CC BY-NC-ND 4.0 · Gesundheitswesen 2023; 85(04): 332-338
DOI: 10.1055/a-1845-1054
Übersichtsarbeit

Kosteneffektivität von Case und Care Management bei älteren Populationen in Deutschland: Eine systematische Literaturübersicht

Cost-Effectiveness of Case and Care Management in Older Populations in Germany: a Systematic Literature Review
2   Hamburg Center for Health Economics, Universität Hamburg, Hamburg, Germany
,
1   Preis- und Dienstleistungsmanagement, Fraunhofer-Zentrum für Internationales Management und Wissensökonomie, Leipzig, Germany
,
Lysann Kasprick
3   Gerinet e.V., Leipzig, Germany
4   Universität Halle-Wittenberg, Halle, Germany
› Author Affiliations
 

Zusammenfassung

Hintergrund Trotz tendenziell länger anhaltender Gesundheit nimmt die Komplexität der Gesundheitsprobleme älterer Menschen zu, was den Bedarf nach interprofessioneller Versorgung in allen Settings erhöht. Eine fehlende Koordination unter den Leistungserbringenden riskiert eine fragmentierte Versorgung, die zu Wiederholungen oder Lücken in Dienstleistungen, widersprüchlichen Behandlungsempfehlungen, Medikationsfehlern und höheren Kosten führen kann. Dementsprechend sind neue, integrierte Versorgungsmodelle gefragt, die sich am Bedarf und Nutzen der PatientInnen orientieren. Das Case und Care Management (CCM) wird in Deutschland in vielfältigen Settings zur Verbesserung der Versorgung erprobt. Ziel der Arbeit: Die vorliegende Studie untersucht, zu welchen Ergebnissen gesundheitsökonomische Evaluationen von CCM-Interventionen in Deutschland bei Populationen über 60 Jahren im Vergleich zur Regelversorgung kommen.

Material und Methoden Grundlage der Studie ist eine systematische Literaturrecherche, die über Pubmed und Livivo durchgeführt und um eine umfassende Handrecherche ergänzt wird. Eingeschlossene Primärstudien wurden mithilfe des CHEERS-Leitfadens bewertet und narrativ synthetisiert.

Ergebnisse Insgesamt fünf Kosteneffektivitätsstudien wurden eingeschlossen, überwiegend basierend auf randomisierten, kontrollierten Studien. Die Ergebnisse hinsichtlich der Kosteneffektivität sind gemischt. Signifikante Unterschiede werden bei Wirksamkeits- und Kostenendpunkten vereinzelt erreicht.

Schlussfolgerung Die gemischte, geringe Studienlage und die zahlreichen laufenden Innovationsfondsprojekte zu diesem Thema ergeben aktuell noch kein klares Bild, ob CCM-Interventionen gesundheitsökonomische Vorteile gegenüber der Regelversorgung aufweisen. Weitere Erforschung ist indiziert. Innovationsfondsprojekte zum Themenfeld lassen zukünftig neue Evidenz erwarten.


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Abstract

Background Despite trends toward longer-lasting health, the complexity of older people’s health problems is increasing, raising the need for interprofessional care in all settings. A lack of coordination among providers risks fragmented care, leading to a repetition or gaps in services, conflicting treatment recommendations, medication errors and higher costs. Accordingly, new integrated models of care are needed that are based on patient needs. Case and Care Management (CCM) is currently being tested in Germany in a variety of settings to improve care. Aim of the study: The aim of the present study was to analyze the results of health economic evaluations of CCM interventions in Germany in populations over 60 years of age compared to standard care.

Material and Methods The study is based on a systematic literature review conducted via Pubmed and Livivo and supplemented by a comprehensive hand search. The primary studies included for analysis were assessed using the CHEERS statement and narratively synthesized.

Results A total of five cost-effectiveness studies were included, predominantly based on randomized controlled trials. Results regarding cost effectiveness were mixed. Individual studies found significant differences on effectiveness and cost endpoints.

