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DOI: 10.1055/a-1687-2445
Berührungsmedizin – ein komplementärer therapeutischer Ansatz unter besonderer Berücksichtigung der Depressionsbehandlung
Touch Medicine – a complementary therapeutic approach exemplified by the treatment of depression- Zusammenfassung
- Abstract
- Einleitung
- Meilensteine der Berührungsforschung
- Berührungsmedizin am Beispiel der Depressionsbehandlung
- Schlussfolgerungen
- Literatur
Zusammenfassung
Haut-zu-Haut-Berührung stellt die ursprünglichste Sinneserfahrung von Mensch und Tier dar. Ein Mangel an Berührung in der Kindheit ist mit negativen Folgen für die psychosoziale und körperliche Gesundheit verbunden. Für die Entdeckung von Rezeptoren für Temperatur und Berührung im Körper wurde 2021 der Medizin-Nobelpreis verliehen. Klinische Studien belegen den Nutzen von professionellen Berührungstechniken zur Prävention und Therapie verschiedener Erkrankungen. Der breiten Anwendung einer professionellen Berührungstherapie gilt jedoch bis heute nur ein geringes klinisches Interesse. Wir schlagen eine neue Fachdisziplin der „Berührungsmedizin“ vor und spannen nachstehend einen Bogen zwischen den Erkenntnissen moderner Berührungsforschung und der klinischen Medizin. Exemplarisch steht dabei die Behandlung der primär als Leibkrankheit konzipierten Depression im Vordergrund. Kontrollierte Studien und systematische Übersichten belegen die antidepressive, anxiolytische sowie analgetische Wirksamkeit spezieller Massagetechniken in dieser Indikation. Auch für die Neonatologie, Pädiatrie, Schmerzmedizin, Onkologie und Geriatrie konnte die Wirksamkeit heilsamer Berührung gezeigt werden. Die jeweiligen Wirkmechanismen werden auf verschiedenen Konstrukt-Ebenen diskutiert. Im Vordergrund des internationalen Forschungsinteresses stehen derzeit das Interozeptionskonzept, zum anderen endokrinologische, z. B. oxytocinerge Effekte und die Aktivierung sog. CT-Afferenzen.
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Abstract
Skin-to-skin-contact presents the earliest sensory experience of men and animals. Deprivation of age-relevant touch experiences during infancy results in compromised psychosocial and biological development. The 2021 Nobel Prize in Physiology or Medicine has been awarded for the discoveries of receptors for temperature and touch. Clinical studies have demonstrated the benefit of professional salutary touch for prevention and treatment of various illnesses. However, in the present practice of medicine the application of salutary touch does not meet adequate interest. Proposing a new medical discipline “Touch Medicine” we link the findings of modern touch research to clinical medicine. The treatment of depression which we conceive primarily as a disease afflicting the body will serve as an example to demonstrate the usefulness of touch therapy. Controlled studies and systematic reviews have convincingly shown antidepressive, anxiolytic and analgesic effects of salutary touch. The effectiveness and efficacy of touch therapy has also been demonstrated in many areas such as neonatology, pediatrics, oncology, and geriatrics. We discuss the underlying mechanisms on various explanatory levels including interoceptive and oxytocinergic mechanisms as well as the role of C tactile afferent nerve fibers.
