CC BY-NC-ND 4.0 · Gesundheitswesen 2023; 85(12): 1229-1237
DOI: 10.1055/a-2075-7884
Übersichtsarbeit

Kann Case Management den Umzug von Menschen mit Demenz in eine Pflegeeinrichtung verzögern? – Ein systematisches Review randomisiert kontrollierter Studien

Can nursing home placement of people with dementia be delayed by case management? A Systematic Review of Randomized Controlled Trials
Dorothee Klaas-Ickler
1   Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Interdisziplinäres Zentrum für Health Technology Assessment und Public Health (IZPH), Erlangen, Germany
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1   Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Interdisziplinäres Zentrum für Health Technology Assessment und Public Health (IZPH), Erlangen, Germany
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1   Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Interdisziplinäres Zentrum für Health Technology Assessment und Public Health (IZPH), Erlangen, Germany
› Author Affiliations
 

Zusammenfassung

Hintergrund Demenz ist einer der Hauptgründe für Pflegebedürftigkeit im Alter. Aufgrund der demografischen Entwicklung wird das formelle und informelle Pflegepotential in Deutschland in den nächsten Jahren weiter abnehmen. Der Förderung häuslicher Versorgungsarrangements kommt darum ein hoher Stellenwert zu. Case Management (CM) hat zum Ziel, eine effiziente Koordination von Versorgungsleistungen, abgestimmt auf die Bedarfe und Ressourcen von chronisch erkrankten Menschen und ihren Angehörigen, zu erreichen. Das Ziel dieser Arbeit ist, die Auswirkung von CM auf den Verbleib von Menschen mit Demenz im häuslichen Umfeld im Rahmen einer systematischen Übersichtsarbeit zu untersuchen.

Methode Mit einer systematischen Literaturrecherche wurden fachrelevante elektronische Datenbanken (Pubmed, CINAHL, PsycINFO, Scopus, CENTRAL, Gerolit, ALOIS) auf randomisiert kontrollierte Studien (RCTs) durchsucht. Berichts- und Studienqualität eingeschlossener Studien wurden mittels CONSORT-Checkliste und Jadad-Skala bewertet.

Ergebnisse Eingeschlossen wurden 6 RCTs aus 5 verschiedenen Gesundheitssystemen (Deutschland, USA, Niederlande, Frankreich, China). Bei 3 der RCTs zeigen sich signifikante Verzögerungen der Heimunterbringungen bzw. signifikant geringere Heimeinzugsraten zugunsten der Interventionsgruppen, 3 weitere berichten von geringen, nicht statistisch signifikanten Ergebnissen.

Schlussfolgerung Die Ergebnisse zeigen, dass CM-Ansätze das Potential haben, den Verbleib von Menschen mit Demenz im eigenen Zuhause zu verlängern. Die weitere Etablierung und Evaluation von CM-Ansätzen sollte daher seitens der Entscheidungsträger im Gesundheitswesen unbedingt gefördert werden. Bei der Planung und Evaluation von CM-Ansätzen in spezifischen regionalen Versorgungssettings sollten von Beginn an Barrieren und Chancen für eine nachhaltige Implementierung in die Versorgungsketten berücksichtigt werden.


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Abstract

Background Dementia is one of the main reasons for care dependency in old age. Demographic changes will lead to decreased formal and informal care potential in Germany. The promotion of structured home care arrangements therefore becomes increasingly significant. The concept of case management (CM) aims at the efficient coordination of health care services based on the needs and resources of patients with chronic health issues and their caregivers. The objective of this review was to evaluate current studies on the effectiveness of outpatient CM approaches on delaying long-term care placement or reducing the risk of long-term care placement in people with dementia.

Methods A systematic literature review of randomized controlled trials (RCTs) was conducted. Relevant electronic databases (Pubmed, CINAHL, PsycINFO, Scopus, CENTRAL, Gerolit, ALOIS) were systematically searched. Reporting and study quality was assessed using the CONSORT checklist and Jadad scale.

Results The search strategies identified 6 RCTs relating to 5 different health care systems (Germany, USA, Netherlands, France, China). Three of the RCTs showed significant delays of long-term care placements and/or significantly reduced rates of long-term care placement in favor of the intervention groups.

