physiopraxis 2022; 20(07/08): 68-69
DOI: 10.1055/a-1838-7715
Perspektiven

Willkommen im Varieté der Praxislogistik – Maier-Kolumne

Ulrike Maier
 

Das Zeitmanagement in einer Praxis für Physiotherapie ist ein akrobatisches Meisterstück. Im Rhythmus wechselnder Behandlungseinheiten jongliert die Therapeutin Termine, zaubert Lücken, hängt in Drahtseilakten Patient*innen hintendran, verschiebt, vertauscht, hält alle Bälle in der Luft. Aber die virtuoseste Vorstellung nutzt nichts, wenn das Publikum nicht klatscht, sondern mit einem absurden Angebot von Ausreden ein Gegenprogramm startet.


#

Gaaaanz wichtig!

Ein Klassiker, der im Ranking weit oben rangiert: Mandy, 16 Jahre, ruft an und will wegen eines „gaaanz dringenden Termins“ ihren Physiotermin absagen. Sie hat spontan einen Platz bei der thailändischen Maniküre erhalten. „Weißt du, ich will doch unbedingt so Fingernägel wie Beyoncé, mit den Bärchen drauf!“ Okay, für ein 16-jähriges Mädchenhirn, das gerade im Umbau begriffen ist, scheint das eine Sache auf Leben und Tod zu sein. Im Gegensatz dazu ist es für uns tatsächlich existenziell, wenn jeder wegen eines Friseurtermins, einer Antifaltenbehandlung oder wegen „Kinderschminken auf dem Marktplatz“ absagt. Und so improvisiere ich für Mandy eine kleine Informationseinlage in Sachen Trainingsprinzipien, therapeutische Sinnhaftigkeit und wirtschaftliche Zusammenhänge. Unbezahlt. Vermutlich hört sie nur Rauschen, aber auch die Explosionsgefahr in meiner Stimme. Sie kommt pünktlich.

Es gibt die kuriosesten Gründe für Absagen in der Physiotherapie.

Bei Frau von und zu Hoheit wiederum scheint das Hirn gar nie im Umbau gewesen zu sein. „Meine Putzfrau kommt heute früher, die putzt nicht ordentlich, wenn ich nicht dabei bin! Da kann ich auf gar keinen Fall zu Ihnen kommen!“ Eine Stunde vor Termin kommt die Absage. Auf meine Ansage, dass wir diesen Termin in Rechnung stellen, kontert sie: „Wissen Sie, was eine Putzfrau kostet?“ Fast will ich auflegen und weinen. Dann greife ich in die Trickkiste. Eine Reinigungskraft, erklär ich ihr, die man beim Putzen anleiten müsse, sei ihr Geld überhaupt nicht wert. Gleichzeitig käme aber auf die Physiotherapie-Rechnung eine Planungspauschale von 20 Euro dazu. Eine Stunde später kommt sie zum Termin. Seitdem überlegen wir, die Pauschale ernsthaft einzuführen. Ich hör die Kasse klingeln!


#

Gut-Wetter-Patient*innen

Fast ebenso gern gesehen sind Absagen wegen klimatischer Rahmenbedingungen. „Es regnet!“ Frau K., eine ältere Patientin, sagt ab. „Ich bin bei schlechtem Wetter zu Fuß so ungern unterwegs.“ Irgendwie nachvollziehbar. Aber für eine Praxis mit Sitz in Mitteleuropa reduzieren sich die Behandlungstage auf 100, wenn nur an sonnigen Tagen Therapie stattfindet. Doch Frau K. schaut immer vorher in den Wetterbericht und sagt bei schlechten Prognosen exakt 24 Stunden vorher ab. An manchen Regentagen kämpfe ich massiv gegen ein Empathie-Burnout an.

„Es regnet“, cancelt auch Thilo, ein junger Mann, seinen Termin. „Mein Fiat Panda fährt nur bei trockenem Wetter.“ Also, immerhin fährt der Wagen noch bei Sonnenschein, er ist nämlich Baujahr 96 und von der Großmutter geerbt. „Wie soll ich denn sonst zu Ihnen kommen?“ Clownerie, zersägte Jungfrauen, Weltenrettung und der Fahrplan der öffentlichen Verkehrsmittel – alles im Repertoire einer gut ausgebildeten Physiotherapeutin. Nur das Parkplatzproblem in der Innenstadt kann ich nicht lösen. Allerdings, wer zur Physiotherapie kommt, lernt auch, selbst aktiv zu werden und Lösungen zu finden. „Es regnet“, sagt eine Mutter mit dreijährigem Kind. „Das Kind wird nass!“ Zu diesem Zeitpunkt versteh ich noch nicht, dass das eine Absage ist. „Es wird doch krank auf dem Weg, wir können nicht kommen!“ Das Kind wiederum ist gar nicht der Patient, weder orthopädisch krank, geschweige denn immunologisch. Die Frau wiederum hat eine Nebendiagnose oberhalb C Null. ABER, jetzt kommt eine ganz mutige These: Kinder und Tiere sind Totschlagargumente und dürfen bei der Absage nicht infrage gestellt werden. Gegen die Ansage einer Kindswohlgefährdung kommt man mit keinem Zauberkasten der Welt an. Das kann nur Mutter. Das bleibt immer ein unbezahlter Ausfall.


