CC BY-NC-ND 4.0 · Physikalische Medizin, Rehabilitationsmedizin, Kurortmedizin
DOI: 10.1055/a-2125-9370
Originalarbeit

Umsetzung von Rehanachsorgeangeboten bei Kindern und Jugendlichen. Perspektiven aus der Praxis

Implementing rehabilitation aftercare services in children and adolescents. Perspectives from practice
Judith Stumm
1   Institut für Medizinische Soziologie und Rehabilitationswissenschaft, Charité Universitätsmedizin Berlin, Berlin, Germany
,
Sandra Fahrenkrog
1   Institut für Medizinische Soziologie und Rehabilitationswissenschaft, Charité Universitätsmedizin Berlin, Berlin, Germany
,
Laura Klüpfel
1   Institut für Medizinische Soziologie und Rehabilitationswissenschaft, Charité Universitätsmedizin Berlin, Berlin, Germany
,
Karla Spyra
1   Institut für Medizinische Soziologie und Rehabilitationswissenschaft, Charité Universitätsmedizin Berlin, Berlin, Germany
› Author Affiliations
Fundref Information Deutsche Rentenversicherung Bund — 8011 – 106 – 31/31.27.29
 

Zusammenfassung

Hintergrund und Zielstellung Für einen langfristigen und nachhaltigen Rehaerfolg bei chronisch erkrankten Kindern und Jugendlichen wurde mit Inkrafttreten des Flexirentengesetzes unter anderem die Durchführung der Rehanachsorge für Kinder und Jugendliche ermöglicht. Für die Umsetzung und Nutzung von Rehanachsorgeprogrammen gilt es, verschiedene Barrieren und Herausforderungen zu überwinden und involvierte Akteur*innen rollenspezifisch mit einzubeziehen. Ziel der qualitativen Studie war es, die Perspektiven von Kinderärzt*innen und Rehaklinikmitarbeiter*innen hinsichtlich des Wissensstandes, des Bedarfs sowie der Barrieren in Bezug auf Nachsorgeangebote für Kinder und Jugendliche zu untersuchen.

Methodik Es wurden 20 semistrukturierte Telefoninterviews mit niedergelassenen Kinder- und Jugendärzt*innen (N=10) sowie Rehaklinikmitarbeiter*innen (N=10) geführt. Die Daten wurden audiodigital aufgenommen, anonymisiert transkribiert und inhaltsanalytisch ausgewertet.

Ergebnisse Sowohl die niedergelassenen Ärzt*innen als auch die Klinikmitarbeiter*innen sind positiv gegenüber dem Konzept der Rehanachsorge eingestellt. Mangelnde Informationen, fehlende Kommunikationswege, knappe zeitliche Ressourcen und unklare Verantwortungsbereiche sind Gründe für die zurückhaltende Nutzung von Rehanachsorgeangeboten.

Schlussfolgerung Rehanachsorgeangebote für Kinder und Jugendliche stellen eine essentielle Ergänzung zur medizinischen Rehabilitation dar. Barrieren und Herausforderungen im Zugang und der Nutzung sollten zunächst aus der Perspektive von Versorger*innen beleuchtet und berücksichtigt werden. Eine gezielte Informationspolitik zu bestehenden Nachsorgeangeboten sowie eine standardisierte Regelung der Zuständigkeiten können eine Umsetzung und Nutzung von Rehanachsorgeangeboten fördern und die jeweiligen Akteur*innen entlasten.


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Abstract

Backround and objective For long-term and sustainable rehabilitation success of chronically ill children and adolescents, the Flexirentengesetz enabled, among other things, the implementation of rehabilitation aftercare for children and adolescents. For the implementation and use of rehabilitation programmes, it is necessary to overcome various barriers and challenges and to involve the stakeholders involved in a role-specific manner. The aim of the qualitative study was to investigate the perspectives of paediatricians and rehabilitation clinic staff with regard to the level of knowledge, needs and barriers related to aftercare services for children and adolescents.

Methods 20 semi-structured telephone interviews were conducted with paediatricians in private practice (N=10) and rehabilitation clinic staff (N=10). The data were audio-digitally recorded, anonymously transcribed and content-analytically evaluated.

Results Both paediatricians in private practice and staff of rehabilitation clinics have a positive attitude towards the concept of aftercare. Information deficits, communication channels, scarce time resources and unclear responsibilities are reasons for the hesitant use of aftercare services.

Conclusion Aftercare services for children and adolescents are an essential complement to medical rehabilitation. Barriers and challenges to access and use should first be explored and considered from the providers' perspective. A purposefully information policy on existing aftercare services, the expansion of a comprehensive range of services and a standardized regulation of responsibilities can promote the implementation and use of aftercare services and relieve the respective actors.


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Einleitung

Die Schwerpunktverlagerung von akuten zu chronischen Erkrankungen, die in den letzten Jahrzehnten unter Kindern und Jugendlichen stattgefunden hat, schlägt sich in einem wachsenden Stellenwert rehabilitativer Maßnahmen nieder [1] [2] [3].

Entsprechend den Daten der Basiserhebung der KiGGS Studie (Kinder- und Jugend Gesundheitssurveys des Robert Koch-Instituts) weist ein Anteil von 39% der Kinder und Jugendlichen eine chronische Erkrankung auf; darunter haben ¼ dieser Kinder und Jugendlichen laut Aussagen ihrer Eltern einen speziellen Versorgungsbedarf [4]. Die Verteilung der Hauptdiagnosegruppen in der Kinder- und Jugendlichen-Rehabilitation folgt einem ähnlichen Muster wie die Prävalenzen der chronischen Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen: Auf psychische- und Verhaltensstörungen entfällt mit 24% der größte Anteil der Rehabilitationen, gefolgt von Adipositas und sonstiger Überernährung mit 19% und Krankheiten der Haut und Unterhaut mit 9% [5].