Conclusion The outcomes suggest that CM approaches have the potential of promoting the length of time that people with dementia remain in their own domestic environments. Further establishment and evaluation of CM approaches should therefore be strongly encouraged on the part of healthcare decision-makers. When planning and evaluating CM approaches, specific barriers, and resources for the sustainable implementation of CM in existing care chains should be assessed and taken into account.


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Einleitung

Demenzerkrankungen sind ein Hauptgrund für die Pflegebedürftigkeit im Alter [1] [2]. Dabei ist es ein Wunsch der meisten Menschen mit Demenz, so lange wie möglich in der häuslichen Umgebung zu leben [3]. Etwa zwei Drittel der Menschen mit Demenz in Deutschland werden vorwiegend durch pflegende Angehörige zuhause versorgt [4] [5]. Die informelle Pflege durch pflegende Angehörige ist damit eine der wichtigsten Säulen in der Demenzversorgung. Zugleich wird das formelle und informelle Pflegepotential in Deutschland aufgrund des demografischen Wandels in den nächsten Jahren weiter abnehmen [6]. Die pflegenden Angehörigen sehen sich durch ihre informelle pflegerische Tätigkeit zudem einer Vielzahl von Belastungsfaktoren ausgesetzt, sodass sie häufig zum sog. unsichtbaren zweiten Patienten werden [7]. Der Förderung häuslicher Versorgungsarrangements kommt demzufolge eine immer höhere Bedeutung zu. Unterstützungsangebote können helfen, das Leben in der Häuslichkeit so lange wie möglich zu bewahren. Karrer et al. [8] stellten jedoch fest, dass ambulante Angebote für Demenz wenig in Anspruch genommen werden. Als Gründe führen sie eine Orientierungslosigkeit in der Angebotslandschaft und den erschwerten Zugang zu vorhandenen Angeboten an. Gemäß der Nationalen Demenzstrategie ist die verstärkte und enge Vernetzung lokaler Unterstützungs- und Versorgungsangebote daher ein wichtiges Handlungsfeld, um den Betroffenen Orientierung sowie informierte und bedarfsgerechte Entscheidungen im Versorgungsprozess zu ermöglichen [4].

Das Konzept Case Management (CM) hat zum Ziel, eine nachhaltige Koordination von Versorgungsleistungen, abgestimmt auf die individuellen Bedarfe chronisch erkrankter Menschen und ihrer Angehörigen zu erreichen [9]. Auf diese Weise besteht nicht nur das Potential, die Versorgungsqualität für Menschen mit Demenz zu verbessern, sondern auch eine Entlastung der pflegenden Angehörigen und damit verbunden einen Erhalt des informellen Pflegepotentials zu erreichen. In einer Veröffentlichung des Bundesverbands Managed Care wird CM als „Managementinstrument […], bei dem Prozessverantwortung (Logistik, Projektmanagement), Patientenbetreuung/-beratung sowie Kosten-/Erlös-Controlling in einer Rolle verankert sind“ [10] verstanden. Die Deutsche Gesellschaft für Care und Case Management (DGCC) definiert CM als „Verfahrensweise in Humandiensten und ihrer Organisation zu dem Zweck, bedarfsentsprechend im Einzelfall eine nötige Unterstützung, Behandlung, Begleitung, Förderung und Versorgung von Menschen angemessen zu bewerkstelligen“ [11]. Vermittelt wird es meist durch Fachkräfte im Gesundheitswesen oder multidisziplinäre Teams. Durch die Einbeziehung der erkrankten Menschen und ihrer pflegenden Angehörigen in alle Entscheidungsprozesse sollen Selbsthilfekompetenzen und Ressourcen im sozialen Netzwerk aktiviert werden, um eine Versorgungskontinuität auch über das CM hinaus zu ermöglichen [9].

Vier vor dem Jahr 2015 veröffentlichte systematische Übersichtsarbeiten haben sich mit den Auswirkungen von CM auf die Zeit bis zum Umzug von Menschen mit Demenz aus dem häuslichen in ein außerhäusliches Umfeld befasst und zeigen unterschiedliche Ergebnisse [12] [13] [14] [15]. Dieser Endpunkt wird auch im Evidenzbericht des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) zu Dementia Care Management vom April 2021 als klinisch wichtiger und für die Entscheidung kritischer Endpunkt behandelt [16].