Conclusions The mixed, small number of studies does not currently provide a clear picture of whether CCM interventions have health economic advantages over standard care. Further research is indicated. Innovation fund projects on the topic area are expected to generate new evidence in the future.


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Einleitung

Zur nachhaltigen Überwindung der fragmentierten Versorgung im deutschen Gesundheitswesen bedarf es sektorenübergreifender Ansätze, welche regelhaft und bedarfsgerecht PatientInnen zur Verfügung gestellt werden können. Zur Erprobung solcher Konzepte werden Projekte durchgeführt, wobei einige auf Managed-Care-Methoden aufbauen: Case Management (CM) wird in vielfältigen Kontexten erprobt [1] [2]. CM versteht sich als ein am Individuum orientiertes Unterstützen, Begleiten bzw. Lotsen von Personen in komplexen Lebenslagen durch das Gesundheits- und Sozialwesen. Dabei wird zunächst Hilfebedarf am konkreten Fall festgestellt, Unterstützung geplant und umgesetzt sowie im letzten Schritt an definierten Zielen der Erfolg überprüft. Auf regionaler Ebene wird die Vernetzung und Koordination der Versorgung als Care Management, Netzwerk- bzw. Systemmanagement bezeichnet [3].

Ob Versorgungskonzepte nachhaltig im deutschen Gesundheitssystem angesiedelt werden können, ist einerseits von der Akzeptanz der Nutzenden abhängig. Dabei wird CM mit einer verbesserten Patientenzufriedenheit assoziiert [4] [5]. Geschätzt wird aus der Sicht von PatientInnen und pflegenden Angehörigen die psychosoziale Unterstützung, der Zugang zu Gesundheitsleistungen sowie die Hilfe den Gesundheitsstatus betreffend [6]. Andererseits sollte eine Versorgungsverbesserung erreicht werden. Aufgrund von chronischen Erkrankungen und Multimorbidität kann bei älteren Personen ein Unterstützungs- und Koordinierungsbedarf vorliegen, weshalb Case und Care Management (CCM)-Interventionen in Deutschland bereits untersucht werden [5]. Für diese Population gibt es in Deutschland u. a. Hinweise auf Mortalitäts- und Morbiditätsverbesserungen, geringere Inanspruchnahme von stationärer Versorgung und längere Verweildauern in der Häuslichkeit, obwohl dies nicht eindeutig ist und daher keine Verallgemeinerung erfahren kann [5]. Eine gesicherte gesetzliche Finanzierung kann zur Implementierung von CCM-Versorgungskonzepten in Deutschland entscheidend sein. Braeseke et al. halten die Verankerung von PatientenlotsInnen im SGB V als Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung für eine gangbare Lösung [2]. Als ein Argument für eine Finanzierung kann das Verhältnis von Wirksamkeit und Kosten herangezogen werden. Systematische Übersichtsarbeiten zu gesundheitsökonomischen Evaluationen deutscher Studien konnten zu CCM-Interventionen bei älteren Populationen nach bestem Wissen der Autorinnen nicht identifiziert werden. Daher leistet die vorliegende Übersichtsarbeit einen Beitrag zur Literatur, indem sie untersucht, zu welchen Ergebnissen gesundheitsökonomische Evaluationen von CCM-Interventionen bei älteren Personen im Vergleich zur Standardversorgung in Deutschland bisher kommen. Darüber hinaus wird zusammengestellt, welche zukünftigen Untersuchungen hierzu durch laufende Innovationsfondsprojekte zu erwarten sind.Methodik

Es wurden systematische und unsystematische Literaturrecherchen zu Publikationen der letzten zehn Jahre durchgeführt. Das Verständnis von CCM folgt den Definitionen der Deutschen Gesellschaft für Case Management (DGCC) [3]. Die Struktur dieses Reviews orientiert sich am PRISMA-Berichtsleitfaden [7].