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Schlüsselwörter
Berührungsmedizin - Heilsame Berührung - Depression - Frühgeborene - Interozeption - Oxytocin - CT-Afferenzen - Psychoaktive MassageKey words
touch medicine - salutary touch - depression - pre-term infants - interoception - oxytocin - CT afferents - psychoactive massage therapyEinleitung
Zwischenmenschliche Berührungen (engl. social touch) stellen ein menschliches Grundbedürfnis dar, da sie Empathie, Liebe, Fürsorge, Intimität und soziale Zugehörigkeit vermitteln [1] [2]. Die markinischen Berichte über den Modus der von Jesus bewirkten Heilungen, die die vormals Kranken ins soziale Leben zurückführten, illustrieren dies in besonderer Weise [3]. Ein Mangel an zärtlicher Berührung hinterlässt psychische und physische Schäden, insbesondere bei Neugeborenen und Kindern [4] [5]. Die experimentelle und klinische Forschung zur Bedeutung und zu den potenziellen Mechanismen sowohl sozialer wie heilsamer Berührung hat in den letzten Jahrzehnten eine Vielzahl von Erkenntnissen erbracht, die für viele Bereiche der klinischen Medizin relevant, doch nach unserer Erfahrung vielen Ärztinnen und Ärzten nahezu unbekannt sind. Zwar wird die moderne Medizin immer „biologischer“, körperzentrierter, übersieht jedoch häufig die Unterscheidung zwischen belebtem Leib und objektivierbarem Körper, wie sie auch modernen Embodiment-Konzepten [6] und der Rede vom „verkörperten Bewusstsein“ als Hintergrund einer Psychiatrie als Beziehungsmedizin [7] [8] zugrunde liegt. Daher wird nachstehend versucht, einen Bogen zwischen den Erkenntnissen der modernen Berührungsforschung und der klinischen Medizin zu spannen. Unser besonderes Augenmerk gilt in diesem Kontext den potenziellen Anwendungsgebieten von heilsamer Berührung, z. B. in Form des „Affective Touch“ [9] bei psychischen und psychosomatischen Störungen, die sich nicht nur isoliert, sondern typischerweise auch in Verbindung mit körperlichen Erkrankungen zeigen bzw. sich wechselseitig bedingen – es sei exemplarisch nur an die breit gefächerte Schmerzsymptomatik oder auch die erhöhte kardiovaskuläre Morbidität und Mortalität depressiver Patienten erinnert [10]. Die Integration moderner Studienergebnisse zu beispielsweise den therapeutischen bzw. präventiven Effekten spezifischer Berührungstechniken in der Schwangerschaft [11] oder der Depression in die praktische Medizin ist ein vielversprechendes Projekt, welches spürbar internationalen Aufwind erfährt [12] [13] [14]. Freilich ist bislang offen, welche Fachdisziplin innerhalb der medizinischen Profession sich dieser Aufgabe stellen will. Auch wenn wir uns im Folgenden vor allem der Depression widmen, so ist dies nur ein Ausschnitt eines breiten Anwendungsfeldes ([Tab. 1]), das sich von der Neonatologie bis zur Geriatrie und Hospizarbeit erstreckt [15]. Wir schlagen daher eine neue Disziplin „Berührungsmedizin“ vor, die sich die Anwendung manueller Berührungstechniken zur Prävention, Therapie oder Rehabilitation zu Nutze macht. Es sei positiv vermerkt, dass heilsame Berührung in der Kranken- und Alterspflege durchaus bereits angekommen ist. Die Berührungsmedizin schließt bereits etablierte Techniken der Physiotherapie, Osteopathie oder manuellen Medizin und auch der Körperpsychotherapie selbstverständlich nicht aus, sondern integriert sie in eine erweiterte Fachdisziplin, die insbesondere auch die psychosozialen Aspekte von Gesundheit und Krankheit berücksichtigt. Wir sehen die Berührungsmedizin nicht in einem Konkurrenzverhältnis zur sprechenden Medizin oder Psychotherapie, doch vermittelt sie über die Haut und somit den Tastsinn einen unmittelbaren Zugang zu Leibempfindungen (sog. Interozeption), die neben physiologischen Regulationsmechanismen auch Verhalten, Emotion und Kognition beeinflussen [16].
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Meilensteine der Berührungsforschung
Die Haut als Mittlerin der Berührung ist das größte Sinnesorgan des Menschen und bildet sich im Rahmen der embryonalen Entwicklung aus dem Ektoderm – so wie auch das Nervensystem, woraus eine ontogenetische Verbindung zwischen Haut und Psyche plausibel wird. Der Tastsinn entwickelt sich als erster Sinn bereits sehr früh im Rahmen der embryonalen Entwicklung, ungefähr um die achte Schwangerschaftswoche. Im Gegensatz zu den anderen Sinnen wird ein kompletter Ausfall des Berührungssinns wohl nie beobachtet. Ein Mensch kann taub oder blind geboren werden – ohne Tastsinn aber wäre er nicht lebensfähig [17]. Wichtige Wegmarken der Berührungsforschung werden im Folgenden nachgezeichnet [1] [18].