Ziel dieser Arbeit ist daher, die aktuelle Evidenzlage zur Auswirkung von CM für Menschen mit Demenz und/oder deren pflegende Angehörige auf die Zeit bis zum Umzug bzw. den Zeitpunkt des Umzugs der Menschen mit Demenz aus dem häuslichen Umfeld in ein außerhäusliches (stationäres) Pflege-/ bzw. Wohnsetting zu untersuchen.


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Methodik

Zur Erfassung der internationalen Studienlage wurde ein systematisches Review durchgeführt. Das methodische Vorgehen folgte einem vorab festgelegten Ablauf unter Berücksichtigung des PRISMA-Statements und der Leitfäden von Cochrane und dem Centre for Reviews and Dissemination (CRD) [17] [18] [19].

Suchstrategie

Die systematische Recherche fand in den elektronischen Datenbanken MEDLINE, PsycINFO, CINAHL, CENTRAL, der interdisziplinären Zitationsdatenbank Scopus, dem Online-Katalog des Deutschen Zentrums für Altersfragen (GeroLit) sowie in der Cochrane-Datenbank ALOIS statt (Online Supplement: Datenbankrecherchen). Quellenangaben relevanter Artikel wurden auf weitere geeignete Referenzen durchsucht.


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Ein- und Ausschlusskriterien

Eingeschlossen wurden randomisiert kontrollierte Studien (RCTs), die zwischen Januar 2010 und Juli 2022 in deutscher oder englischer Sprache publiziert wurden. Zielgruppe der Intervention waren Menschen mit Demenz bzw. Menschen mit leichter kognitiver Beeinträchtigung, die im häuslichen Umfeld versorgt werden. Wegen der Bedeutung der pflegenden Angehörigen wurden auch Studien eingeschlossen, bei denen diese die Zielgruppe der Intervention bildeten. Erforderlicher Endpunkt war die statistische Auswertung zum Umzug der Menschen mit Demenz in ein außerhäusliches Wohn- bzw. Pflegesetting. Gemeinsames Kernelement der Interventionen sollte eine individualisierte und bedarfsorientierte Vermittlung und/oder Koordination von Unterstützungsmaßnahmen zur Gewährleistung einer Versorgungskontinuität sein. Die Definition greift damit auch unabhängig davon, ob die Intervention in den Studien selbst als „Case Management“ bezeichnet wird oder die ausführenden Fachkräfte als „Case Manager*innen“ betitelt werden. Die Kontrollinterventionen umfassten Formen der Normalversorgung ohne CM (Online Supplement: Ein- und Ausschlusskriterien).


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Studienauswahl

Gemäß den PRISMA-Kriterien wurde ein Screening der Titel und Zusammenfassungen durch zwei unabhängige Begutachter*innen vorgenommen (DK-I, ND). Die Volltexte von Studien, die aus dem initialen Screening hervorgingen, wurden analysiert und relevante Studien-, Probanden- und Interventionscharakteristika wurden anhand vorstrukturierter Tabellen extrahiert. Bei unklarer Einschlusseignung wurde eine Einigung durch Diskussion erreicht.


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Berichts- und Studienqualität

CONSORT-Checkliste

Die CONSORT-Checkliste für randomisierte Studien [20] sowie die Erweiterung für cluster-randomisierte RCTs [21] wurden zur Erfassung berichteter Datendetails herangezogen.


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Jadad-Skala und verdeckte Zuteilung

Zur Bewertung der methodischen Qualität wurde die 5-stufige Jadad-Skala [22] verwendet. Zudem wurde das Vorhandensein einer verdeckten Gruppenzuteilung zur Einschätzung eines Selektions-Bias erfasst. Das Assessment wurde durch zwei unabhängige Beurteiler*innen durchgeführt (DK-I, ND).