Primärstudien wurden Ende Juli 2021 systematisch über PubMed und Livivo sowie durch eine unsystematische Handrecherche gesucht. Es wurden separate Recherchen zu Case bzw. Care Management erstellt. Die Suchstrategien wurden ebenso wie die Fragestellung an das PICO-Schema angelehnt [8], wobei dem Komparator keine Suchtermini zugeordnet wurden. Daher wurden drei Blöcke mit Suchbegriffen gebildet: (I.) ältere, geriatrische Population, (II.) Case bzw. Care Management und (III.) gesundheitsökonomische Evaluation. Die Suchbegriffe und ihre Synonyme wurden innerhalb der Blöcke mit dem booleschen Operator OR verknüpft und die Blöcke untereinander mit AND kombiniert. In Livivo wurde die Suche auf die Datenbanken BASE, ECONBIZ, EZB, Katalog ZB MED, PSYNDEX und die Verlagsdaten beschränkt. Die vollständige Suchstrategie der systematischen Recherche inklusive applizierter Filter ist im Appendix (Zusatzmaterial, online) verfügbar.

Für die Handrecherche wurden relevante Übersichtsarbeiten [2] [5] [9] inklusive deren Referenzlisten, die Zusammenfassungen von Artikeln der vergangenen Jahre des Monitor Versorgungsforschung sowie Publikationen und Projektbeteiligungen einschlägiger ExpertInnen bzw. Institutionen durchsucht. Weiterhin wurden Publikationen basierend auf den von Ex et al. gelisteten Innovationsfondsprojekten [1] im Web recherchiert.

Die Treffer wurden mithilfe der Titel und Zusammenfassungen und anschließend im Volltext manuell gescreent. Eingeschlossen wurden Studien mit folgenden Merkmalen: vergleichende Primärstudien, eine patientenzentrierte Intervention steht im Vordergrund, die Intervention überbrückt mindestens zwei Sektoren, es handelt sich um eine Case- oder Care-Management-Intervention nach (DGCC) [3], die deutsche Population ist mindestens 60 Jahre alt, die Intervention wird evaluiert, indem Kosten und Nutzen sowie deren Relation abgebildet wird.

Studien, bei welchen die Einschlusskriterien nicht zutrafen, welche älter als zehn Jahre waren, in anderen Sprachen als Deutsch oder Englisch publiziert wurden oder bei welchen kein Volltextzugriff möglich war, wurden ausgeschlossen. Bezüglich der Datengrundlage der ökonomischen Evaluation wurden keine Einschränkungen vorgenommen, um ein vollständiges Bild der verfügbaren Studienlage zu erhalten. Die Entscheidung über den Einschluss der Treffer erfolgte durch eine erfahrene wissenschaftliche Mitarbeiterin.

Die Bewertung der Berichtsqualität der eingeschlossenen Evaluationsstudien wurde anhand des CHEERS-Leitfadens [10] manuell vorgenommen. Für jede Studie wurde jedes Item als erfüllt, teilweise erfüllt oder unerfüllt bewertet. Diesen Zuständen wurden die Punktwerte 1, 0,5 bzw. 0 zugeordnet. Der Anteil der vergebenen Punktwerte vom maximal erreichbaren Punktwert wurde berechnet und als Berichtsqualität interpretiert. Es erfolgte keine Bewertung der Studienqualität.

Primärer Endpunkt des Reviews sind die Kosteneffektivität bzw. die Kosten- und Wirksamkeitsmessungen der Studien. Aus den Studien wurden Basisinformationen zur Datengrundlage, Eckdaten der gesundheitsökonomischen Analyseform und ihren Ergebnissen sowie Schlussfolgerungen der AutorInnen manuell extrahiert. Die Auswertung der extrahierten Informationen erfolgte aufgrund der wenigen, heterogenen Studien deskriptiv mit einer narrativen Synthese.


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Ergebnisse

Die systematische Recherche und die Handrecherche ergaben 1582 bzw. 58 Treffer, wovon 111 Artikel im Volltext gescreent wurden ([Abb. 1]). Es konnten fünf Studien in den Review eingeschlossen werden, welche sich Care Management [11] [12] bzw. Case Management (CM) [13] [14] [15] zuordnen.