In der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts erschienen die ersten Publikationen zur Bedeutung von Berührung, die sich in einer Schnittfläche zwischen Medizin und Entwicklungspsychologie bewegten. René Spitz [19] erkannte die biologische Notwendigkeit der liebevollen Zuwendung an institutionalisierten Säuglingen und Kleinkindern in Heimen, die nach Trennung von der Mutter zwar mit ausreichend Nahrung und guten hygienischen Standards versorgt, aber nur wenig vom Personal berührt und gehalten wurden. In der Folge kam es bei den Säuglingen zu einer hohen Sterblichkeit und erheblichen Verhaltensstörungen. Ähnliche Folgen einer Berührungsdeprivation wurden später auch bei rumänischen Waisenkindern beschrieben [2]. Wichtige Erkenntnisse der frühen Berührungsforschung wurden durch die Experimente von Harlow gewonnen, der bei von ihren Müttern isolierten Rhesusäffchen mithilfe von künstlichen Attrappen zeigte, dass die Stillung des Bedürfnisses nach Nähe und Körperkontakt wichtiger als die Stillung des Hungergefühls ist und Auswirkungen auf die sozioemotionale Entwicklung hat. Infolge dieser Experimente wurde die Bedeutung des Körperkontakts von Bowlby und dessen Mitarbeiterin Ainsworth als wesentliche Grundlage für das Bindungsverhalten des Menschen erkannt [12].
In der Folgezeit haben sich experimentelle Studien an Nagetieren mit den Auswirkungen der unterschiedlichen Art und Weise, wie die Mütter ihre Jungen ausgiebig und zärtlich berührten, beschäftigt – also mit einem Verhalten, das dem „Affective Touch“ beim Menschen ähnelt und von dem wir annehmen, dass es unmyelinisierte C-Fasern (s. u.) aktiviert [20] [21] [22]. Dieses spezifisch mütterliche Verhalten, das den Nachkommen epigenetisch zu verbesserten kognitiven Leistungen [23] wie auch zu einer positiven hormonalen Stressantwort [24] [25] [26] verhilft, überträgt sich durch nicht-genomische Mechanismen an die weibliche Nachkommenschaft und wird sichtbar, wenn diese selbst zu Muttertieren herangereift sind [27] [28].
Bei frühgeborenen Menschenkindern, die nicht im Inkubator, sondern mit viel Haut-zu-Haut-Kontakt („Känguru“) heranwachsen, konnten sowohl eine verbesserte physiologische Stabilität [29] [30] wie auch eine beschleunigte bzw. verbesserte Hirnreifung beobachtet werden [31] [32] [33] [34]. Längsschnittbeobachtungen bestätigen die durch die frühe Berührungserfahrung insgesamt verbesserte Entwicklung [35] [36].
Auch zum Termin Neugeborene profitieren von verstärktem mütterlichen Haut-zu-Haut-Kontakt, wie neuere Studien gezeigt haben, welche die wegweisenden Forschungsergebnisse von Ainsworth et al. [37] oder Main [38] [39] voll bestätigt haben. Im Kontext dieses Artikels sei speziell auf Untersuchungen zur Assoziation zwischen Art bzw. Intensität von frühem Körperkontakt, Bindung und dem Risiko späterer psychischer Störungen wie z. B. Depression hingewiesen [35] [40] [41] [42] [43] [44] [45]. Früher Körperkontakt stellt folglich eine primärpräventive Intervention dar, die sich positiv auf die physische und psychosoziale Gesundheit auswirkt [46].
Ein bedeutender Wendepunkt der Berührungsforschung war in den vergangenen 30 Jahren die Entdeckung zuvor unbekannter nervaler Strukturen des taktilen Wahrnehmungssystems [9]. Eine strukturell und funktionell unabhängige Gruppe niederschwelliger Mechanorezeptoren stellt die von schwedischen Forschern in den 1980er-Jahren entdeckten C-taktilen (CT) Afferenzen in der behaarten Haut von Menschen und Säugetieren dar, die wie die gesamte C-Fasergruppe nicht myelinisiert sind und auf Berührungsqualitäten reagieren, die einer zärtlichen Berührung entsprechen (z. B. Streicheln, Liebkosen, Kraulen, sanftes Massieren). Unter experimentellen Bedingungen konnte nachgewiesen werden, dass CT-Afferenzen optimal bei einer Streichelgeschwindigkeit von 1–10 cm/s unter Anwendung von sanftem Druck und einem Temperaturoptimum, welches der Hauttemperatur entspricht, die stärkste Feuerungsrate zeigen [47]. Die Aktivierung der CT-Afferenzen geht auf der psychologischen Ebene mit einem Wohlgefühl einher, das sich aus wahrnehmungspsychologischer Sicht nicht einer Exterozeption, sondern der Interozeption (d. h. einem inneren, wohligen Leibgefühl, s. u.) zurechnen lässt [48]. fMRT-Befunde zeigten, dass die optimale Stimulation der CT-Afferenzen insbesondere kortikale limbische Regionen aktiviert, z. B. die posteriore Insula [49]. Die Verarbeitung von CT-assoziierten Berührungen zeigt Überlappungen mit Zentren auf, die auch an der Verarbeitung von Emotionen und sozialen Kognitionen beteiligt sind [47]. Neuere Arbeiten sprechen dafür, dass neben den CT-Afferenzen auch andere neuronale Strukturen als Basis für die wahrgenommenen Berührungseffekte eine wichtige Rolle spielen könnten.