#

Schmerzhafter Widerruf

Hin und wieder ist Patient*innen nicht klar, was das ist: Physiotherapie. „Ich habe Rückenschmerzen, ich muss alle Termine absagen“, sagt der 40-jährige Herr L. „Ich kann da nicht auch noch turnen!“ Seine Frau hatte ihm die Termine vor zwei Tagen ausgemacht. „Sind die Beine akut gelähmt, bluten Sie, sind Sie bettlägerig?“ „Nein“, sagt er irritiert. „Seit wann haben Sie Schmerzen?“ „Seit einem halben Jahr, aber alle Tabletten haben nichts geholfen!“ Oje, denke ich, das wird ein langes Telefongespräch mit viel methodisch-didaktischem Hokuspokus, warum man auch mit Schmerzen eine Physiotherapiepraxis gefahrlos aufsuchen darf. Telefonate mit Beratung können wir aber leider nicht in Rechnung stellen.


#

Eviva Corona

Yeah, die Pandemie hat für Therapieschwänzer einen Freibrief geschaffen. Natürlich will keiner das Kackvirus in der Praxis haben. „Isch hab Corona, kann net kommen!“ Der siebzehnjährige Tim sagt kurzfristig für 18.30 Uhr ab. Laute Musik schallt aus dem Hörer. „Wann war denn dein Test?“, frage ich ihn, obwohl ich schon weiß, dass es da keinen Test gibt. „Hä?“, fragt er. „Wsnfürntest?“ Er lallt. Im Hintergrund ruft einer, dass das Bier alle ist. „Bist du zum nächsten Termin wieder nücht… gesund?“, frage ich. „Klar!“, sagt er, und dann scheint er auf den Ausknopf gefallen zu sein. Ich freu mich schon auf die Diskussion mit den Eltern, wenn sie die Rechnung erhalten.

Zoom Image
Quelle: © S. Schaaf/Thieme

#

Eigenabsagen

Und natürlich, manchmal müssen wir selbst absagen. Und zwar auch wegen Corona. Ich bin soeben die einzig Verbliebene. Auf den Satz: „Die Omikronwelle hat uns erwischt. Es tut mir furchtbar leid, aber alle meine Kolleginnen sind krank, und ich muss leider alle Termine absagen!“, reagieren die Leute unterschiedlich verständnisvoll.

„Zur Not komm ich auch zu Ihnen“, sagt Frau S. wenig wertschätzend. „Zur Not gibt es nicht“, antworte ich. „Übermorgen früh kann ich kommen“, sagt sie unbeeindruckt. „Aber ich nicht“, sage ich. „Dann halt bei der Kollegin.“ Frau S. scheint ein hartnäckiger Realitätsverweigerer zu sein. „Es gibt im Moment keine Kollegin“, antworte ich. „Ja, aber übermorgen doch vielleicht?“ Frau S. hat irgendwie die Berichterstattung über Genesungszeiträume nicht verfolgt. „Bis Ende der Woche ist gesichert keiner da.“ „Na, dann halt bei Ihnen“, sagt sie. Ich habe das Gefühl, in einer Dauerschleife festzuhängen. Mein Blick ist auf die scheinbar endlose Liste gerichtet, die ich noch abtelefonieren muss. „Bei mir ist wieder in vier Wochen ein Platz frei.“ „Ach so“, sagt sie. „Ich bin ab nächste Woche für drei Wochen in Urlaub. Dann nehme ich den. Gerne bei Ihnen.“

Frau W. wiederum steht schon seit längerem auf der roten Liste. Weil sie von sechs Terminen fünf nicht kommt. Unentschuldigt. Eine neue Kollegin wollte ihr eine Chance geben, nur deshalb hat sie überhaupt Termine. Davon kam sie die letzten zwei nicht. „Wie, es fällt schon wieder ein Termin aus?“, fragt sie, und das Schleppende in ihrer Stimme ist an Arroganz nicht zu überbieten. „Die letzten fünf Termine haben Sie ausfallen lassen“, sage ich und versuche mich mit Gedanken an gutes Abendessen abzulenken. „Sie haben bis jetzt noch nicht mal das Rezept mitgebracht!“ Pasta mit Basilikum, denke ich. „Ich bin ja extra zu Ihnen gekommen, damit mir geholfen wird. Jetzt hab ich aber das Gefühl, dass ich immer nur Termine, die nicht stattfinden, BEZAHLEN soll!“ Während ich ihr die Zusammenhänge in aller Ruhe erkläre, sehe ich meine Hand in die Schokoladendose greifen. Mit Blick auf die Liste hat mein Unterbewusstsein die Realitäten anerkannt. Schönes Abendessen, denke ich.

Frau S. ist die Zehnte, die ich am Telefon habe. „Ach je“, sagt sie. „Wie geht es denn den Kolleginnen?“ „Sie fiebern“, sage ich wahrheitsgemäß. „Die Armen!“, sagt Frau S. „Und Sie müssen jetzt bis tief in die Nacht die Ausfälle managen. Dann sagen Sie mal allen eine gute Besserung von mir. Wenn es wieder in ruhigeren Bahnen läuft, dann geben Sie Bescheid.“ Ich bin sprachlos. Die gute Seele. Ja, es gibt auch solche. Ein kleiner Stern erscheint am Firmament. Ein einzelner Mensch spendet Applaus im Zirkusrund. Genau für solche Menschen lohnt sich die ganze Artistennummer.

Ulrike Maier


#
#

Publication History

Article published online:
19 July 2022

© 2022. Thieme. All rights reserved.

Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany

Zoom Image
Quelle: © S. Schaaf/Thieme