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Abb. 1 PRISMA-Flussdiagramm zur Studienidentifikation (Moher D, Liberati A, Tetzlaff J, Altman DG, The PRISMA Group (2009). Preferred Reporting Items for Systematic Reviews and Meta-Analyses: The PRISMA Statement. PLoS Med 6(7): e1000097. doi:10.1371/journal.pmed1000097).

Bezogen auf die empfohlenen Items des CHEERS-Leitfadens wird die Berichtsqualität der Studien insgesamt als gut bis sehr gut bewertet. Mostardt et al. [13], welche als Einzige auf Deutsch berichten, erreichen knapp 73% der möglichen Punkte. Die übrigen vier Publikationen erreichen einen Anteil zwischen 89 und 93% der möglichen Punkte ([Tab. 1]). Kleinere Defizite in der Berichterstattung bestehen bei der Begründung von Methodennutzung. Weiterhin ist nicht ersichtlich, welche Relevanz die gesundheitsökonomische Analyse für ein Projekt oder eine potentiell zu treffende Entscheidung besitzt. Eine vollständige Darstellung der Bewertung pro CHEERS-Item und Studie, inklusive zu Interessenskonflikten und Finanzierungsquellen, ist im Appendix (Zusatzmaterial, online) einsehbar.

Tab. 1 Bewertung der Berichtsqualität anhand des CHEERS-Leitfadens.

Grochtdreis et al. 2019 [11]

Michalowsky et al. 2019 [12]

Mostardt et al. 2012 [13]

Seidl et al. 2015 [14]

Seidl et al. 2017 [15]

Summe der erreichten Punkte

19,5

20

14,5

19,5

20,5

Maximal erreichbare Punkte

22

22

20

22

22

Anteil der erreichten Punkte

88,6%

90,9%

72,5%

88,6%

93,2%

Vier Studien basieren auf Daten einer randomisierten kontrollierten Studie (RCT) [11] [12] [14] [15], wobei es sich bei zwei Studien um eine Ein- bzw. Drei-Jahres-Analyse derselben RCT handelt [14] [15]. Die fünfte eingeschlossene Untersuchung evaluiert die Ergebnisse einer prospektiven Beobachtungsstudie mit gematchten Kontrollgruppen auf Grundlage von Krankenkassendaten [13]. Im Fokus stehen CCM-basierte Interventionen für Depressionen [11], Demenz [12] [13] sowie akute Herzinfarkte [14] [15] im Vergleich zur Regelversorgung. Die Studien sind in ländlich und städtisch geprägten Räumen in Deutschland angesiedelt. Eine Übersicht der grundlegenden Informationen befindet sich im Appendix (Zusatzmaterial, online).

Es handelt sich ausschließlich um Kosten-Wirksamkeits-Studien, wobei vier der fünf Studien die Wirksamkeit als Nutzwert über qualitätsadjustierte Lebensjahre (QALYs) messen ([Tab. 2]) [11] [12] [14] [15]. Ressourcenverbräuche wurden als aggregierte Gesamtkosten sowie in separaten Kostenpositionen ausgewiesen. Drei Analysen sind aus gesellschaftlicher Perspektive [11] [14] [15], zwei Studien aus Kostenträgerperspektive [12] [13] erstellt worden. Sie umfassen einen Zeithorizont von einem [11] [13] [14], zwei [12] bzw. drei [15] Jahren. Bei Zeithorizonten von mehr als 12 Monaten wurden Diskontierungsraten von 3% [15] bzw. 5% [12] genutzt. Die Analysen basieren durchschnittlich auf einer Studienpopulation von knapp 280 Personen.

Tab. 2 Daten zur gesundheitsökonomischen Evaluation.