Abseits der neuronalen „Bottom-up“-Prozesse sind an der Verarbeitung von Berührungsreizen auch „Top-Down“-Mechanismen beteiligt, die von hoher Relevanz sind. Insbesondere kontextuelle „Top-down“-Faktoren entscheiden über die Qualität des Berührungserlebens; so hängt z. B. die Rezeption einer Berührung maßgeblich von der berührenden Person ab („wer berührt?“), andererseits aber auch von der zugrunde liegenden Intention („warum wird berührt?“) [15] [50].
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Berührungsmedizin am Beispiel der Depressionsbehandlung
Konzeptueller Ansatz
Angesichts der hohen Zahl an depressiven Patienten werden zunehmend Stimmen laut, dass die bislang verfügbaren Therapien – seien sie medikamentös oder psychotherapeutisch – in der Summe eine keineswegs optimale Wirksamkeit besitzen [51] [52] [53] [54]. Dies gilt auch für die derzeit stark propagierten Mindfulness-Techniken [55]. Etwa ein Drittel der Therapie-Responder klagt weiterhin über Restsymptome wie Schlafstörungen, Antriebslosigkeit etc. [56]. Auch zeigte sich in einer neuen Studie aus der Universität Witten/Herdecke, dass unter antidepressiver Medikation die körperliche Aktivierung durch emotionale Stimuli herabgesetzt ist [57]. Dies deckt sich mit Befunden aus einer fMRT-Studie, die dämpfende Effekte des Antidepressivums Escitalopram auf die Aktivität der Insula bei der Verarbeitung von Stimuli mit positiver oder negativer Valenz nahelegt [58]. Die Suche nach weiteren komplementären bzw. integrativen Therapiemöglichkeiten erscheint somit berechtigt.
Depression ist primär charakterisiert – unabhängig von ihrer jeweiligen Ausdrucksform (Starre oder Erregung) – durch die Anhedonie, d. h. das Nicht-mehr-lustvoll-spüren-Können, keine positiven Stimuli als solche mehr Perzipieren-Können; und dies betrifft nicht nur die kognitive Ebene, sondern das gesamte Sensorium. Der im Leibraum richtungsgebende Wechsel von Weitung und Engung im Sinne von Schmitz findet nicht mehr statt [59]. In der modernen, stark formalisierten psychiatrischen Diagnostik geht diese Grundsituation in einer international konsentierten Symptomen-Aufzählung fast unter. Auch bleibt bislang gänzlich unverstanden, in welcher Weise eine pharmakologische Behandlung die anhedonische Primärstörung positiv beeinflussen kann. Es ist bezeichnend für die Wertvorstellungen hochindustrialisierter Gesellschaften, dass der Besserung der Antriebslage („Patient konnte am Tag X wieder … tun“) das primäre Interesse der Behandler und der Angehörigen gilt.
Im Folgenden soll zunächst in den Vordergrund gestellt werden, dass die Depression eine den ganzen Menschen affizierende Störung ist, die den Leib ebenso betrifft wie die affektive und kognitive Ebene. Die Starre und Enge, die sich übermächtig und bedrohlich um den depressiven Menschen legt, betrifft seine körperlichen Funktionen ebenso wie seine psychischen, was sich auch z. B. im veränderten Zeiterleben ausdrückt, wie es Fuchs unter Bezug auf u. a. von Gebsattel und Tellenbach dargestellt hat [60]. Der Soziologe Hartmut Rosa nimmt an, dass depressive Menschen „in eine gleichsam ‚stillstehende‘ Zeit fallen, die sich in eine zähe Masse verändert zu haben scheint.“ Jede „bedeutsame Verbindung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“ (S. 101) geht dabei verloren [61]. Daraus lassen sich Konsequenzen für therapeutische Interventionen auf einer averbalen Ebene ziehen, worauf später näher eingegangen wird.
