Nervenheilkunde 2022; 41(09): 547-548
DOI: 10.1055/a-1824-7764
Zu diesem Heft

Transition und Teilhabe – Begleitung von Jugendlichen beim Institutionswechsel

Vera Clemens
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Andreas Witt
 
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    Jun.-Prof. Dr. Vera Clemens Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/-psychotherapie Universitätsklinikum UlmQuelle: ©privat
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    Dr. Andreas Witt Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/ -psychotherapie Universitätsklinikum UlmQuelle: ©privat

    Liebe Leserinnen und Leser,

    die Zeit des Übergangs zwischen Jugend und Erwachsenenalter ist eine besondere, aber auch sehr herausfordernde Phase für junge Menschen. In der Literatur wird diese Phase als Adoleszenz, z. T. auch als „emerging adulthood“ bezeichnet. Wichtige Entwicklungsaufgaben sind der Aufbau neuer sozialer Beziehungen und fester Partnerschaften, der Aufbau eines eigenen Haushalts und der Einstieg in das Berufsleben. Auch die Identitätsentwicklung ist zentral. Diese Transitionszeit, die insbesondere die Lebensjahre zwischen 16 und 25 Jahren (z. T. auch 27 Jahren) umfasst, stellt junge Menschen aufgrund der Fülle von Entwicklungsaufgaben vor vielfältigen Herausforderungen. Daher ist die Adoleszenz eine Zeit, in der eine hohe Heterogenität bezüglich der Entwicklungsaufgaben vorliegen kann, auch innerhalb einer normativen Entwicklung. So kann es sehr selbstständige 18-jährige Personen geben, aber auch Personen in ihren 20iger Jahren, die sich noch in Ausbildung befinden und ggf. noch bei den Eltern wohnen.

    Junge Menschen mit psychischen Erkrankungen werden in dieser Zeit besonders gefordert. Zentral ist ein gutes soziales Unterstützungssystem, das junge Menschen bei der Bewältigung dieser Entwicklungsaufgaben hilft. Leider fehlt genau dieses häufig in unserer heutigen Versorgungsrealität. Mit dem Übertritt ins Erwachsenenalter steht für diese jungen Menschen mit (chronischen) psychischen Erkrankungen auch ein Systemwechsel von der Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie in die Erwachsenenpsychiatrie. Diese Übergänge sind häufig nicht gut organisiert und können damit Entwicklungseinbrüche und Behandlungsabbrüche nach sich ziehen.

    Neben der Transition im medizinischen Bereich stehen junge Menschen mit psychischen Erkrankungen auch in anderen Bereichen vor einem Systemwechsel, etwa von der Kinder- und Jugendhilfe in den Bereich der Eingliederungshilfe. Auch diese Wechsel können eine Reihe von zusätzlichen Belastungen für die jungen Menschen mit sich bringen. Mit dem neuen Bundesteilhabegesetz und dem Kinder- und Jugendstärkungsgesetz will der Gesetzgeber diesen Problemen begegnen. Die Rechte der jungen Volljährigen sollen gestärkt und eine verbesserte Zusammenarbeit der Schnittstellen im Übergang erreicht werden.

    Das vorliegende Themenheft der Nervenheilkunde berichtet über die Chancen und Herausforderungen dieser Entwicklungen und beinhaltet 6 Publikationen aus 2 wissenschaftlichen Projekten zum Thema Transition. Im Projekt ProTransition liegt der Fokus auf der Transition im medizinischen Bereich. Das Projekt „Dazugehören BaWü“ fokussiert auf den Übergang von der Kinder- und Jugendhilfe in die Eingliederungshilfe.

    Die Herausforderungen und Problematiken in der Transition im psychiatrischen Bereich führen bei adoleszenten Patienten zu einer niedrigeren Inanspruchnahme von Behandlungen, zu einer erhöhten Rate an Therapieabbrüchen und einer unzureichenden Kontinuität in der psychiatrischen Versorgung. Ein zentraler Ansatz diesen Problemen zu begegnen ist es, eine ausreichende fachliche Expertise bei den beteiligten Fachkräften sicherzustellen. In ihrem Beitrag beschreiben Elisa König und Kollegen die Entwicklung und Inhalte des Online-Kurs „ProTransition“ für Fachkräfte aus den Heilberufen zur Thematik der Transition. Ayca Ilgaz et al. fokussieren in ihrem Artikel auf Unterstützungsmöglichkeiten von Betroffenen und stellen traditionelle und neue digitale Möglichkeiten (ProTransition-App) zur Unterstützung junger Menschen in dieser Lebensphase vor.