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Ergebnisse

Im Rahmen der systematischen Literaturrecherche konnten 7825 Publikationen identifiziert werden ([Abb. 1]). Nach der Entfernung von Duplikaten wurde ein Titelscreening von 5530 Artikeln durchgeführt. Nach dem Screening von 696 Abstracts wurden 116 Artikel für die Bewertung der Volltexte abgerufen. Von diesen wurden 6 in die Synthese eingeschlossen. Die Artikel entstanden in fünf verschiedenen Ländern (China, USA, Deutschland, Niederlande und Frankreich). Die Stichprobengrößen der Interventionsgruppen variierten von N=46 bis N=574. Die Studienteilnehmenden hatten bei der Baseline-Erhebung ein durchschnittliches Alter von 68 bis 84 Jahren, in den meisten Erhebungen überwog unter ihnen der Anteil an Frauen (41,3% – 69,7%). Eingeschlossen wurden entweder Menschen mit einer ärztlichen Demenzdiagnose [23] [24] [25] [26] [27], einer vermuteten Demenzerkrankung [28] oder auch mit Diagnosekriterien für eine nicht anderweitig spezifizierte kognitive Einschränkung (Cognitive Disorder Not Otherwise Specified (DSM-IV, TR)) [27]. Alle Studien schlossen vorwiegend Menschen mit leichter bis mittelschwerer Demenzerkrankung bzw. kognitiver Einschränkung bei der Baseline-Erhebung ein ([Tab. 1]).

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Abb. 1 Auswahlprozess der Studien: PRISMA-Flussdiagramm (Moher D, Liberati A, Tetzlaff J, Altman DG, The PRISMA Group (2009). Preferred Reporting Items for Systematic Reviews and Meta-Analyses: The PRISMA Statement. PLoS Med 6(7): e1000097. doi:10.1371/journal.pmed1000097).

Tab. 1 Studienmerkmale

Studie/ Design

Land

IG

KG

Alter (±SD)/Geschlecht (w%) (MmD)

Kognitiver Status (MmD, Baseline)

Haupt-adressent

ID/FU-Zeitpunkte

Kerninhalte der Intervention

Kontrolle

Ergebnis-Variablen/-Kennwerte

Nourhashemi et al. (2010) Cluster-RCT

Frankreich

N=574

N=557

IG: 80,2 (±5,9), w 66,5%; KG: 80,2 (±5,6), w 70,9%

Durchschnitt (SD) MMST: IG: 19.5 (SD 3.9); KG: 20.0 (SD 4.1)

Dyade MmD – pA

ID 24 Monate/FU: bei 12 und 24 Monaten

Erstellung/Anwendung eines umfassenden, individuellen Versorgungsplans bei halbjährlichen Assessments in Gedächtniskliniken (kognitive und körperliche Gesundheit, Medikamentenmanagement, psychische Gesundheit der pA, Psychoedukation und rechtliche Beratung), Implementierung vorwiegend durch pflegende Angehörige und Hausärzte

Normalversorgung durch Gedächtniskliniken

Zeitspanne bis LZ-Heimunterbringung; HR für LZ-Heimunterbringung

Spijker et al. (2011) Cluster-RCT

Niederlande

N=155

N=140

IG: 80,1 (±7,1), w 69,7%; KG: 80,1 (±6,4), w 64,3%

mild: IG: 31.0%, KG: 28.6%; moderat: IG: 38.7%, KG: 27.1%; schwer: IG: 12.9%, KG: 7.9%; nicht spezifiziert: IG: 1.9%, KG: 34.3%: nicht diagnostiziert: IG: 15.5%, KG: 2.1%

pA

ID/FU: 12 Monate

Schulung von Fachkräften in Assessment, Interpretation und Intervention bzgl. Kompetenzgefühl und depressiver Symptomatik von pA, psychosoziale Unterstützung, bedarfsorientierte Vermittlung und Organisation von Dienstleistungen und Versorgungsmaßnahmen

Normalversorgung durch Community Mental Health Services

Zeitspanne bis LZ-Heimunterbringung; HR für LZ- Heimunterbringung

Chien et al. (2011) RCT

China

N=46

N=46

IG: 68,1 (±7,1), w 41,3%; KG: 67,2 (±6,5), w 45,7%

Durchschnitt (SD) MMST: IG: 17,5 (4,7); KG: 17,3 (3,9)

pA

ID 6 Monate/FU bis 18 Monate nach Interventionsende

Häusliches Bedarfs-Assessment; individualisierter Versorgungsplan, Koordinierung, Psychoedukation, Förderung des sozialen/interfamiliären Netzwerkes, emotionale Auswirkungen des Pflegens, Selbstpflege und Motivation, Vermittlung von Unterstützungsangeboten, Optimierung der häuslichen Pflegesituation, Umgang mit finanziellen Aspekten, Evaluation