Der depressive Zustand wird von vielen körperlichen Störungen nicht nur, wie es gerne heißt, begleitet, sondern diese stellen ein Basissymptom der Depression dar, sodass auch von „somatopsychischen“ (anstatt psychosomatischen) Syndromen gesprochen werden könnte [62]. Der Leib des Depressiven – und „Leib“, gelebter/erlebter Leib, sei hier deutlich unterschieden vom anatomisch zergliederbaren Körper – ist krank. Thomas Fuchs spricht in diesem Kontext von der „Verkörperlichung“ des Leibes, d. h. die Kranken sind nicht mehr in ihrem Leib zu Hause, er wird als widerständiger Körper erfahren [7]. Vielfältige Formen von körperlichem Schmerz, Brustenge, Schwindel, Herzklopfen, Verlust von Appetit und Libido, Kälteschauer, Hitzewallungen, Magendruck, Unterkühlung und Verkrampfung der Glieder usw. haben wir immer wieder an unseren depressiven Patienten/innen beobachten können. Die Psychoanalytikerin Helga Pohl, die eine eigene „sensomotorische Körpertherapie“ entwickelt hat, sieht in diesen Dauerkontraktionen einen wichtigen pathogenetischen Aspekt und damit Ausgangspunkt therapeutischer Interventionen. Sie weist darauf hin, dass zwar das für die Depression zentrale Gefühl, das der Bedrückung, primär an der Vorderseite des Körpers, also im oberen Brustkorb lokalisiert wird, dennoch aber Angst und Depression im ganzen Körper empfunden werden, sodass es zu einer Anspannung der gesamten Beugemuskulatur kommt. Dementsprechend muss sich die Streckermuskulatur am Rücken und Nacken kompensatorisch anspannen. Zusätzlich wird durch die flache Atmung die Muskulatur unzureichend oxygeniert, sodass jede Bewegung extrem mühsam wird, und die Glieder bleiern schwer, wie es so viele Patienten verbalisieren [63]. So können wir diesen Zustand im Sinne Peter Sloterdijks auch als eine allgemeine Kontraktion, als seelisch-körperliche „Ich-Schrumpfung“ beschreiben [64]. Eine unserer Patientinnen beschrieb ihr Erleben folgendermaßen: „Ich zog mich innerlich immer mehr zusammen, bekam sogar körperliche Schmerzen von der Verkrümmung und Verkrampfung“. Eine andere kommentierte: „Die Disharmonie zwischen Kopf und Körper … – als ginge der Körper verloren, weil der Kopf so stark beansprucht ist…“.
Das subjektive Körpererleben in der Depression ist seltsamerweise viel seltener als bei schizophrenen Patienten systematisch untersucht worden. Studien, auch aus unserem eigenen Arbeitskreis, zeigen, dass Depressive ihre veränderte Leiblichkeit deutlich empfinden und negativ bewerten [65] [66]. Eine neue phänomenologisch-qualitative Studie deutet ebenfalls darauf hin, dass Betroffene ihre leiblichen Empfindungen als Blockade, Schwere, Leere, Entfremdung oder Lähmung im Kopf bzw. im ganzen Körper umschreiben [67]. Unsere Grundannahme war und ist, dass es möglich sein sollte, über den Weg der heilsamen Berührung, die primär dem Zielorgan Haut gilt [68] [69] [70] [71] einen averbalen Zugang zum depressiven Menschen zu gewinnen, sein Nicht-Fühlen-Nicht-Spüren-Können quasi zu unterlaufen, seine Angst und Unruhe zu reduzieren, ihn wieder empfindungsfähiger und ausdrucksfähiger zu machen. Der Patient könnte so eine neue Gegenwart erleben. Als ein „Entmächtigen der Vergangenheit durch ein Ankommen im Hier und Jetzt“ beschrieb es der Psychiater und Philosoph Hinderk Emrich einst unseren konzeptuellen Ansatz [72]. Vorliegende klinische Studien unterstützen diese theoretische Erwartung, und in der Tat haben uns Patienten immer wieder präzise berichtet, dass während der Massage z. B. ihre depressiven Kognitionen zum Stillstand kamen.