Autor, Jahr, Nachweis

Größe Studien-population

Größe IG

Größe KG

Studien-form

Datengrundlage Evaluation

Perspektive

Zeitraum

Gesundheitsökonomische Endpunkte

Grochtdreis et al. 2019 [11]

248

139

107

CEA/CUA

Cluster-RCT, PHQ-9, EQ-5D, FIMA

Gesellschaft

12 Monate

Effektivität: Depressionsfreie Tage, QALY Kosten: Gesamtkosten

Michalowsky et al. 2019 [12]

444

315

129

CEA/CUA

Cluster RCT, SF-12, Interviews, Resource Utilization in Dementia Fragebogen

Kostenträger

24 Monate

Effektivität: QALY, Kosten: Gesamtkosten

Mostardt et al. 2012 [13]

114

38

76

CEA

Daten von 4 Krankenkassen; Dokumentation der Netzwerkverwaltung

Kostenträger

12 Monate

Effektivität: Zeit in häuslicher Umgebung in Monaten, Kosten: Gesamtkosten

Seidl et al. 2015 [14]

329

161

168

CEA/CUA

RCT, EQ-5D, Telefoninterviews, Tagebuch, Verwaltungsunterlagen

Gesellschaft

12 Monate

Effektivität: QALY, Kosten: Gesamtkosten

Seidl et al. 2017 [15]

269

131

138

CEA/CUA

RCT, EQ-5D, Telefoninterviews, Tagebuch, Verwaltungsunterlagen

Gesellschaft

36 Monate

Effektivität: QALY, Kosten: Gesamtkosten

[Tabelle 2]: IG: Interventionsgruppe, KG: Kontrollgruppe, CEA: Kosten-Wirksamkeits-Analyse, CUA: Kosten-Nutzwert-Analyse, RCT: Randomisierte, kontrollierte Studie, QALY: qualitätsadjustierte Lebensjahre.

Die eingeschlossenen Studien zeigen gemischte Ergebnisse hinsichtlich Wirksamkeit, Kosten und deren Relation ([Tab. 3]). Die Kosten der Interventionsgruppen verringerten sich in vier von fünf Studien [11] [12] [14] [15] im Vergleich zu den Kontrollgruppen und stiegen in einer [13], jeweils ohne statistisch signifikanten Unterschied bezüglich der (adjustierten, soweit berichtet) Gesamtkosten. CCM führt in drei von vier Studien zu einer geringfügigen absoluten Verbesserung der QALYs [11] [12] [15], wobei sich in der 1-Jahres-Analyse zum akuten Herzinfarkt die gesundheitsbezogene Lebensqualität noch geringfügig verschlechterte [14], ebenfalls jeweils ohne statistische Signifikanz. Effektmaße abseits der Lebensqualität, wie die depressionsfreien Tage [11] und die Zeit in der Häuslichkeit bei Demenz [13] verbesserten sich in Relation zur Kontrollgruppe statistisch signifikant. Mit CM bei Demenz wurde weiterhin eine Kosten-Effektivitätsrelation von 41€ pro zusätzlichem Monat in der Häuslichkeit errechnet [13], während die Care-Management-Intervention bei Demenz die Regelversorgung dominierte (d. h. weniger inkrementelle Kosten pro zusätzlichem QALY aufwies) [12]. Letzteres war bei Depression [11] sowie für CM in der 3-Jahres-Analyse bei akutem Herzinfarkt [15] ebenfalls errechnet worden, wobei die Unterschiede wie oben beschrieben nicht signifikant ausfielen und die Wahrscheinlichkeit einer Kosteneffektivität bei angenommener gesellschaftlicher Zahlungsbereitschaft von 40.000€ pro QALY von knapp 50% [11] bis hin zu 88% [12] reichte.

Tab. 3 Ergebnisse der ökonomischen Studien.

