B. der aufsuchenden Behandlung, benötigt Zeit, da neue Versorgungsstrukturen geschaffen und etabliert werden müssen. Die Ergebnisse deuten somit darauf hin, dass eine verstärkte Implementierung der S3-Leitlinie „Psychosoziale Therapien“ und damit einhergehend möglicherweise eine Verbesserung der Versorgungsangebote und -strukturen nötig sind. Die S3-Leitlinie „Psychosoziale Therapien“ adressiert aus diesem Grund, neben den Behandlern, auch Personen und Institutionen, die mit der Versorgungsplanung befasst sind [11].

Die Analysen der regionalen und individuellen Einflussfaktoren konnten darüber hinaus keine einheitlichen Prädiktoren für die Inanspruchnahme der Therapien identifizieren. Das zeigt, dass die Gründe für den Erhalt oder Nicht-Erhalt von psychosozialen Therapien komplex sind und nicht auf einzelne Faktoren zurückgeführt werden können. Die Ableitung von Umsetzungsbarrieren sollte daher für die unterschiedlichen Interventionen jeweils separat erfolgen. Aus den Ergebnissen lässt sich jedoch schlussfolgern, dass derzeit keine Hinweise auf eine generelle Benachteiligung bestimmter Patientengruppen hinsichtlich einer leitlinienkonformen Behandlung vorliegen.

Konsequenzen für Klinik und Praxis

  • Nur ein Teil der Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen nimmt derzeit die empfohlenen Interventionen der S3-Leitlinie “Psychosoziale Therapien bei schweren psychischen Erkrankungen” in Anspruch.

  • Die Empfehlungsstärke steht nicht im unmittelbaren Zusammenhang mit der Inanspruchnahme der Psychosozialen Therapien.

  • Die Analysen von regionalen und individuellen Einflussfaktoren konnten keine weiteren einheitlichen Prädiktoren für die Inanspruchnahme der Therapien identifizieren.


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Fördermittel

Innovationsausschuss des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) — 01VSF17017


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Interessenkonflikt

Alkomiet Hasan erhielt Vortragshonorare von AbbVie, Advanz, Janssen, Otsuka, Rovi, Recordati und Lundbeck. Er war Mitglied in Advisory Boards für Boehringer-Ingelheim, Janssen, Otsuka, Rovi, Recordati und Lundbeck. Einladungen zu Kongressen oder Essen wurden nicht angenommen. Er ist Herausgeber der AWMF S3-Leitlinie Schizophrenie, Angestellter des Freistaats Bayern und der Bezirkskliniken Schwaben. Karel Frasch hat Kongressreiseunterstützungen von Janssen erhalten. Er ist stellv. Sprecher von ackpa und Mitglied im Vorstand der DGPPN. Alle anderen Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Danksagung

An diese Stelle möchten wir uns ausdrücklich bei den Patientinnen und Patienten für Ihre Teilnahme an der Studie bedanken. Des Weiteren danken wir den Mitgliedern der IMPPETUS Studiengruppe: Rainer Muche, Michael Bachmaier, Jasmin Buchberger, Theodor Deggendorfer, Lea Eichele, Gabriele Gaigl, Dagmar Gröber-Grätz, Paulo Kling Lourenço, Natalie Lamp, Juliane Lott, Katrin Mayer, Katharina Merz, Susanna Müller-Tischmacher, Ursula Nägele, Jana Nolden, Janine Quittschalle, Iris Schicker und Michael Willi für ihre hervorragende Arbeit.

Zusätzliches Material


Korrespondenzadresse

Dr. Johanna Breilmann
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie II, Universität Ulm, Bezirkskrankenhaus Günzburg Lindenallee 2
89312 Günzburg
Deutschland   

Publikationsverlauf

Eingereicht: 20. April 2023

Angenommen: 18. Juli 2023

Artikel online veröffentlicht:
09. Oktober 2023

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Abb. 2 Inanspruchnahme ausgewählter psychosozialer Therapien eingeteilt in die Empfehlungsgrade A, B und KKP (n=397).
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Abb. 1 Flow Chart Probanden.
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Abb. 3 Ergebnisse der Modell-Selektion (Die hervorgehobene Linie markiert den Schwellenwert von 0,8, ab dem Faktoren als eher wichtig angesehen werden können).