Das Krankheitsmanagement von chronisch verlaufenden Krankheiten bei Kindern erfordert ein hohes Maß an Unterstützung und Pflege durch die Familien und stellt diese vor körperliche und psychische Herausforderungen in der Bewältigung des Alltags [6]. Die soziale Ungleichheit unter chronisch kranken Kindern und Jugendlichen und der damit einhergehende schlechtere Zugang zu gesundheitsfördernden Maßnahmen ist in diesem Zusammenhang ein zu berücksichtigender Faktor [1] [7] [8].

Um eine langfristige Sicherung der Rehabilitationseffekte zu erreichen, ist ein Versorgungsansatz unabdingbar, der über die stationäre Behandlung hinaus geht [9]. Betrachtet man z. B. die Indikation Adipositas, so zeigt eine kontrollierte-randomisierte Wirksamkeitsstudie, dass eine einjährige Lebensstilintervention mit kombinierten und interdisziplinären Therapieangeboten nach vorangegangener Reha bei adipösen Kindern nachhaltige positive Effekte erreichen kann [10].

Rehanachsorge zur Stabilisierung der erreichten Rehabilitationsziele ist bei erwachsenen Rehabilitand*innen mittlerweile ein fester Bestandteil der Versorgungskette der Deutschen Rentenversicherung [11].

Während eine Rehanachsorge der Deutschen Rentenversicherung für Kinder und Jugendliche erst seit Inkrafttreten des Flexirentengesetzes (Gesetz zur Flexibilisierung des Übergangs vom Erwerbsleben in den Ruhestand und zur Stärkung von Prävention und Rehabilitation im Erwerbsleben) [12] möglich ist, bestand der Anspruch auf Rehasport und Funktionstraining bereits zuvor als ergänzende Leistung nach §64 SGB IX [13].

Kinder- und Jugendärzt*innen (im Folgenden kurz Kinderärzt*innen genannt) sind erste Ansprechparter*innen für die von ihnen betreuten Kinder und Jugendlichen und ihre Familien. Sie nehmen eine wichtige Lotsenfunktion ein [14].

Auch die Versorger*innen der Rehabilitationskliniken nehmen eine bedeutende Rolle im gesamten Rehabilitationsprozess ein und sind entscheidende Richtungsweiser*innen in der Nachsorge. Sie sind in der Regel diejenigen, die den Nachsorgebedarf während der medizinischen Reha feststellen und in die Wege leiten [15]. Die Fragmentierung des Gesundheitssystems und die dadurch entstehenden Schnittstellenproblematiken erschweren jedoch die Zusammenarbeit dieser beiden maßgeblichen Akteur*innen [16].

Auch die Familien von chronisch erkrankten Kindern nehmen heutzutage vermehrt eine aktive und eigenverantwortliche Rolle im Rehabilitationsprozess ein; ihnen wird somit ein wichtiger Stellenwert im Rehabilitationsprozess zugeschrieben [17].

Vor diesem Hintergrund wurden im Rahmen einer qualitativen Interviewstudie folgende Fragestellungen untersucht:

  • Wie wird der Bedarf an Rehanachsorge aus der Sicht von Mitarbeiter*innen aus Rehabilitationskliniken und niedergelassenen Kinderärzt*innen beurteilt?

  • Wie sieht die aktuelle Nachsorgepraxis bei Kinderärzt*innen und Rehaklinikmitarbeiter*innen aus?

  • Welche Barrieren bestehen bei der Umsetzung der Rehanachsorge?


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Material und Methode

Studiendesign

Die qualitative Erhebung stellt eine von drei Studienphasen eines übergreifenden Projektes dar. Sie war eingebettet in ein paralleles Mixed-Methods-Design, in welchem die qualitativen und quantitativen Erhebungsschritte unabhängig voneinander durchgeführt wurden und einen gleichgewichtigen Status besaßen [18]. Im Sinne der Triangulation der Daten wurden alle Studienphasen separat erhoben und ausgewertet; die Integration der Daten erfolgte am Ende des Projektes [19].

Zu den drei Studienphasen gehörten neben der Erhebung der qualitativen Daten die Auswertung von Routinedaten der Deutschen Rentenversicherung zur Erfassung der Inanspruchnahme von Nachsorgeangeboten für Kinder und Jugenddliche sowie eine Bestandsaufnahme der zum Zeitpunkt der Durchführung der Studie bestehenden Nachsorgeangebote für Kinder- und Jugendliche in Deutschland, mittels strukturierter Internetrecherche und schriftlicher Befragung von relevanten Einrichtungen.

Im Rahmen der qualitativen Erhebung, um die es in diesem Artikel geht wurden semistrukturierte telefonische Leitfadeninterviews mit niedergelassenen Kinderärzt*innen und Rehaklinikmitarbeiter*innen geführt. Mit der qualitativen Erhebung sollten tiefergehende Perspektiven und mögliche Barrieren aus dem Praxisalltag der Versorger*innen näher beleuchtet werden. Den Kinderärzt*innen und Rehaklinikmitarbeiter*innen wurde die Rolle der Expert*innen zugewiesen [20], die sowohl ihr Fakten- und Erfahrungswissen aus ihrer Berufsrolle als auch implizites Wissen in Form von subjektiven Deutungen einbringen, um so einen Zugang zu den forschungsrelevanten Themenbereichen zu eröffnen [21].

Die Teilnehmer*innen wurden schriftlich und mündlich über die Studie informiert und erteilten schriftlich ihre Einwilligung zur Erhebung ihrer Daten in anonymisierter Form.

Die Ethikkommission der Charité hat ein positives Votum für das Projekt erteilt (EA2/264/20).


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Rekrutierung

Zwischen Oktober 2020 und Februar 2021 wurden 480 niedergelassene Kinderärzt*innen in fünf Wellen über die bundesweite Online-KV-Suche kontaktiert. Per Zufallsauswahl wurden je Rekrutierungswelle sechs Ärzt*innen pro Bundesland bestimmt und per E-Mail zu einem Telefoninterview eingeladen.