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Empirische Studien
In der Klinik des bekannten Schweizer Psychiaters Paul Kielholz erhielten alle depressiven Patienten Nackenmassage, basierend auf der Dissertation und experimentellen Studie von Maurer-Groeli. Außerdem wurde als Indikator für einen Therapieerfolg die Wiedererwärmungszeit der Hände nach Kältebelastung gemessen [73]. Der klinische Psychologe Moyer und Mitarbeiter haben 2004 erstmals eine Metaanalyse der seinerzeit verfügbaren Publikationen zur antidepressiven und anxiolytischen Wirksamkeit von Massage vorgelegt und kamen zum Ergebnis, dass ihre Effektstärke derjenigen von Psychotherapie bei den berücksichtigten Indikationen entspricht [74]. Baumgart et al. [75] untersuchten nach strengen Kriterien ausgewählte und bis 2009 publizierte 22 RCTs an Patienten mit Depression oder Angststörungen. Es zeigte sich, dass die Validität publizierter Ergebnisse in neuerer Zeit deutlich zugenommen hat. Überwiegend ergab sich eine signifikante Überlegenheit von 30–60 Minuten dauernder Massage gegenüber den verschiedenen Kontrollbedingungen, wobei die Verschiedenheit der letzteren aus Sicht der Autoren der Durchführung einer Metaanalyse im Wege stand. In einigen Studien konnten auch Langzeitwirkungen wahrscheinlich gemacht werden, und insgesamt ergaben sich in Übereinstimmung mit Moyer et al. deutlichere Effekte bei depressiven Patienten als bei solchen mit einer Angsterkrankung.
Die Ergebnisse des ersten deutschen RCT an stationär-depressiven Patienten sowie an gesunden Probanden bewiesen eine eindeutige Überlegenheit der hierfür speziell entwickelten Slow-Stroke-Massage gegenüber einer Kontrollbedingung ohne Berührung und führten zur Zertifizierung dieser Technik durch den Verband für Physikalische Therapie [68] [76]. In neuester Zeit konnten Baumgart et al. eine überlegene analgetische und antidepressive Wirksamkeit der von ihnen entwickelten „psychoregulativen Massage“ bei Patienten mit psychosomatischen Rückenschmerzen eindrucksvoll belegen. Besonders bemerkenswert war die Nachhaltigkeit der Effekte über 3 Monate [77]. Auch Tiffany Field, Leiterin des Touch Research Institute in Miami (USA), hat schon frühzeitig in mehreren Studien die antidepressive und analgetische Wirkung von Massage unter Beweis stellen können [14]. Eine weitere kontrollierte Studie aus der Universität Würzburg an ambulanten depressiven Patienten ergab ebenfalls eine klare Überlegenheit der hier eingesetzten affektregulierenden Massage im Vergleich zu einem standardisierten Entspannungsverfahren [70].
Auch wenn aus methodischen Gründen derzeit noch manche Fragen offen bleiben [78] – beispielsweise nach der besten Kontrollbedingung in klinischen Studien – so ist dennoch ein Stand der empirischen berührungsmedizinischen Forschung erreicht, der eine Einführung dieser Behandlungsmöglichkeit an psychiatrischen oder psychosomatischen Kliniken unseres Erachtens rechtfertigt.
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Wirkungsmechanismen
„Massage ist eine kleine Psychotherapie“, schrieb Möller schon 1994 [79]. Gewiss gibt es nicht „den“ Wirkungsmechanismus der beschriebenen antidepressiven sowie analgetischen Effekte von Massage, die übrigens auch z. B. bei Tumorpatienten mehrfach nachgewiesen werden konnten [80] [81], sondern sie müssen auf verschiedenen Erklärungsebenen, sowohl der neurophysiologischen wie der psychologischen, aber auch auf der immunologischen Ebene diskutiert werden [69]. Einige davon sind bereits oben angeklungen. Sicher spielt in diesem Zusammenhang die Aktivierung der CT-Afferenzen und ihre Verbindung zum interozeptiven System eine wichtige Rolle. Jedoch gibt es auch wichtige hormonale Wirkungsfaktoren, von denen den oxytocinergen Effekten eine besondere Bedeutung zukommt. Verschiedene Wirkungen einer psychoaktiven Massage (engl. „Affective Touch“) sind mit hoher Wahrscheinlichkeit über das oxytocinerge System vermittelt; dies dürfte v. a. für die nachgewiesenen antidepressiven und analgetischen Effekte (s. o.) gelten [82] [83]. Deshalb soll im Nachstehenden auf das Oxytocin-System näher eingegangen werden.