    Die Transition von der Kinder- und Jugendhilfe in die Eingliederungshilfe wird durch unterschiedliche Rahmenmodelle erschwert, während sich die Eingliederungshilfe, auch mit dem in Krafttreten des Bundesteilhabegesetzes am biopsychosozialen Störungsmodell und der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit der Weltgesundheitsorganisation orientiert, ist das Vorgehen in der Kinder- und Jugendhilfe zur Ermittlung des Teilhabebedarfes junger Menschen noch ein anderes. In ihrem Artikel untersuchen Lena-Maria Esch und Koautoren Barrieren und Schwierigkeiten beim Übergang von der Kinder- und Jugendhilfe in den Bereich der Eingliederungshilfe auf Basis einer qualitativen Studie mit Fachkräften. Eine zentrale Forderung ist dabei ein einheitliches Bedarfseinschätzungs- und Übergabeinstrument, das sowohl Fachkräfte als auch Leistungsberechtigte im Transitionsprozess unterstützt und den Übergangsprozess mit den jeweiligen Rahmenbedingungen erleichtert. Aufbauend auf diesen Ergebnissen beschreiben Verena Gindele und Kollegen die partizipative Entwicklung eines digitalen Instrumentes zur Einschätzung einer (drohenden) Teilhabebeeinträchtigung bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Unter Berücksichtigung gesetzlicher Veränderungen und in enger Zusammenarbeit mit 4 Praxisstandorten soll durch das Instrument neben der Einschätzung der Teilhabebeeinträchtigung der Übergang von der Jugendhilfe in das Hilfesystem für Erwachsene erleichtert werden.

    Neben unterschiedlichen Rahmenmodellen zeichnen sich auch unterschiedliche Kulturen zwischen den Hilfesystemen ab. Während im Hilfesystem für Kinder und Jugendliche der Fokus darauf liegt, Kindern und Jugendlichen mit Problemen möglichst viel Unterstützung zukommen zu lassen, besteht im Hilfesystem für Erwachsene ein größerer Bedarf, eigenständig sinnvolle Hilfen zu identifizieren und aufzusuchen. Um diesen Unterschieden zu begegnen, beschreiben Johanna Neumerkel et al. in ihrem Artikel die partizipative Entwicklung und Ausgestaltung einer Intervention für Adoleszente zur Stärkung der Selbstlenkungs- und Problemlösefähigkeit, um junge Menschen im Übergang zu unterstützen. Neben den gesetzlichen Änderungen im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe und im Bundesteilhabegesetz bringt die Einführung einer neuen Version der Internationalen Klassifikation psychischer Störungen Veränderungen mit sich. Dies macht eine Anpassung der Inhalte der heilberuflichen Stellungnahme nach § 35 a SGB VIII erforderlich. In ihrem Artikel machen Therese Hiller und Kollegen einen Vorschlag zur Anpassung der heilberuflichen Stellungnahme nach § 35a SGB VIII, der die aktuellen Änderungen mit einbezieht und die Chance bietet, verschiedene Systemlogiken (ICD, ICF und Kinder- und Jugendhilfe) zusammen zu führen.

    Dieses Themenheft macht deutlich, dass Transition eine Herausforderung für Jugendliche, Adoleszente und junge Erwachsene darstellt, aber auch für alle Fachkräfte, die beruflich mit ihnen zu tun haben. Um den Transitionsprozess erfolgreich zu gestalten, bedarf es Ansätze auf unterschiedlichen Ebenen. Dies beinhaltet die Qualifikation von Fachkräften genauso wie das Empowerment von Betroffenen. Um die Logiken der unterschiedlichen beteiligten Systeme zusammen zu bringen, braucht es innovative Instrumente, die helfen, den Prozess zu strukturieren und zu unterstützen. Die Digitalisierung bietet dabei große Möglichkeiten. Die Fülle der Herausforderungen macht jedoch deutlich, dass das Thema der Transition ein großes und wichtiges ist, dass in der Zukunft weiterhin Beachtung finden sollte. Die in diesem Themenheft publizierten Artikel bieten eine Reihe von Ansatzpunkten zur Lösung der Probleme im Transitionsprozess und zur Unterstützung von Adoleszenten. Um die Transition grundlegend zu verbessern, bedarf es weiterer Anstrengungen, um diese Ansätze ihren Weg in die generelle Anwendung finden zu lassen.

    Vera Clemens und Andreas Witt, Ulm


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    Publication History

    Article published online:
    02 September 2022

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    © Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York
    Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany

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    Jun.-Prof. Dr. Vera Clemens Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/-psychotherapie Universitätsklinikum UlmQuelle: ©privat
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