Um die geplante Stichprobenzahl von zehn zu erreichen, wurde aufgrund eines eher zurückhaltenden Interesses zur Teilnahme an den Interviews pragmatisch vorgegangen und diejenigen Ärzt*innen in die Studie eingeschlossen, die sich auf die Einladung zurückgemeldet haben. Einschlusskriterien waren die ambulante Tätigkeit als Kinderärzt*in sowie Erfahrung im Zusammenhang mit Beratungen zu Rehabilitationsmaßnahmen.

Mit zehn Kinderärzt*innen wurden schließlich telefonische, semistrukturierte Expert*inneninterviews im Zeitraum zwischen November 2020 und Februar 2021 geführt. Nach zehn durchgeführten Interviews konnte eine inhaltliche Sättigung erwartet werden. Die teilnehmenden Ärzt*innen erhielten nach der Interviewdurchführung eine Aufwandsentschädigung in Höhe von 50 Euro. Diese Aufwandsentschädigung begründet sich mit der Erfahrung eher zurückhaltender Beteiligung von Ärzt*innen an Forschungsvorhaben und sollte diese zur Teilnahme motivieren.

Für die Rekrutierung der Rehaklinikmitarbeiter*innen wurden zwischen Oktober 2020 und Dezember 2020 bundesweit alle Rehabilitationseinrichtungen für Kinder und Jugendliche, die im Einrichtungsverzeichnis der Rehabilitation für Kinder und Jugendliche des Caritas-Bundesverband Kinder- und Jugendreha e. V. und des Bündnis Kinder- und Jugendreha eingetragen sind, per E-Mail kontaktiert und um Teilnahme an Telefoninterviews gebeten.

Vier Kliniken bekundeten ihr Interesse und wurden in die Studie eingeschlossen.

Es wurden schließlich zehn telefonische, semistrukturierte Leitfadeninterviews mit Mitarbeiter*innen der Rehabilitationskliniken zwischen Januar 2021 und März 2021 durchgeführt. Die Auswahl der Interviewteilnehmer*innen erfolgte durch die jeweiligen Klinikleitungen gemäß dem Anspruch einer heterogenen Darstellung der Berufsgruppen.

Für die Interviews mit den niedergelassenen Ärzt*innen und den Klinikmitarbeiter*innen wurde der gleiche, jedoch auf das Arbeitsumfeld und die Berufsgruppe spezifisch angepasste Interviewleitfaden als Grundlage genutzt (Interviewleitfäden unter Anhang 1 und Anhang 2 einsehbar). Der semistrukturierte Interviewleitfaden wurde im Forscher*innenteam (JS, SF, LK) in einem ersten Entwurf erstellt und in einem iterativen Prozess weiterentwickelt und finalisiert. Er umfasste u. a. Fragen zur aktuellen Nachsorgepraxis und zu Barrieren und Herausforderungen der Rehanachsorge für Kinder- und Jugendliche. Die im Leitfaden formulierten Fragen dienten als Orientierung und wurden im Interviewverlauf dialogisch angepasst und offen formuliert ([Tab. 1]). Ein Pretest des Leitfadens wurde vorab durchgeführt.

Tab. 1 Auszug aus dem Interviewleitfaden zum Thema Rehanachsorge für Kinder und Jugendliche (berufsspezifisch auf Kinderärzt*innen und Klinikmitarbeiter*innen bei Interviewführung angewendet).

Ausgewählte Fragen aus dem Interviewleitfaden für Ärzt*innen und Rehaklinik-Mitarbeiter*innen

  • Was halten Sie von der neuen Möglichkeit der Reha-Nachsorge?

  • Welche Einrichtungen sind Ihnen bekannt, die uni- oder multimodale Reha-Nachsorgeangebote für Kinder/Jugendliche anbieten?

  • Wie geht es in der Praxis aktuell für ein Kind/Jugendlichen nach der Reha weiter?

  • Wie sieht der Kontakt zu Rehakliniken/Kinderärzt*innen aus?

  • Welche Form der Kommunikation?/Frequenz des Kontaktes/Bestehen Absprachen oder Kooperationen mit Rehakliniken/Kinderarztpraxen?

  • Welche könnten die Schwierigkeiten bei der Umsetzung/Entwicklung von Nachsorgeangeboten sein?

  • Woran könnte es Ihrer Meinung nach liegen, dass vorhandene Nachsorgeangebote noch kaum genutzt werden?


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Datenauswertung

Die telefonischen Leitfadeninterviews mit den Kinderärzt*innen und den Mitarbeiter*innen aus den Rehakliniken dauerten im Mittel 37,5 Minuten (21–53). Sie wurden audiodigital aufgezeichnet und anonymisiert transkribiert. Die Auswertung erfolgte in Anlehnung an die qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring [22] [23] und wurde im Rahmen einer strukturierten Vorgehensweise kombiniert deduktiv und induktiv durch die Forscherinnen (JS, LK, SF) durchgeführt [23] [24]. Das Kategoriensystem bestand aus 56 Kategorien und Unterkategorien auf 2 Ebenen. Die deduktiven Kategorien wurden aus dem Vorwissen der Forscherinnen und entsprechend en Themen aus dem Leitfaden abgeleitet. Induktive Kategorien wurden aus dem Textmaterial selbst oder anhand von Feldnotizen aus der Interviewführung gebildet. (Kategoriensystem als Anhang 3 verfügbar)

Für die Analyse wurde unterstützend das Software-Programm Maxqda 2020 (VERBI Software GmbH, Deutschland) genutzt.


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Ergebnisse

Die Stichprobe der Versorger*innen bestand aus zehn Kinderärzt*innen sowie zehn Rehaklinikmitarbeiter*innen.

Das Geschlechterverhältnis der Kinderärzt*innen war gleich (männlich=5 und weiblich=5). Das mittlere Alter betrug 56 Jahre.