Autor, Jahr, Nachweis

Quantifizierung Kosten

Quantifizierung Wirksamkeit

Verhältnis Kosten-Wirksamkeit/ICER

Schlussfolgerungen der Autoren

Grochtdreis et al. 2019 [11]

IG: 6105€, KG: 6415€

Depressionsfreie Tage: IG: 207; KG: 186

QALY: IG:0,57; KG: 0,56

“Both, the unadjusted ICER for an additional DFD and for an additional QALY showed dominance (less costs, more health effects) of the IG compared with the CG. The unadjusted mean total costs were significantly lower in the IG (−€314; p=0.049, 95% CI −€627 to −€2) and the unadjusted mean DFD (+6.45; p=0.588; 95% CI 16.92 to 29.83) and QALY (+0.00; p=0.999; 95% CI 0.07 to 0.07) were both not significantly different between IG and CG. The adjusted probability for cost-effectiveness of GermanIM-PACT at a WTP of €0 per additional DFD/QALY was 35%. The adjusted probability for cost-effectiveness was 80%, 90% or 95% if WTP per additional DFD was≥€70,≥€110 or≥€180, respectively”

“According to the results of this study, the collaborative treatment was effective relative to TAU by means of a significant increase in DFD, whereas the difference in societal costs was not significant. However, GermanIMPACT did not prove to be cost-effective with certainty (in terms of a 95% probability), unless societal WTP for an additional DFD was €>=180.”

Michalowsky et al. 2019 [12]

Inkrementelle Kosten: −569€

Inkrementelle QALYs:+0,049

“Incremental QALYs (0.049; 95%CI −0.04–0.135) and costs (−569€; 95% CI −5466€–4328€) favored the DCM, indicating that the DCM was likely to be more effective and less costly. The probability of the DCM being cost-effective was 56% at 0€ WTP. The probability increased to 88%, 95%, and 98% at a WTP of 40,000€, 80,000€, and 160,000€ per QALY gained, respectively. ”

“DCM is likely to be a cost-effective strategy in treating dementia and thus beneficial for public health-care payers and patients, especially for those living alone.”

Mostardt et al. 2012 [13]

Gesamtkosten

IG: 1408,73€; KG: 1292,18€

Zeit in häuslicher Umgebung

IG: 16,14 Monate; KG: 12,2 Monate

„Im Basisfall ergeben sich Mehrkosten von 41 EUR je zusätzlichen Monat in häuslicher Umgebung. Im Rahmen der Sensitivitätsanalyse unter der Annahme höherer durchschnittlicher Kosten für das Fallmanagement resultiert eine inkrementelle Kosteneffektivitätsrelation von 53 EUR je zusätzlichen Monat in häuslicher Umgebung.“

„Die ersten Berechnungen zur Kosteneffektivität deuten darauf hin, dass Case-Management eine kosteneffektive Intervention darstellt. Es besteht jedoch die dringende Notwendigkeit weiterer Untersuchungen in Deutschland mit einer größeren Fallzahl und einem längeren Beobachtungszeitraum.“

Seidl et al. 2015 [14]

Adjustierte Kostendifferenz: −17,61€

Inkrementelle QALYs: −0,0163

“For cost-utility analysis, both costs (−€17.61) and effects (−0.0163 QALYs) were lower in the intervention group; therefore, the ICER (€1,080/QALY) represents the savings per additional QALY lost.”

“In conclusion, the KORINNA study failed to show that the case management intervention was an effective and cost-effective alternative to usual care within a time horizon of 1 year.”

Seidl et al. 2017 [15]

Inkrementelle Kosten ohne Diskontierung: −2575€

Mit 3% Diskontierung: −2509€

Inkrementelle QALYs ohne Diskontierung:+0,0295;

mit 3% Diskontierung:+0,0268

“Because costs were lower(–€2576; P=0.2968) and QALYs were higher (0.0295; P=0.7568) in the intervention group and differences remained stable after applying a discount rate of 3% ,no ICER was calculated. […] Fifty-three percent of the bootstrap observations were located in the southeast quadrant of the CE plane”

“The case management KORINNA was cost-neutral and led to an important and significant improvement in health status among survivors. It was associated with higher QALYs and lower costs within a time horizon of 3 years but the differences in costs and QALYs were not statistically significant “

[Tabelle 3]: IG: Interventionsgruppe, KG bzw. CG: Kontrollgruppe, QALY: qualitätsadjustierte Lebensjahre, ICER: Inkrementelles Kosten-Wirksamkeits-Verhältnis, DFD: depressionsfreie Tage, CI: Konfidenzintervall, DCM: Dementia Care Management, WTP: Zahlungsbereitschaft, CE: Kosten-Wirksamkeit; Hinweis: Hervorhebungen in fetter Schrift in den Zitaten wurden zur besseren Übersichtlichkeit von den Autoren dieses Reviews ergänzt und sind nicht Teil des Originaltextes.