Normalversorgung durch Dementia Resources Centres

Frequenz und Dauer von Pflegeheim-und Krankenhausunter-bringung ("residential placement")

Menn et al. (2012) Cluster-RCT, dreiarmig

Deutschland

B: N=109 C: N=110

N=171

IG: Gruppe B: 79,1 (±6,4); w 67, %; Gruppe C: 80,9 (±6,3); w 70,9% KG: 80,8 (±7,2); w 66,7%

Durchschnitt (SD) MMST: IG: Gruppe B: 18,8 (SD 3,8); Gruppe C: 18,4 (SD 3,9); KG: 18,8 (SD 3,8)

pA, Dyade pA – MmD

ID 24 Monate/FU bis 24 Monate nach Interventionsende

Schulung von Hausärzten in Demenzdiagnostik, -behandlung und -versorgung; Hausarzt-Empfehlung psychoedukative Unterstützungsgruppe für pA; Hausarzt-Empfehlung zugehende Beratung mit Case Management (Gruppe C ab Baseline, Gruppe B ab 1 Jahr nach Interventionsbeginn) mit Bedarfsasses-sment, Orientierung an Risikofaktoren für Heimein-weisung, gemeinsame Zielfestlegung, Unterstützung bei Implemen-tierung des Versorgungsplans, Monitoring, Evaluation

normale hausärztliche Versorgung

Gruppenunterschiede in Zeit bis LZ-Heimunterbringung

Samus et al. (2014) RCT

USA

N=110

N=193

IG: 84,0 (±5,8); w 66,4%; KG: 83,9 (±5,9), w 62,2%

Durchschnitt (SD) MMST: IG: 19.0 (SD 7.9); KG: 19.2 (SD 7.7)

Dyade MmD – pA

ID 18 Monate/FU bis Median 26 Monate (range 19–41) nach Interventionsende

Bedarfsassessment, Übermittlung der Ergebnisse an den Hausarzt, individualisierte Versorgungsplanung, Edukation/Kompetenzerweiterung im Umgang mit Demenz, Koordination und Vermittlung von regionalen Dienstleistungsangeboten, Implementierung und Monitoring

erweiterte Normalversorgung (augmented usual care)

Zeitspanne bis LZ-Heimunterbringung; HR für LZ-Heimunterbringung

Michalowsky et al. (2019) Cluster-RCT

Deutschland

N=315

N=129

IG: 80,7 (±5,7), w 60,3%; KG: 79,7 (±4,9), w 59,7%

Durchschnitt (SD) MMST: IG: 22,2 (5,1); KG: 21,8 (5,8)

MmD, Dyade pA – MmD

ID: 12 Monate/FU: bis 12 Monate nach Interventionsende

Initiales Demenzscreening durch Hausarzt, Kontaktierung durch Dementia Case Manager: Standardisiertes Bedarfs-Assessment, Erstellung und Implementierung individualisierter Versorgungspläne, Behandlungs- und Versorgungsmanangement, Medikamentenmanagement, Unterstützung und Edukation von pflegenden Angehörigen, enge Kooperation mit Hausarzt und anderen Gesundheitsprofessionen, wöchentliche interdisziplinäre Fallbesprechungen, Monitoring

normale hausärztliche Versorgung

Zeitspanne bis LZ-Heimunterbringung; Gruppenunterschiede in Zeit bis LZ-Heimunterbringung

Interventions- und Kontrollcharakteristika

Die Interventionszeiträume reichten von 6 bis 24 Monaten. Zielgruppen waren die Menschen mit Demenz, die pflegenden oder die gesamte Dyade. Die Vermittlung der Interventionsinhalte erfolgte in allen Erhebungen durch eine Kombination aus persönlichen und telefonischen Kontakten.