Unter den interviewten Rehaklinikmitarbeiter*innen waren sechs Kinder- und Jugendärzt*innen, zwei Kinder- und Jugendpsycholog*innen, ein*e Jugend- und Heilerzieher*in sowie ein*e Sportwissenschaftler*in. Drei der Klinikmitarbeiter*innen waren weiblich und sieben männlich. Das mittlere Alter betrug 47 Jahre.

Die Ergebnisse werden im Folgenden thematisch zusammengehörend dargestellt und wurden von den gebildeten Kategorien und Subkategorien abgeleitet. Die Kategorien und Subkategorien, auf die sich die folgenden Ergebnisse beziehen, sind in [Abb. 1] dargestellt.

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Abb. 1 Darstellung der Kategorien, auf die sich die Ergebnisse thematisch beziehen.

Die Themenabschnitte werden mit besonders markanten exemplarischen Zitaten untermauert. Die hier abgebildeten Zitate wurden durch die Autor*innen für eine bessere Lesbarkeit geglättet. Für eine bessere Nachvollziehbarkeit des Gesagten wird jedes Zitat mit einem Kürzel für Kinderärzt*in (KA) oder Klinikmitarbeiter*in (KMA) versehen. Die Nummerierung entspricht der jeweiligen Nummer des Interviews, aus dem das Zitat stammt.

Einstellung zur ambulanten Nachsorgemöglichkeit

Insgesamt lässt sich sowohl unter den niedergelassenen Kinderärzt*innen als auch unter den Klinikmitarbeiter*innen – unabhängig davon, ob sie bereits von der Nachsorge wussten oder nicht – eine positive Einstellung zur Rehanachsorge ableiten. Aus dem Gesagten lässt sich die Überzeugung und Motivation zur Nutzung von Nachsorgeprogrammen ableiten. Anhand von Fallbeispielen aus der Praxis begründen die Expert*innen die Notwendigkeit der Etablierung von Nachsorgeprogrammen. Hierbei kommen vor allem Aspekte wie der Transfer von Gelerntem aus der stationären Reha in den Alltag, die individuellen und indikationsspezifisch realistischen Erfolgserlebnisse und die Nachhaltigkeit von Erlerntem zum Tragen.

„Das finde ich ganz gut, weil es doch bei gewissen Krankheitsbildern nach der Reha-Maßnahme immer wieder zu Irritationen kommt. Also ein Patient, der wegen Adipositas in eine Rehaklinik geht und ein bisschen abgenommen hat und vor allen Dingen viele Maßnahmen zur Gewichtsreduktion gelernt hat. Da erleben wir doch immer wieder als Niedergelassene, dass der Rebound-Effekt nach einem halben, dreiviertel Jahr auftritt. Und das eigentlich Erlernte gar nicht mehr angewendet wird. Und man ziemlich schnell wieder bei dem alten Gewicht ist. Und insofern ist eine ambulante Nachsorge sicherlich ganz sinnvoll“ (KA_8).

„Wenn man weiß, wann Reha nachhaltig helfen soll, dann ist klar, dass wir ohne das Stichwort ‚Nachsorge‘ nicht weiter auskommen können. Deshalb MÜSSEN wir letzten Endes Mittel und Wege finden, das zu etablieren“ (KMA_3).


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Bekanntheitsgrad von Nachsorgeangeboten

Unter den interviewten Kinderärzt*innen sind bestehende Nachsorgeprogramme bisher nicht bekannt. Einige der Ärzt*innen vermitteln die Kinder und Jugendlichen nach der Reha innerhalb ihres eigenen Netzwerks an Kolleg*innen weiter, die eine adäquate Versorgung über das eigene Fachgebiet hinaus gewährleisten. Außerdem wird hier die fehlende Informiertheit deutlich, in dem ein*e Kinderärzt*in sich fragt, wie ein solches Nachsorgeangebot zu erkennen sei und durch welche Akteur*innen ein solches Programm angeboten werde.

„Nicht, dass ich wüsste. Ist mir jetzt nichts bewusst. Ich weiß auch nicht, in welcher Form die sich bemerkbar machen, diese Nachsorgeprogramme. Weil, wenn ich ein Kind habe, das aus einer Neurodermitis-Reha-Maßnahme zurückkommt und braucht noch mehr, als ich jetzt in meinem normalen Praxisalltag anbiete, dann weiß ich halt, zu welchem Kollegen ich das schicke. Weil ich den kenne und weil ich weiß, der hat eine Psychologin mit in der Praxis. Aber ich weiß jetzt nicht, ob der offiziell zu diesem, von Ihnen genanntem, NACHSORGE-Programm gehört. Ich wüsste jetzt gar nicht, wie ich da eines Ihrer genannten Nachsorgeprogramme ERKENNE, sozusagen“ (KA_2).

„Genauer habe ich das nicht gelesen und tatsächlich sind mir auch weder von Leistungserbringern noch vom Finanzier bisher irgendwelche ambulanten Reha-Nachsorgen untergekommen. AUCH nicht von den Kliniken, die mir Patienten mitsamt Brief nach Entlassung wieder zugewiesen haben“ (KA_6).

Den interviewten Klinikmitarbeiter*innen wiederum waren einzelne Nachsorgeangebote bekannt. Diese wurden ihnen zum einen über die Liste der Nachsorgeangebote der Deutschen Rentenversicherung vermittelt, die zunächst einen Überblick aller aktuell etablierten Nachsorgeangebote deutschlandweit darstellt.

Andere interviewte Klinik-Mitarbeiter*innen kannten einzelne Nachsorgeangebote aus der Region, die ihnen über die Anbieter per Flyer zugeschickt bekamen.

„Also, wir hatten da vor einem Jahr mal eine Liste bekommen. Da ging es überwiegend um Nachsorge im Adipositas-Bereich, wo deutschlandweit aufgelistet war, wer da was anbietet. Das heißt insofern sind uns ein paar bekannt. Allerdings ist das (Seufzen) schwierig, weil wir ja die Kinder aus ganz Deutschland bekommen“ (KMA_5).

