Nervenheilkunde 2023; 42(06): 381-382
DOI: 10.1055/a-2022-0509
Geist & Gehirn

Neue Medikamente

Manfred Spitzer
 

Zu den weltweit wichtigsten und am meisten verwendeten Medikamenten gehören die Antibiotika, d. h. Medikamente, die zur Behandlung bakterieller Infektionskrankheiten verwendet werden. Das Bekannteste ist Penicillin, das im Jahr 1929 von Alexander Flemming entdeckt worden war, wofür er 1945 den Nobelpreis erhielt. 4 Jahre zuvor war es erstmals klinisch eingesetzt worden.

Obgleich es mittlerweile eine größere Zahl von Antibiotika gibt, befindet sich die Medizin in einem permanenten Wettlauf mit den Bakterien: Wenn ein neues Antibiotikum auf den Markt kommt, dauert es oft nicht lange, bis die ersten Resistenzen auftreten, denn jeder Einsatz von Antibiotika fördert die Bildung von Resistenzen. Deren Entstehung lässt sich nicht verhindern, sondern lediglich verlangsamen. Denn wenn ein Antibiotikum Bakterien abtötet, hat dies zur Folge, dass manche gegen das Medikament resistente Bakterien überleben und sich vermehren. Je mehr Antibiotika eingesetzt werden, desto größer wird der Anteil der gegen sie resistenten Bakterien.

Aus diesem Grund treten antibiotikaresistente Bakterien vor allem dort auf, wo viele Antibiotika zum Einsatz kommen, also in Krankenhäusern, aber auch in der landwirtschaftlichen Viehzucht. Antibiotikaresistenzen nehmen weltweit zu und stellen eine der größten Herausforderungen für die globale Gesundheit dar. Man weiß, dass Abwässer aus landwirtschaftlichen Betrieben und Krankenhäusern zur Verbreitung von Resistenzen beitragen, zumal Resistenzen auch von Bakterien an andere Bakterien weitergegeben werden können. Daher wird der Einsatz von Antibiotika in der Landwirtschaft in vielen Ländern eingeschränkt. Wenn jedoch nichts weiter geschieht, könnten bereits um die Mitte dieses Jahrhunderts weltweit jährlich 10 Millionen Menschen sterben, weil ihre Infektionskrankheit – von multiresistenten Krankenhauskeimen wie MRSA (Methicillin-resistenter Staphylococcus aureus) bis hin zu Tuberkulose – wegen resistenter Bakterien unbehandelbar ist [3]. Bereits im Jahr 2019 waren weltweit 4,95 Millionen Todesfälle mit Antibiotikaresistenz assoziiert [1], [9].

Vor gut 10 Jahren beschrieb der Direktor des Antimicrobial Drug Discovery Centers der Northeastern University in Boston, MA, Kim Lewis [4] im Fachblatt Nature die Situation wie folgt: „Nach der Entdeckung von Penicillin im Jahr 1928 begann die goldene Ära der Suche nach neuen Antibiotika in den 1940er-Jahren, als [… man] die Fähigkeit von Bakterien, eigene Antibiotika zu produzieren (mit denen sie sich gegenseitig ausstechen), durch systematische Tests von Bodenmikroben […] nutzte. Dies führte 1943 zur Entdeckung von Streptomycin, dem ersten Antibiotikum, das zur Behandlung von Tuberkulose eingesetzt wurde. […] in den folgenden 20 Jahren [kam es] zur Entwicklung der wichtigsten Antibiotikaklassen.“ Doch in den letzten 50 Jahren kam nur eine einzige neue Klasse hinzu, deren Anwendung mittlerweile aufgrund von Nebenwirkungen wieder eingeschränkt wurde.