Limitiert werden die Studien durch eine eingeschränkte Generalisierbarkeit der ermittelten Ergebnisse bedingt durch die Datengrundlage, zumeist einer RCT. Weiterhin werden potentiell ergebnislimitierende Selektionseffekte bei der Auswahl der Studienteilnehmenden dieser RCTs diskutiert.


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Diskussion

Bisher sind nur wenige ökonomische Analysen von CCM-Interventionen in älteren Populationen in Deutschland verfügbar. Diese ergeben kein eindeutiges Bild hinsichtlich der Frage, ob CCM-Interventionen im Vergleich zur Regelversorgung nachweisbare Vorteile in Bezug auf das Verhältnis von patientenzentrierten Endpunkten und Ressourcenverbräuchen erreichen können. Es besteht weiterer zielgruppenspezifischer und gesetzbuchübergreifender Forschungsbedarf. Die derzeitige Studienlage lässt daher keinen Schluss zu, ob CCM aus gesundheitsökonomischer Perspektive als Versorgungsinstrument Anwendung finden sollte.

Die Wirksamkeit von CM bei Langzeiterkrankungen ist in Reviews aus Reviews synthetisiert worden. Während sich CM bei Patientenzufriedenheit und Leitlinien-Adhärenz von Verschreibungen als konsistent effektiv erweist, kann für klinische und funktionelle Endpunkte nur eine niedrige Konsistenz der Evidenzlage aufgezeigt werden. Bezüglich einer verbesserten Lebensqualität durch CM ergibt sich wie in der vorliegenden Arbeit eine widersprüchliche Evidenzlage. Ressourcenverbräuche erreichen ebenfalls nur eine niedrige Konsistenz; mit Ausnahme der Hospitalisierungsraten, bei denen mit hoher Konsistenz kein Effekt von CM festgestellt werden kann [4]. Ein anderer Review aus Reviews zu chronischen Erkrankungen konnte Hinweise auf positive Einflüsse von CM auf die Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen und Kosten konstatieren, wobei gemischte Ergebnisse einzelner Reviews zugrunde liegen [16]. Ebenso wird in einem Review aus Reviews zum Einfluss von integrierten Versorgungsmodellen bei chronischen Erkrankungen auf die Krankenhausinanspruchnahme nur bei zwei von acht Reviews zu CM ein positiver Einfluss aufgezeigt, während sechs von acht gemischte oder keine signifikanten Ergebnisse synthetisieren [17].

Limitationen ergeben sich hinsichtlich der eingeschlossenen Literatur, welche wissenschaftlich publizierte Volltextartikel enthält, die in den durchsuchten Datenbanken gelistet waren. Zusammenfassungen, Posterbeiträge und graue Literatur konnte nicht berücksichtigt werden, obwohl Berichte von CCM-Studien in nationalen Gutachten auch als graue Literatur veröffentlicht wurden [5]. Um dem regen Austausch der deutschen Fachwelt der Versorgungsforschung Rechnung zu tragen, wurde der Monitor Versorgungsforschung der Handrecherche hinzugefügt.

Es könnten durch die systematische Recherche v. a. in PubMed nur ein Anteil der relevanten Treffer identifiziert worden sein. Aufgrund der hohen Trefferzahl von initial über 15 000 Treffern bei Care Management wurde die Suchstrategie mehrmals überarbeitet. Die finale Suchstrategie inklusive der Filter ist im Appendix (Zusatzmaterial, online) zu finden.