„Also, ich kenne jetzt eines, weil uns der Flyer zugeschickt wurde. Das könnte ich jetzt hier mit X (Name des Nachsorgeangebotes) benennen. Aber auch ich, in leitender Funktion, habe ich da keinen wirklichen adäquaten Überblick, deutschlandweit. Weil die kommen ja deutschlandweit zu uns her“ (KMA_1).


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Aktuelle Weiterversorgung nach der stationären Reha

Die aktuelle Weiterversorgungspraxis nach der Rückkehr der Kinder und Jugendlichen aus der stationären Rehabilitation richtet sich für die niedergelassenen Kinderärzt*innen nach dem Entlassbericht bzw. nach den Weiterversorgungsmaßnahmen, die durch die Rehaklinik bereits initiiert wurden, und nach dem Krankheitsbild der Kinder und Jugendlichen. Je nach Indikation ist die Beibehaltung der erzielten Erfolge aus der Reha schwieriger und bedarf einer nachhaltigen Weiterversorgung bzw. Nachsorge, welche aktuell nicht gut funktioniert.

„Klar, ich lese mir auch nicht die ganzen Seiten [des Entlassberichts aus der Reha] durch, sondern (Lachen) blättere mal durch und lese nachher die Zusammenfassung und die Empfehlungen. Und dann geht es halt irgendwie wieder ambulant weiter“ (KA_1).

„Und bei der Adipositas scheitert der Rückweg ganz häufig daran, dass das Setting eben danach nicht funktioniert. Weil sie dann tatsächlich aus dieser engen Anleitung mit Ernährung, mit Bewegung und so weiter wieder draußen sind. Das heißt, der Weg zurück von der Reha in den niedergelassenen, häuslichen Bereich, der scheitert und funktioniert nicht gut“ (KA_7).

Im Rahmen eines Abschlussgesprächs zum Ende des stationären Reha Aufenthalts werden Möglichkeiten der Weiterversorgung eruiert. Hierbei werden Nachsorgemöglichkeiten angesprochen, welche nicht per se anerkannte Nachsorgeprogramme, sondern ebenso Unterstützung aus anderen Hilfesystemen mit einbezieht.

„Standardmäßig besprechen wir im Abschlussgespräch, was Themen in der Nachsorge sein können. Das heißt aber auch, welche weiterführenden Hilfen aus den unterschiedlichen Helfersystemen – also Gesundheitswesen, aber auch Jugendhilfe – interessant sein können. Das sind nicht ausschließlich Nachsorgeprogramme“ (KMA_1).

„Ja (Seufzen), es gibt jetzt nicht den allgemeinen Masterplan. Also das Abschlussgespräch dient wirklich dazu: ‚Sind wir jetzt einen Schritt weiter im Rückblick?‘ Um auch zu gucken, wo sind die eigenen Ideen. Das kann man, je nach Alter, aus den Kindern und Jugendlichen rauskitzeln, um das irgendwie aufrecht zu erhalten. Oder: ‚Was konnte die Reha auch nicht leisten?‘ ‚Wo brauchen wir vielleicht noch jemand anderes mit im Boot?‘ Ist ja nicht so, dass das bei allen gleich der krönende Erfolg war, sondern dass man sagt: ‚Hey, da müssen wir vielleicht nochmal links und rechts mehr gucken‘“(KMA_4).


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Verantwortung und Zuständigkeiten in der Initiierung und Organisation des Nachsorgeprozesses

Zur Frage der Verantwortung und Zuständigkeit im Nachsorgeprozess lässt sich aus beiden Perspektiven ein heterogenes Bild ableiten. Deutlich wird, dass keine klar geregelten Verantwortungs- und Zuständigkeitsbereiche bestehen. Einige Kinderärzt*innen und Rehaklinikmitarbeiter*innen sehen sich selbst in der Verantwortung, andere wiederum fühlen sich nicht zuständig oder sehen einen gemeinsamen Verantwortungsbereich in Abhängigkeit von der Zuarbeit des jeweiligen anderen Akteurs.

„Ja, insofern, dass die [Kinderärzt*innen] einen Entlassbrief von uns bekommen. Manchmal auch noch ein persönlicher Kontakt, das ist ganz unterschiedlich. Und dann haben die ja die Info. Und dann gehen wir davon aus, dass der EINWEISER, der ja längerfristig mit der Familie in Behandlung ist, die Empfehlung, die wir jetzt auch geben oder verordnen, noch einmal hinterfragt: ‚Hat das stattgefunden, oder?‘“ (KMA_1)

„Also das sehe ich auf jeden Fall, dass wir Kinderärzte das gut streuen könnten. Und dann natürlich auch immer in Abhängigkeit mit der Reha. Wenn die das entsprechend vorbereiten oder dann auch mit uns in Kontakt treten würden, dann kann man die Information natürlich gut mit denen zusammen an die Eltern weitergeben“ (KA_7).

„Also ich denke, wenn WIR gut ausgestattet sind mit Informationen 'Wo gibt ist welche Nachsorgeprogramme?' Und wenn Informationen leicht zugänglich sind, dann sehe ich es tatsächlich in unserer Verantwortung, dass wir uns da auch drum kümmern, dass es dann nahtlos oder irgendwann später in den Angriff genommen wird“ (KMA_3).

Wichtig erscheint es jedoch aus beiden Perspektiven, die Sorgeberechtigten aktiv miteinzubeziehen, da sie maßgeblich an der Initiierung und Durchführung der Nachsorge beteiligt sind.

„Und wenn jetzt aber die Eltern nicht so eifrig sind, passiert es wahrscheinlich auch mal, dass es im Sande verläuft und, dass dieser Schwung dann verloren geht. Also da, glaube ich, gibt es schon Heilungsverluste. Das könnte man schon besser machen“ (KA_1).