Die Kontrollinterventionen umfassten die übliche hausärztliche Versorgung [24] [25] oder die Versorgung in spezialisierten Einrichtungen der Länder (z. B. Dementia Resources Centres, Gedächtniskliniken) [23] [26] [28]. Samus et al. [27] beschreiben eine erweiterte Normalversorgung als Kontrolle, bei der die Teilnehmenden und ihr Hausarzt die Ergebnisse der Baseline-Untersuchung mit Empfehlungen für die weitere Versorgung erhielten.


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Berichts- und Studienqualität

CONSORT-Checkliste

In allen RCTs zeigte sich eine hohe Berichtsqualität (Online Supplement: CONSORT-Checkliste). Fehlende Angaben bezogen sich auf Berechnungen von Effektstärken und auf Rahmeninformationen, wie Studien-Registrierungsnummern und Verfügbarkeit eines Studienprotokolls.


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Jadad-Skala und verdeckte Zuteilung

Fünf RCTs erhielten einen Skalenwert von ≥ 3 und eine RCT einen Skalenwert von 2, was Hinweise auf eine geringe bis moderate Studienqualität gibt ([Tab. 2]). Von einer verdeckten Gruppenzuteilung vor Studienbeginn kann in einem RCT ausgegangen werden, bei zwei weiteren bleibt sie unklar. Bei drei RCTs kann eine fehlende verdeckte Zuteilung angenommen werden [24] [25] [26].

Tab. 2 Jadad-Skala, verdeckte Zuteilung und Intention-to-Treat

Studie

Randomisierung

Verblindung (einfach)

Begründung aller Ausfälle

Gesamt (0–5)

Verdeckte Zuteilung (Individuumsebene)

Intention-to-treat

beschrieben

adäquat

beschrieben

adäquat

Nourhashemi et al. (2010)

ja

ja

nein

nein

ja

3

nein

ja

Spijker et al. (2011)

ja

ja

Ja (Dyaden +Interviewer)

ja

nein

4

unklar

ja

Chien et al. (2011)

ja

ja

nein

nein

ja

3

unklar

ja

Menn et al. (2012)

ja

ja

nein

nein

ja

3

nein

ja

Samus et al. (2014)

ja

ja

ja (Evaluatoren)

nein

nein

2

ja

ja

Michalowsky et al. (2019)

ja

ja

nein

nein

ja

3

nein

retrospektive Analyse


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Ergebnissynthese zur langfristigen Heimunterbringung

Drei von sechs RCTs fanden einen signifikanten Unterschied im Hinblick auf die Ergebnis-Variable zugunsten der Interventionsgruppen [23] [25] [27]. In einem der RCTs zeigten sich dabei signifikante Gruppenunterschiede in der durchschnittlichen Anzahl und Dauer der Institutionalisierungen (Pflegeheim- und stationäre Krankenhausunterbringungen) über die Zeitspanne von 18 Monaten nach Interventionsende [23]. Michalowsky et al. [25] berichten von einer Verzögerung der Heimunterbringungen von durchschnittlich sieben Monaten (95% Konfidenzintervall (1,71–12,35)) im Vergleich zur Kontrollgruppe bei 24 Monaten nach der Baseline-Erhebung. Samus et al. [27] fanden eine Risikoreduktion für den Umzug aus der eigenen Häuslichkeit von 37% nach 18 Monaten und von 30% nach 26 Monaten im Vergleich zur Kontrollgruppe.

Bei den drei weiteren Studien zeigten sich geringe, nicht statistisch signifikante Gruppenunterschiede zugunsten der Interventionsgruppe [24] [26] [28]. Über negative Auswirkungen berichtet keiner der Artikel ([Tab. 3]).