Studien bleiben möglicherweise unberücksichtigt, weil die Begriffe rund um CCM im deutschen Versorgungskontext uneinheitlich bzw. abweichend von der Definition der DGCC verwendet werden, wie auch Gärtner et al. feststellen [5]. Die Beurteilung der Eignung auf Einschluss wird dabei umso konfliktreicher, je weniger Informationen über die Intervention und dessen Studie vorliegen, z. B. bei fehlenden Studienprotokollen.

Zur Beurteilung des Erfolgs und einer Weiterführung von neuen Versorgungskonzepten unter Nutzung von CCM ist eine Betrachtung des Nutzens im Verhältnis zu den Kosten von Vorteil. Einige CCM-Projekte der letzten Jahre haben bislang keine veröffentlichte ökonomische Analyse erfahren (vergleiche z. B. die CM-Projekte in Gärtner et al. [5]). Aus Transparenzgründen und zur Weiterentwicklung der Versorgungsqualität ist jedoch die Veröffentlichung von Projektresultaten unabdingbar. Ein Grund für fehlende veröffentlichte Ergebnisse kann das Vorliegen statistisch nicht-signifikanter Ergebnisse sein [18]. Letztere werden durch die Ausrichtung der statistischen Power einer RCT auf primäre klinische statt sekundäre gesundheitsökonomische Endpunkte begründet [11]. Hier könnten zukünftig Zwischenanalysen während der Laufzeit einer Interventionsstudie einen Hinweis auf frühzeitige Maßnahmen geben, welche die statistische Power für diese Endpunkte erhöhen können, sofern das Studiendesign dies zulässt [19].

Die Ergebnisse der systematischen Recherche suggerieren einen weiteren Forschungsbedarf von gesundheitsökonomischer Evidenz bei CCM in der älteren Bevölkerung im deutschen Versorgungssystem. Durch den Innovationsfonds werden viele Konzepte unter Nutzung von CCM erprobt, welche in den kommenden Jahren neue Evidenz erwarten lassen. Im zusätzlichen Material finden Sie eine Tabelle mit zukünftig zu erwartenden Ergebnissen gesundheitsökonomischer Studien bei derzeit laufenden Innovationsfondsprojekten.

Fazit für die Praxis
  • Case und Care Management (CCM) ist im Vergleich zur Routineversorgung in Populationen über 60 Jahren in Deutschland bisher selten gesundheitsökonomisch analysiert worden.

  • Die gesundheitsökonomischen Ergebnisse zeichnen kein eindeutiges Bild für CCM in Bezug auf patientenbezogene Endpunkte und Kosten. Hinweise, dass CCM bei älteren multimorbiden PatientInnen Nutzen stiftet, sollten weiter validiert werden.

  • Eine standardisierte Dokumentation soll im Versorgungsalltag die Erfassung von patientenbezogenen Endpunkten und der Kostenstruktur unterstützen, sodass die Verbesserung der Versorgungsqualität hinsichtlich multimorbiden Personengruppen festgestellt werden kann.

  • Resultate zurzeit erprobter CCM-Konzepte, beispielsweise von derzeit laufenden Innovationsfondsprojekten, sollten im wissenschaftlichen Kontext veröffentlicht werden, um die Evidenzsituation zu verbessern.


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Zusätzliches Material


Korrespondenzadresse

Dr. Marija Radic
Fraunhofer-Zentrum für Internationales Management und Wissensökonomie
Preis- und Dienstleistungsmanagement
Neumarkt 9–19
04109 Leipzig
Germany   

Publication History

Article published online:
20 September 2022

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Abb. 1 PRISMA-Flussdiagramm zur Studienidentifikation (Moher D, Liberati A, Tetzlaff J, Altman DG, The PRISMA Group (2009). Preferred Reporting Items for Systematic Reviews and Meta-Analyses: The PRISMA Statement. PLoS Med 6(7): e1000097. doi:10.1371/journal.pmed1000097).