Die zerebralen Oxytocin-Neurone haben ihren Ursprung im hypothalamischen Nucleus supraopticus und N. paraventricularis (NPV). Sie projizieren in die posteriore Hypophyse, von wo Oxytocin in die Blutzirkulation ausgeschüttet wird. Auf eine starke Stimulation hin setzen Dendrite und Kerne dieser Neurone auch Oxytocin intrazerebral frei [84]. Weiterhin projizieren spezielle oxytocinerge Neurone vom NPV ausgehend in verschiedene regulatorische Hirnareale, z. B. Locus caeruleus, periaquäduktales Höhlengrau, Raphe-Kerne etc., die wichtige autonom-regulatorische Funktionen haben [85]. Axonkollaterale der zur Hypophyse ziehenden Neurone erreichen auch Amygdala, Insula und Cortex [86] [87]. Dieses komplexe System führt durch Oxytocin-Freisetzung zu vielfältigen physiologischen Reaktionen: Im Vordergrund stehen dabei die Stimulierung prosozialen Verhaltens, die Minderung von Angst und Stressniveau, die Förderung von Ruhe und Wohlbefinden, analgetische und anti-inflammatorische Effekte, aber auch die Auslösung von regenerativen Prozessen [83].
Das Oxytocin-System wird in Teilen oder zur Gänze in verschiedenen Situationen aktiviert, z. B. ausgelöst durch unterschiedliche Arten sozialer Interaktion [82] [83] [88]. Dies kann auch unter somatosensorischer Stimulation wie etwa dem Geburtsvorgang [89] oder dem Stillen [90] beobachtet werden. Aber auch die Aktivierung kutaner Afferenzen, insbesondere durch sanftes Streicheln, stimuliert die Freisetzung von Oxytocin [91]. Der heutzutage gerne praktizierte enge Haut-zu-Haut-Kontakt zwischen Mutter und Neugeborenem, bei dem statischer Druck ausgeübt wird, resultiert in einer bemerkenswert starken Oxytocin-Freisetzung. Diese Beobachtung spricht für eine wichtige Rolle zusätzlicher Rezeptoren in der Haut für die Hormonreaktion [92].
Da sanfte Hautberührung beim Menschen eine Oxytocin-Ausschüttung bewirkt, mit nachfolgender Aktivierung serotonerger Raphe-Kerne sowie dopaminerger Neurone im Striatum und Nucleus accumbens, legt auch die neurowissenschaftliche Erklärungsebene nahe, dass z. B. sanfte Massagen die Stimmung positiv beeinflussen [93] [94]. Die Aktivierung des oxytocinergen Systems dürfte hierbei eine bedeutsame Rolle spielen [70] [82] [83] [95] [96].
Eine andere Erklärungsebene beruht auf dem Konstrukt der Interozeption. Interozeptionen umfassen alle Leibempfindungen, die sich auf den physiologischen Zustand des gesamten Körpers beziehen – also auch viszerale Sensationen und Reize von Thermo-, Chemo-, Nozizeptoren sowie niederschwellige Mechanorezeptoren des Berührungssystems, die CT-Afferenzen [97]. Hierbei nimmt die Insula eine zentrale Rolle bei der Integration aller Einzelempfindungen zu einem leiblichen Selbst („material me“) ein [98]. Abseits homöostatischer Regulationsmechanismen legen neuere Befunde einen Einfluss der Interozeption auf Affekt, Kognition und Verhalten nahe [16].
Die Interozeptions-Forschung liefert somit bedeutende Beiträge zur Pathogenese affektiver Störungen, beispielsweise durch Bestätigung zentraler Annahmen älterer Emotionstheorien. So postulierte William James gegen Ende des 19. Jahrhunderts, dass spezifische viszerale Veränderungen in Reaktion auf einen Stimulus eintreten, die ihrerseits als Emotion empfunden werden [99]. Entsprechend fanden wir im Rahmen einer systematischen Analyse Hinweise, dass insbesondere Patienten mit mittelschwerer Depression schlechte Herzwahrnehmer sind – also die Zahl ihrer Herzschläge innerhalb definierter Zeitintervalle gegenüber gesunden Kontrollen signifikant unterschätzen, was auf eine gedämpfte kardiale Interozeption hinweist. Diese Fähigkeit steht in einer komplexen Beziehung zu affektiven und kognitiven Symptomen der Depression, z. B. zu affektiver Verflachung oder Entscheidungsschwierigkeiten [100]. Maladaptive Aufmerksamkeitsstile gegenüber Interozeptionen, wie bspw. die Sorge über unangenehme Leibempfindungen, vermindertes Körpervertrauen und gestörte interozeptive Selbstregulationsmechanismen, stellen charakteristische Symptome der Depression dar, deren Veränderungen prädiktiv für den Behandlungserfolg einer stationären Therapie sind [101] [102].