Schließlich kam noch hinzu, dass die Suche nach neuen Antibiotika extrem aufwändig und teuer ist. Zugleich wurden die Ärzte aus gutem Grund immer zurückhaltender beim Einsatz neuer Antibiotika, um nicht neue Resistenzen zu „züchten“. Dies wiederum führte dazu, dass Unternehmen ihre Forschungsbemühungen nach neuen Präparaten verminderten oder gar einstellten, denn selbst wenn sie neue Substanzen gefunden hätten, würde nur wenig damit verdient werden können. Gerade weil neue Medikamente dringend gebraucht werden aber zugleich nur äußerst sparsam eingesetzt werden sollen (damit sie ihre Wirkung lange behalten), geriet die Forschung in eine Zwickmühle. Und so wurde trotz der zunehmenden Bedrohung immer weniger geforscht. Ökonomen sprachen im Hinblick auf diesen Sachverhalt von einem Marktversagen [2]. Der Marktmechanismus gab die Forschung einfach nicht mehr her.

Wer hätte gedacht, dass Künstliche Intelligenz (KI) einen Ausweg aus dieser Situation darstellen könnte? – Der Beweis hierfür wurde im Jahr 2020 im Fachblatt Cell publiziert. Einer aus kanadischen und US-amerikanischen Wissenschaftlern zusammengesetzten Arbeitsgruppe gelang erstmals die Entdeckung eines völlig neuartigen Antibiotikums, dem Halicin, mit den Methoden der KI, d. h. mit maschinellem Lernen durch tiefe (d. h. vielschichtige) neuronale Netzwerke. Halicin wirkt gegen eine große Zahl von Erregern, einschließlich Tuberkelbazillen, resistenten Enterobakterien und Clostridium difficile, einem Bakterium, dass etwa 15–20 % der Fälle von antibiotikaverursachter Durchfallerkrankungen und vor allem mehr als 95 % der schwereren Fälle hiervon (sogenannte pseudomembranöse Colitis).

Anstatt mit biochemischen Methoden Tausende von Molekülen auf antibiotische Wirksamkeit hin zu untersuchen (high-throughput screening), gingen die Wissenschaftler einen neuen Weg. Sie trainierten ein tiefes neuronales Netzwerkmodell anhand einer Sammlung von 2335 Molekülen mit bekannter antibiotischer Wirkung, um deren wachstumshemmenden Effekt auf das Bakterium Escherichia coli vorherzusagen. Das Netzwerk lernte die Eigenschaften von Molekülen, gewissermaßen Atom für Atom, und konnte dann molekulare funktionelle Einheiten erkennen (vorhersagen), ohne Annahmen über die Wirkungsweise von Medikamenten zu machen und ohne chemische Gruppen zu kennzeichnen. Danach wendeten sie das Modell auf über 100 Millionen Moleküle an, die bereits zur Behandlung anderer Krankheiten beim Menschen verwendet werden, bei denen es sich aber nicht um bekannte Antibiotika handelte. Hierdurch wurden 99 besonders vielversprechende Substanzen identifiziert. Erst danach wurde durch biologische Testverfahren bei 51 von diesen 99 Stoffen eine gute antibiotische Wirksamkeit nachgewiesen [8].

Die Wissenschaftler hatten in einer ersten Suche unter 6111 Molekülen eines gefunden, das gegen ein breites Spektrum von Bakterien wirkt, darunter Tuberkulose und Stämme, die als unbehandelbar galten. Sie nannten die Substanz nach HAL, dem Computer im Film 2001: Odyssee im Weltraum, Halicin [7]. In Tests an Mäusen wirkte dieses Molekül gegen ein breites Spektrum von Krankheitserregern, darunter auch multiresistente Stämme, gegen die ansonsten nichts mehr geholfen hatte.