„Also, dass man das wirklich nicht nur in den Bericht reinschreibt, nicht nur mit den Jugendlichen bespricht, sondern auch dann im Abschlussgespräch mit den Eltern. Und den Eltern das sehr deutlich sagt, dass das jetzt der nächste Schritt ist, denn sonst sind irgendwann die sechs Wochen intensiver Reha-Zeit verpufft“ (KMA_7).


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Barrieren bei der Umsetzung von Nachsorgeangeboten

Es lassen sich drei Hauptbarrieren aus den Interviews herausarbeiten: der Informationsmangel, fehlende Kommunikationswege und die fehlenden finanziellen und zeitlichen Ressourcen der Akteur*innen.

Sowohl die niedergelassenen Kinderärzt*innen als auch die Klinikmitarbeiter*innen nehmen eine Informationslücke (u a. zu (nicht-) vorhandene Nachsorgeprogramme, über die Initiierung und den Ablauf) wahr, die sie daran hindert, die Teilnahme ihrer Patient*innen an Nachsorgeprogrammen in die Wege zu leiten.

„Fehlende Informationen, würde ich sagen. Also, trifft ja auch auf mich zu, dass ich jetzt gar nicht wüsste, wo ich die da jetzt hinschicken kann? Das ist eigentlich der Hauptfaktor, dass da einfach die Informationen fehlen“ (KA_10).

„Und ich habe auch den Eindruck, dass das auch bei uns Mitarbeitern noch nicht durchdrungen ist, welche Nachsorge, bzw. dass es da Gesetzesveränderungen gibt. Also: ‚Was ist konkret zu tun? Wen kann man empfehlen als Nachsorgeprogramm? Wie läuft das auch ab?‘“ (KMA_1)

„Momentan sehe ich das tatsächlich in der Praxis noch nicht. Es ist schlichtweg nicht umsetzbar, weil da der Informationsfluss offensichtlich noch stockt. Und wir einfach zu wenig Programme KENNEN“ (KMA_3).

Für die Initiierung und für die Nutzung von Nachsorge(angeboten) spielt die Kommunikation zwischen den Kinderärzt*innen und den Klinikmitarbeiter*innen eine wichtige Rolle. Ein geeigneter Kommunikationsweg zwischen beiden Akteur*innen, der über einen möglichst kurzen Entlassbrief aus der Rehaklinik hinausgeht, scheint noch nicht final gefunden worden zu sein. Einig sind sich jedoch beide Berufsgrupppen, dass die Kommunikation zwischen niedergelassenen Kinderärzt*innen und Klinikmitarbeiter*innen eine wichtige Voraussetzung für eine gelingende Weiterversorgung bzw. Nachsorge der Kinder und Jugendlichen ist.

„Naja, ich würde mich über einen halbseitigen Brief freuen, in dem z. B: steht: ‚Wir haben hier noch drei Termine gehabt. Diät besprochen, Hauteincremung gemacht, wir haben das mit dem Bruder geklärt. Und den beim Sportverein tatsächlich angemeldet und geguckt, dass die da startet und damit ist unsere Mission jetzt beendet.‘ Dass man so ein Mal, das Ergebnis in fünf Sätzen hat. Und vielleicht noch die Empfehlung. Das wäre schon klasse und wichtig. (…) .‘ Möglichst nicht mit Unterschreiben und irgendwo hin faxen, wo die Fax-Nummer nicht geht (lacht) und irgendwo auf dem Schreibtisch landet“ (KA_1).

„Also ich lehne das definitiv nicht ab, dass ich irgendwelche Verbindungen mit den niedergelassenen Kollegen aufbaue. Nur ist das wieder ein Zeitaufwand und eine Zeitbeschränkung. Weil keiner von uns beiden ist, sage ich mal, frei von Terminen oder hat einen leeren Kalender, sodass wir relativ schnell in Kontakt kämen. Ich würde mich freuen, wenn das vielleicht ein bisschen direkter oder einfacher funktioniert, als wenn ich dann vielleicht eine ganze Woche versuchen müsste, zehn Mal am Tag anzurufen, bis der Kollege Zeit hat oder bis da jemand ans Telefon geht“ (KMA_10).

Knappe zeitliche und finanzielle Ressourcen auf Seiten beider Versorger*innen erschweren zudem die Initiierung und Organisation der Nachsorge.

„Also ich würde nicht recherchieren, dazu habe ich, glaube ich, nicht die Möglichkeiten. Wird ja auch nicht honoriert – kleiner Nebensatz“ (KA_8).

„Also im ambulanten Sektor ist ein großes Problem ja immer der Faktor Zeit. Und Faktor Zeit nimmt man sich nicht, weil Faktor Geld dann nicht stimmt. Das heißt, wenn man sich sehr, sehr viel Zeit nimmt, dann bleibt einfach Zeit für die anderen auf der Strecke. Und es wird nicht angemessen honoriert. Und alles was frustran zu therapieren ist, dauert meistens sehr viel Zeit. Und deshalb ist es im ambulanten Bereich häufig nicht gut abgedeckt“ (KA_7).

„Also wie gesagt, ich kann Ihnen gar nicht sagen, was es da gibt, weil ich zu wenig Zeit habe, um da aktiv zu recherchieren – was durchaus meine Aufgabe wäre als Oberarzt und das dann wieder an meine Mitarbeiter weiterzugeben. Dazu komme ich aber im Alltag nicht wirklich“ (KMA_5).


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Informationsübermittlung

Bestehende Nachsorgeangebote sollten sowohl aus Sicht der niedergelassenen Kinderärzt*innen als auch aus der Perspektive der Klinikmitarbeiter*innen online, bestenfalls über eine Plattform, zur Verfügung gestellt werden, über welche gezielt nach Indikation und Postleitzahl gesucht werden kann.

„Deswegen wäre vielleicht so ein Netzwerk SUPER, wo Patient*innen sich vielleicht gleich digital freie Termine suchen können. Das wäre so meine Idee. Es gibt ja auch so verschiedene Programme schon für Ärzte“ (KA_2).