Tab. 3 Statistische Kennwerte der Einschlussstudien

Studie

ID (Monate)

Messzeitpunkt (Monate)a

Statistisches Verfahren

Durchschnittliche Zeitspanne bis zur LZH in Tagen; Total (SD)

HR für LZH

Signifikanzwerte

p-Wert

CI (95%)

CM

Kontrolle

Nourhashemi et al. (2010)

24

24

Marginal Cox Model

371,2 (196,0)

368,1 (210,8)

0,95

0,79

0,67–1,36

Spijker et al. (2011)

12

12

Cox regression analysisc

306,67 (102,99)

300,25 (113,54)

0,93

0,93

0,57–1,53

Chien et al. (2011)

6

24

MANOVAs (Interaktion Gruppe x Zeit)

< 0,01e

< 0,001 f

Menn et al. (2012)

24

24

Log-rank-test

0,31

48

0,74

Samus et al. (2014)

18

18

Cox proportional hazards modeld

496 (17,6)

445 (13,6)

0,63

0,022

0,42–0,94

44b

948 (113)

660 (83,9)

0,70

0,046

0,49–0,90

Michalowsky et al. (2019)

12

24

Poisson Regression

373,3 (227,9)

159,0 (125,8)

< 0,05


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Diskussion

Im vorliegenden Review konnten sechs RCTs zur Auswirkung von CM-Ansätzen auf den Zeitpunkt der Heimunterbringung von Menschen mit Demenz ermittelt und verglichen werden. Dabei zeigte sich, dass CM den Zeitpunkt der Institutionalisierung von Menschen mit Demenz verzögern kann. Bei 3 RCTs ergab sich ein signifikantes Ergebnis im Hinblick auf die Verringerung bzw. Verzögerung von stationären Unterbringungen zugunsten der Interventionsgruppen. Bei den anderen 3 RCTs zeigte sich dazu ein geringes, nicht statistisch signifikantes Ergebnis. In einem RCT zeigte sich auch ein längerfristig positiver Effekt auf die Institutionalisierung mehr als 2 Jahre nach Interventionsende [27].

Ältere systematische Reviews zu CM bei Demenz zeigen im Hinblick auf den Verbleib im häuslichen Umfeld unterschiedliche Ergebnisse. Zwei systematische Reviews mit Metaanalyse fanden signifikante Reduktionen der Heimunterbringungen bei bis zu 18 Monaten nach der Baseline-Erhebung [12] [13]. Bei Tam-Tham et al. [13] war das Risiko einer Institutionalisierung bei der CM-Gruppe bis zu 18 Monate nach Interventionsbeginn um 39% geringer als bei der Kontrollgruppe. Ab 18 Monaten nahm der Effekt jedoch ab und war nicht mehr signifikant. Bei Reilly et al. [12] war das Risiko der Heimunterbringung nach 18 Monaten in der CM-Management Gruppe um 75% geringer als in der Kontrollgruppe. Die Autor*innen führen dabei an, dass eine spätere Heimunterbringung vor allem bei Studien beobachtet werden konnte, die sich wesentlich auf eine Verzögerung der Institutionalisierung fokussierten. Zwei weitere Übersichtsarbeiten berichten zudem von keiner bis zu einer leicht verzögerten Heimunterbringung zugunsten der CM-Gruppen [14] [15].

Die Ergebnisse dieses Reviews schließen an die im Bericht des IQWiG dargestellte Evidenz zum kritischen Endpunkt der Zeit bis zur Heimweinweisung an, in dem die Autor*innen die Evidenz auf der Grundlage eines auch in dieser Übersichtsarbeit eingeschlossenen RCTs bewerten [16]. Die Qualität der Studie, bei der sich ein signifikanter Effekt von Dementia Care Management auf die Verlängerung bis zur Heimeinweisung zeigte, wurde als moderat beurteilt. Die zugrunde gelegte Literaturrecherche des IQWiG erfolgten bis einschließlich des Jahres 2016, während in dieser Übersichtsarbeit die Studienlage bis Juli 2022 untersucht wurde.

Neben den eher geringen Stichprobengrößen hatte die Mehrheit der RCTs Schwierigkeiten bei der adäquaten Verblindung und verdeckten Zuteilung der Studienteilnehmenden, was das Potential einer Ergebnisverzerrung begünstigt haben könnte. Auch eine Verzerrung durch nicht-zufällige Ausfälle von Studienteilnehmenden (Attrition Bias) könnte teilweise Auswirkungen auf die Ergebnisse gehabt haben. Zudem berichtet keiner der Artikel Effektstärken.