Nicht nur die Wirkung von Halicin war zuvor unbekannt, sondern auch der Wirkungsmechanismus. Er erwies sich als vollkommen anders als die der bekannten Antibiotika: Die Substanz unterbricht den Fluss von Protonen durch die Zellmembran. In ersten Tierversuchen schien Halicin außerdem eine geringe Toxizität aufzuweisen und zudem robust gegen Resistenzen zu sein. In Experimenten zur Resistenzentwicklung gegen Antibiotika treten Resistenzen meist innerhalb von einem oder 2 Tagen auf, wohingegen in den gleichen Experimenten selbst nach 30 Tagen keine Resistenzen gegen Halicin festzustellen waren. In Mausmodellen von Infektionen wurde mittlerweile die gute Wirksamkeit von Halicin gegen multiresistente Bakterien, die bislang nicht zu bekämpfen waren, nachgewiesen [8].

Die Wissenschaftler wendeten dann die KI auf insgesamt mehr als 107 Millionen (!) Moleküle aus entsprechenden Datenbanken an, um noch mehr mögliche antibiotisch wirksame Substanzen zu identifizieren. Die KI fand tatsächlich 23 weitere Stoffe, von denen erneut experimentell durch entsprechendes mikrobiologisches Screening 8 neue Substanzen mit antibiotischer Wirksamkeit identifiziert werden konnten, von denen 2 sogar gegen multiresistente Stämme von E. coli antibiotisch wirksam waren [7].

Halten wir fest, was hier erstmals gelang: Seit den 1980er-Jahren waren trotz der Anwendung mikrobiologischer Suchmethoden auf Tausende von Molekülen (high-throughput screening) keine neuen, klinisch einsetzbaren Antibiotika gefunden worden [8], und die alten bereits existierenden Antibiotika verloren mit der Zeit wegen Resistenzbildung ihre Wirksamkeit. Die Suche nach neuen Substanzen war erfolglos, nicht zuletzt, weil die Suchmethoden (mikrobiologisches Screening im Labor) im Vergleich zum Suchraum (der Anzahl der zu untersuchenden Stoffe mit möglicher Wirkung) hoffnungslos zu langsam waren: Trotz Jahrzehntelanger Suche war keine einzige neue antibiotisch wirksame Substanz gefunden worden. In dieser ausweglosen Situation brachte erst die Anwendung von KI den Durchbruch durch deren Vorschaltung vor den eigentlichen Screening-Prozess im Labor: KI, also erstens ein Lernprozesses und zweitens ein darauf basierter Suchprozess, konnte den Suchraum nach neuen antibiotisch wirksamen Stoffen drastisch – von über 100 Millionen auf knapp 100 – einschränken. Erst danach kamen die üblichen Methoden zum Einsatz, die wegen der Einschränkung des Suchraums auf ein Millionstel der ursprünglichen Größe eine Millionenfach größere Aussicht auf Erfolg hatten. Und sie hatten tatsächlich Erfolg! Die Autoren schließen ihre Arbeit mit den folgenden Sätzen ab: „Insgesamt deuten unsere Ergebnisse darauf hin, dass die Zeit für die Anwendung moderner maschineller Lernverfahren zur Entdeckung von Antibiotika reif ist. Solche Bemühungen könnten die Chancen der Entdeckung neuer Moleküle erhöhen, die hierfür erforderlichen Ressourcen verringern und die damit verbundenen Kosten senken. Deep-Learning-Methoden könnten uns daher in die Lage versetzen, unser Antibiotika-Arsenal zu erweitern und der Verbreitung von Antibiotikaresistenz Einhalt zu gebieten“ [8].

Noch ist keines der neuentdeckten Medikamente klinisch verfügbar. Das liegt an den sehr zeitaufwändigen Zulassungsverfahren für neue Medikamente, die zudem für jede neue Substanz mit Kosten von weit mehr als einer Milliarde Euro bzw. Dollar verbunden sind. Aber im Hinblick auf die weltweite Krise der klinischen Anwendung von Antibiotika gibt es immerhin Licht am Ende des Resistenztunnels.


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Interessenkonflikt

Es besteht kein Interessenkonflikt.


Korrespondenzadresse

Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer
Universität Ulm
Abteilung für Psychiatrie
Leimgrubenweg 12–14
89075 Ulm
Deutschland

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Article published online:
31 May 2023

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