Wenn also die Massagetherapie die depressionstypische Anhedonie zu unterlaufen vermag (s. o.), so kann vermutet werden, dass ihre klinischen Effekte über das interozeptive System vermittelt werden [71] [103]. Vorläufige Ergebnisse deuten darauf hin, dass interozeptive Zustände über die Haut beeinflussbar sind, z. B. eine durch sanfte Berührung vermittelte Erhöhung der Genauigkeit der Herzschlagwahrnehmung [104] [105]. Diese Befunde sind für die Behandlung affektiver Störungen von Bedeutung, da Depressionen mit einer verringerten Herzratenvariabilität einhergehen, die prädiktiv für kardiovaskuläre Ereignisse ist [106].
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Schlussfolgerungen
Die Wirksamkeit der Berührungstherapie kann innerhalb eines breiten Indikationsspektrums von der Neonatologie bis zur Geriatrie und Palliativmedizin, insbesondere auch im Bereich der Psychiatrie/Psychosomatik als ausreichend belegt angesehen werden, auch wenn weitere klinische Studien mit erhöhten methodischen Anforderungen wünschenswert sind [78]. Zum anderen begegnen die zugrunde liegenden Wirkmechanismen auf verschiedenen Konstruktebenen derzeit einem sehr aktiven internationalen Forschungsinteresse, insbesondere psychologischer, leider deutlich seltener medizinischer Arbeitsgruppen. Daraus ergeben sich für uns 2 Desiderata: Wirksamkeit und Praktikabilität solcher berührungsmedizinischer Behandlungsformen sollten nunmehr in größerem Umfang in Klinik und Praxis und auch mit Unterstützung der Krankenkassen auf ihre Wirksamkeit und Praxistauglichkeit erprobt werden. Auch im Bereich der Pflege sollten die bereits vorhandenen positiven Erfahrungen zur Wirksamkeit heilsamer Berührung, etwa bei Demenz [107], erweitert und durch geeignete Studien bekräftigt werden. Zweitens erscheint uns dringlich, dass auch im deutschsprachigen Raum die Berührungsforschung an einigen entsprechend ausgestatteten wissenschaftlichen Zentren mit Patientenzugang (vergleichbar mit dem US-amerikanischen Touch Research Institute) konzentriert und durch wissenschaftliche Gesellschaften gestützt wird.
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Die gemeinsame Entwicklung von Haut und Nervensystem aus dem Ektoderm ist Grundlage der engen Beziehung von Tastsinn und Psyche.
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Der phänomenologische Zugang zum Wesen der Depression als Leibkrankheit eröffnet ein neues Verständnis der antidepressiven Wirksamkeit von professioneller Berührungstherapie.
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Auf der neurobiologischen Ebene stehen derzeit oxytocinerge Mechanismen, die Stimulation spezifischer Hautrezeptoren und ihre Assoziation zu interozeptiven Prozessen im Vordergrund des Interesses.
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Die inzwischen gut belegte Wirksamkeit professioneller Berührungstherapie in den verschiedensten medizinischen Indikationen rechtfertigt die Gründung einer neuen Fachdisziplin „Berührungsmedizin“.
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Interessenkonflikte
BMOE, ME, HN, MG und KUM erklären, dass kein Interessenkonflikt besteht. GMK führt eine Privatpraxis für Körpertherapie und leitet Ausbildungsseminare für die von ihr entwickelte Massagemethode. MMA betreibt eine Privatpraxis für Berührungsmedizin.
Danksagung
Wir danken Herrn Prof. Dr. med. Dr. phil Thomas Fuchs, Universität Heidelberg, für die hilfreiche Durchsicht des Manuskripts.
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17. Dezember 2021
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