Inwieweit CM die stationäre Heimunterbringung verzögern kann, kann hierbei von verschiedenen Wirksamkeitsfaktoren abhängen. In der Literatur finden sich Belege zu relevanten Einflussfaktoren, wie beispielsweise die Intensität des CM (Anzahl der betreuten Fälle pro Fachkraft und Frequenz der Kontakte) [15] [29] [30], die Qualifikation der Case Manager*innen im jeweiligen Handlungs- und Krankheitsfeld [29] [31] sowie die strukturelle Einbettung von CM in die bestehenden Versorgungsketten der Primärversorgung vor Ort [31]. Welche positiv oder negativ moderierenden Faktoren die Wirksamkeit von CM in vorliegenden Ergebnissen beeinflusst haben könnten, sollte in zukünftigen wissenschaftlichen Arbeiten genauer beleuchtet werden.

Limitationen

Aufgrund der Heterogenität in der Ausrichtung der CM-Ansätze und der Verwendung verschiedener Begrifflichkeiten bei der Beschreibung vergleichbarer Versorgungsansätze (z. B. Care Management, Case Management, Care Coordination), kann es sein, dass relevante Artikel nicht identifiziert werden konnten. Auch altersassoziierte Komorbiditäten, die zu einer Institutionalisierung führen können, konnten in dieser Arbeit nicht berücksichtigt werden.


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Schlussfolgerung

Die Ergebnisse der systematischen Übersichtsarbeit zeigen, dass CM-Ansätze den Verbleib von Menschen mit Demenz in der eigenen häuslichen Umgebung verlängern und damit den Wunsch älter Menschen unterstützen können, möglichst lange in der eigenen häuslichen Umgebung zu leben. Es kann daher angenommen werden, dass CM-Ansätze durch ihre proaktive Ausrichtung unter Einbezug der individuellen, psychosozialen Anforderungen der erkrankten Menschen und ihrer Angehörigen dazu beitragen können, eine bedarfsgerechte Demenzversorgung zu gewährleisten. Zudem können sie durch die sektorenübergreifende Vernetzung von Angeboten dazu beitragen, die nötige Versorgungskontinuität für die chronisch erkrankten Menschen und ihre pflegenden Angehörigen in den noch immer stark fragmentierten und vermehrt auf Akutversorgung ausgerichteten Gesundheitssystemen zu schaffen. Die weitere Etablierung und Evaluation von CM-Ansätzen sollte daher seitens der Entscheidungsträger im Gesundheitswesen unbedingt gefördert werden. Bei Planung, Einsatz und Evaluation von CM-Ansätzen in den Versorgungsketten sollten von Beginn Barrieren und Chancen für die nachhaltige Implementierung berücksichtigt werden.


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Funding Information

Das Projekt digiDEM Bayern, in dessen Rahmen diese Arbeit entstanden ist, wird durch das Bayerische Staatsministerium für Gesundheit und Pflege (StMGP) im Rahmen der Förderinitiative „BAYERN DIGITAL II“ gefördert (Förderkennzeichen: G42d-G8300-2017/1606-83)


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Interessenkonflikt

Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Acknowledgements

Die vorliegende Arbeit wurde von Nikolas Dietzel als Teil der Anforderungen zur Erlangung des Grades „Dr. rer. biol. hum.“ an der Medizinischen Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU) angefertigt.

Zusätzliches Material


Korrespondenzadresse

Nikolas Dietzel
Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU), Interdisziplinäres Zentrum für Health Technology Assessment (HTA) und Public Health (IZPH)
Schwabachanlage 6
91054 Erlangen
Germany   

Publication History

Article published online:
12 June 2023

© 2023. The Author(s). This is an open access article published by Thieme under the terms of the Creative Commons Attribution-NonDerivative-NonCommercial-License, permitting copying and reproduction so long as the original work is given appropriate credit. Contents may not be used for commercial purposes, or adapted, remixed, transformed or built upon. (https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/).

Georg Thieme Verlag
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany


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Abb. 1 Auswahlprozess der Studien: PRISMA-Flussdiagramm (Moher D, Liberati A, Tetzlaff J, Altman DG, The PRISMA Group (2009). Preferred Reporting Items for Systematic Reviews and Meta-Analyses: The PRISMA Statement. PLoS Med 6(7): e1000097. doi:10.1371/journal.pmed1000097).