„Klar, Flyer sind schon sinnvoll, aber das würde uns ja überfluten. Wenn man deutschlandweit von ALLEN Nachsorge-Programmen…das geht eigentlich fast gar nicht. Man müsste ONLINE einen Überblick haben. Dass man irgendwie eine Plattform gestaltet, dass man GEZIELT entweder nach der Region und dem Störungsbild schauen kann. Am besten wäre da natürlich so eine Suchfunktion. Dass man Kategorien auswählen kann und dann ploppt auf, was es gibt“ (KMA_1).


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Diskussion

Die Interviewstudie gewährt einen Einblick in die Perspektiven von Versorger*innen zur ambulanten Rehanachsorge für Kinder und Jugendliche. Während den niedergelassenen Kinderärzt*innen diese Möglichkeit weitestgehend nicht bekannt ist, sind die interviewten Rehaklinikmitarbeiter*innen entweder informiert oder leiten die Rehanachsorge teilweise im Klinikalltag bereits in die Wege.

Trotz heterogenem Wissensstand unter den Versorger*innen sind sie positiv gegenüber der Möglichkeit der Rehanachsorge eingestellt und unterstreichen die Relevanz und die Notwendigkeit der Durchführung von Rehanachsorgeprogrammen für Kinder und Jugendliche.

Als Hauptbarrieren wurden in beiden Settings der Informationsmangel, die fehlendenden Kommunikationswege und die knappen zeitlichen Ressourcen abgeleitet. Laut der niedergelassenen Kinderärzt*innen und der Klinikmitarbeiter*innen bedarf es zudem Unterstützung in der Umsetzung durch die Festlegung von Verantwortungsbereichen und der jeweiligen Rollen im Rahmen des Nachsorgeprozesses in beiden Settings, sowohl ambulant als auch stationär.

Den meisten Kinderärzt*innen sind keine Nachsorgeangebote bekannt. Die Klinikmitarbeiter*innen kennen hingegen vereinzelt Nachsorgeprogramme, die in ihrer Region umgesetzt werden. Die geringe Kenntnis über und die daraus resultierende zurückhaltende Inanspruchnahme von Nachsorgeprogrammen für Kinder und Jugendliche ist sicherlich vor allem darauf zurückzuführen, dass es derzeit bundesweit zwar ein kontinuierlich wachsendes, aber noch relativ kleines Angebot an Nachsorgeprogrammen gibt, welches größtenteils auf die Indikation Adipositas, ausgerichtet ist (als regelmäßig aktualisiertes Dokument zum Download auf Webseite der Deutschen Rentenversicherung zu finden unter: https://www.deutsche-rentenversicherung.de/DRV/DE/Experten/Infos-fuer-Reha-Einrichtungen/nachsorge_ki_ju/uebersicht_nachsorgeangebote_ki_ju.html) [25].

Kinder und Jugendliche in Deutschland haben im Vergleich zu anderen Ländern die Möglichkeit, ein breites Spektrum an Angeboten zur Rehabilitation wahrzunehmen. Allerdings zeigt sich aufgrund der fehlenden Zuständigkeiten auf Seiten der unterschiedlichen Akteur*innen im Versorgungssetting ein unübersichtliches fragmentiertes System, welches mögliche Zugangsbarrieren und ungleiche Chancen verursacht [26].

Auch aus den Interviews geht hervor, dass aufgrund unklarer Verantwortungsbereiche und Zuständigkeiten in der Initiierung und Organisation der Rehanachsorge durch die Rehakliniken und/oder die Kinderärzt*innen die Initiierung einer Nachsorge zusätzlich auf den Schultern der Sorgeberechtigten lastet und dementsprechend von ihrem Einsatz abhängt.

Insbesondere den Kinderärzt*innen könnte in dem Prozess der Nachsorge eine besondere lotsenähnliche Rolle zukommen [27]. Sie sind Ansprechpartner*innen, wenn die Kinder und Jugendlichen zurück in die Häuslichkeit kehren, und können unterstützend sicherstellen, dass die erreichten Rehabilitationsziele bestehen bleiben und die durch die Rehaklinik angestoßene Nachsorge in die Umsetzung bringen.

Für das Funktionieren einer solchen Behandlungskette und zur Entlastung der knappen Zeitressourcen von Kinderärzt*innen und Rehaklinikmitarbeiter*innen könnte auch der Einsatz einer Art spezialisierten Lots*in als hilfreich erachtet werden [5] [26]. Die Ergebnisse einer Machbarkeitsstudie zu einem durch die Konsensusgruppe Adipositasschulung für Kinder und Jugendliche (KgAS) entwickelten Nachsorgekonzept bewerten die Erfahrungen mit dem Einsatz eines/einer Casemanager*in positiv. Diese geschulte Person übernimmt die Koordination und Organisation der Nachsorge und betreut die Familien weiterhin im Alltagssetting. Hierdurch sind die Zuständigkeiten klar geregelt und die Familien haben eine(n) feste(n) Ansprechpartner*in während des gesamten Nachsorgeprozesses [28].

Als Hauptbarriere wurde der Informationsmangel aus den Interviews herausgearbeitet. Um diesen Informationsmangel zu beseitigen, müssen Informationen in den verschiedenen Settings niedrigschwellig gestreut werden. Dies könnte – so wie von Pohontsch et al. 2013 in einem anderen Rehabilitationskontext durch eine eigens dafür konzipierte Website oder einer spezifischen Servicestelle – gelöst werden [16]. Eine geeignete Plattform könnte beispielsweise die bereits bestehende Webseite „Kinder- und Jugendreha im Netz“ (https://www.kinder-und-jugendreha-im-netz.de) darstellen, die gebündelte Informationen zum Thema Kinder- und Jugendreha für verschiedene Zielgruppen abbildet sowie zur Vernetzung unter den Akteur*innen dienen könnte.

Ein weiteres Ergebnis ist, dass die Organisation der Rehanachsorge nur im Einzelfall durch die Kinderärzt*innen übernommen wird. Auch in anderen rehabilitationsassoziierten Kontexten, wie beispielsweise der Antragstellung zur stationären Rehabilitation, findet sich ein hoher zeitlicher Aufwand wieder, den viele Ärzt*innen in ihrer Freizeit aufwenden [29]. Dieses Handeln ist vermutlich eher auf die persönliche Motivation und das Interesse der jeweiligen Kinderärzt*innen zurückzuführen.

Aus der Interviewstudie geht hervor, dass beide befragten Akteur*innen eine bessere Kommunikation untereinander wünschen. Aufgrund von mangelnden zeitlichen Ressourcen kommt dies im Berufsalltag jedoch zu kurz. Der fehlende Informationsaustausch beeinträchtigt schließlich die nachhaltige Versorgung von Kindern und Jugendlichen. Der Wunsch nach direkten und einfachen Kommunikationswegen zwischen Kinderärzt*innen und den verantwortlichen Klinikmitarbeiter*innen wird angesprochen.

Pohontsch et al. (2013) haben im Rahmen von Gruppengesprächen mit allen Akteur*innen der Rehabilitationskette Schnittstellen identifiziert, benannt und mögliche Lösungsstrategien erarbeitet. Kommunikationsdefizite als ein genanntes Problemfeld unter vielen weiteren könnten beispielsweise durch direkte Kontakt-Telefonnummern oder E-Mail-Adressen, durch die Benennung konkreter Ansprechpartner*innen oder durch Foren und regelmäßigen Treffen gelöst werden [16]. Auch der Informationsaustausch über den durch die Kinderärzt*innen als zu lang beschriebenen Entlassbrief aus der Rehaklinik lässt sich lösungsorientiert durch einen Kurzbrief verbessern [16].

Limitationen

Die Teilnahme von nur vier Rehabilitationskliniken an der Interviewstudie lässt sich möglicherweise auf die Durchführung während der Coronapandemie zurückführen. Durch die während der Corona-Pandemie geringere Belegung der Rehabilitationseinrichtungen und den internen Umstellungen aufgrund der notwendigen Hygienemaßnahmen könnte zum einen die Motivation zur Teilnahme an einer Studie herabgesetzt gewesen sein. Zum anderen könnte ein Corona bedingter knapper Personalschlüssel ebenso dazu geführt haben, dass das Rehaklinikpersonal nicht zur Teilnahme an einer Studie zur Verfügung stand.

Weiterhin liegt die Vermutung nahe, dass es sich bei den eingeschlossenen Kinder-und Jugendärzt*innen vorwiegend um forschungserfahrene Kinder- und Jugendärzt*innen handelt. Es ist anzunehmen, dass Ihre Kenntnis zu der Thematik, die Ärzt*innen dazu motiviert hat, an der Studie teilzunehmen.

Weiterhin hat die Corona-Pandemie zusätzlich neben anderen Einflussfaktoren ebenso Auswirkungen auf die Etablierung von Nachsorgeangeboten. Einerseits lässt sich vermuten, dass aufgrund der pandemiebedingten Hygienemaßnahmen bestehende Nachsorgeangebote über einen langen Zeitraum entweder gar nicht oder nur eingeschränkt umsetzbar waren. Andererseits ist es möglich, dass bestehende Nachsorgeprogramme aufgrund einer zu geringen Auslastung aus dem Netz genommen wurden.

Die Perspektive der Versorger*innen stellt einen wichtigen Faktor für die Etablierung von Nachsorgeangeboten dar. Im Rahmen der Interviewstudie wurden jedoch nur Kinderärzt*innen und Klinikmitarbeiter*innen einzeln befragt. Es fehlen die Sichtweisen von weiteren Akteur*innen der Rehabilitationskette.


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Schlussfolgerung

Abschließend ist festzuhalten, dass Rehanachsorgeangebote für Kinder und Jugendliche von allen Befragten als eine äußerst wichtige Ergänzung zur stationären Rehabilitation gesehen werden. Rückblickend auf einen Zeitraum von mittlerweile über fünf Jahren nach den Änderungen in der Gesetzgebung bedarf es sicherlich einer besseren Informationsverbreitung zur Möglichkeit der Durchführung der Rehanachsorge, einer klaren Regelung der Zuständigkeiten beim Nachsorgemanagement und eines wachsenden flächenendeckenden Angebots, welches auch die ländlichen Regionen mitberücksichtigt.

Ein niedrigschwelliger Zugang zu Informationen zur Rehanachsorge für Kinder und Jugendliche sollte für alle Akteur*innen angestrebt werden.

Eine geregelte Steuerung der Organisation der Rehanachsorge durch die Rehakliniken in Zusammenarbeit mit den behandelnden Kinderärzt*innen und/oder dem Einsatz von Lots*innen oder Casemanager*innen sollte angedacht werden, um die Inanspruchnahme der Nachsorge zu gewährleisten und die Sorgeberechtigten zu entlasten.

Ein Aufruf bzw. die Ermunterung und ggf. Anreize zur Entwicklung von Nachsorgeangeboten sollte erneut in Erwägung gezogen werden, um die Angebotssituation insgesamt zu verbessern und die Angebotszahlen deutlich zu steigern.


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Interessenkonflikt

Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessenkonfliktbesteht.

Acknowledgements

Wir danken allen Kinderärzt*innen und Klinikmitarbeiter*innen, die an der Studie teilgenommen haben.

Zusätzliches Material


Korrespondenzadresse

Judith Stumm
Charité Universitätsmedizin Berlin, Institut für Medizinische Soziologie und Rehabilitationswissenschaft, Charitéplatz 1
10117 Berlin
Germany

Publication History

Received: 21 March 2023

Accepted: 29 June 2023

Article published online:
27 July 2023

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