PiD - Psychotherapie im Dialog 2022; 23(03): 103-104
DOI: 10.1055/a-1686-1872
Resümee

Angststörungen

Ängste und Krankheitswert

Vielleicht gerade durch die vielen unplanbaren Einwirkungen, die wir alle gemeinsam miterdulden, wie Pandemie, Ukrainekrieg und Klimakrise, finden die Ängste einen wichtigen und richtigen Platz in der Mitte unserer Gesellschaft. Der Umgang mit Sorgen und Ängsten ist ein Alltagsthema geworden, das in Printmedien, Social Media und Talkshows aufgegriffen wird. Während sich viele Patient*innen wohl dadurch verstanden fühlen, mit Kim Basinger eine Agoraphobie, mit Justin Timberlake und Kim Kardashian eine Arachnophobie und mit Robert De Niro eine Zahnarztphobie zu teilen, so hat diese Art der Bespaßung der Gesellschaft immer auch einen etwas fahlen Nachgeschmack. Während sich in früheren Jahren die Promis im Dunst von Gauloise bleu in existenzielle Krisen stürzen durften und Kettenrauchen damals nicht primär als gesundheitsschädigend, sondern möglicherweise eher als Hinweis auf intellektuelle Tiefgründigkeit dargestellt wurde, so scheint heute keine Angst mehr speziell genug zu sein, um sich mit der eigene Craziness noch etwas deutlicher von der Masse der Normalität abheben zu dürfen – oh my gosh!

Das vorliegende Themenheft beleuchtet jedoch eine ganz andere Realität. Wie der Beitrag von Jacobi und Marchewka eindrücklich aufzeigt, gehören Angststörungen nach wie vor zu den am meisten verbreiteten psychischen Störungen. Der Beginn der Pandemie war für viele der Patient*innen ein Auslöser zur Entwicklung und Verschlechterung von Angstsymptomen, wobei das Erleben des Lockdowns gleichzeitig teilweise zu einem Herunterfahren und Perspektivenwechsel gezwungen hat. Die Gesellschaften zeigen sich durch das schnelle Reagieren auf die Stressfaktoren erstaunlich resilient, wie Teufel, Dinse und Skoda diskutieren. Schürmann-Vengels und Willutzki zeigen auf, dass sich die Auseinandersetzung mit Ängsten bis zu einem gewissen Grad auch zur Ressource entwickeln kann. Michael Ende hat die Mechanismen der Ängste mit der Metapher des Scheinriesen Turtur einprägsam beschrieben: Je weiter entfernt Turtur ist, desto größer scheint er. Kommt er zu uns und sprechen wir mit ihm, so weist er im Dialog den Weg aus der Wüste, in die wir uns flüchteten.

Angstbehandlung: der schmale Grat zwischen Ängste wegdrücken und einen Umgang mit ihnen finden

Mehrere Beiträge verweisen auf den multidimensionalen, biopsychosozialen Kontext moderner Angsttheorien. Menschen scheinen sich nicht an ihre Ängste zu gewöhnen, indem sie sie wegdrücken. Es wäre ein falsch verstandener, jedoch in unseren Supervisionen durchaus nicht unüblicher Umgang, Expositions- und Konfrontationsinterventionen dazu zu nutzen, dass die Patient*innen ihre Ängste „auszuhalten“ lernen (im Sinne: „Gehen Sie doch noch etwas in die U-Bahn üben, die Angst nicht hochkommen zu lassen.“). In keinem der Beiträge wird das Erlernen des emotionalen Wegdrückens (experiential avoidance) jedoch als Lösung zur Angstbewältigung dargestellt, sei es aus kognitiv-verhaltenstherapeutischer, psychodynamischer, systemischer oder humanistischer Sicht. Im Gegenteil: Es scheint ein erstaunlicher Konsens darüber zu bestehen, dass dieses Wegdrücken eine zentrale Rolle in der Aufrechterhaltung von Ängsten haben kann. So macht es aus dieser Perspektive denn auch wenig Sinn, Konfrontationstherapie beispielsweise mit Benzodiazepinen angenehmer machen zu wollen.

Damit zeigt sich eine nicht-triviale Herausforderung bei der Behandlung von Angststörungen: Wie stark dürfen und sollen wir Patient*innen konfrontieren? Ist es beispielsweise notwendig, auf die von Benecke und Henkel thematisierten möglichen strukturellen Schwächen von Patient*innen mit generalisierter Angststörung einzugehen? Was sind die damit verbundenen ethischen Kosten (z. B. unmittelbarer Eingriff in die Persönlichkeit und Identität der Person oder Aktivierung starker negativer Emotionen und damit verbundener psychologischer Schmerz) und was ist der mögliche Nutzen (mögliche Voraussetzung für den Behandlungserfolg)? Eine vergleichbare Diskussion ergibt sich bei Expositionstherapien in der kognitiven Verhaltenstherapie. Wir stellen fest, dass ein offener Umgang in der Information über mögliche Kosten und Nutzen bzw. kurzfristige und längerfristige Nebenwirkungen psychotherapeutischer Behandlung nach wie vor unzureichend systematisch implementiert ist.


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Medikamente bei Angststörungen?

Der Einsatz von Medikamenten bei Angststörungen wurde in der Gruppe der Mitherausgeber*innen äußerst kontrovers diskutiert. Während die aktuellen Leitlinien eine gewisse Ebenbürtigkeit des Einsatzes von Antidepressiva darstellen und in Anbetracht langer Psychotherapie-Wartezeiten eine medikamentöse Behandlung zumindest als Möglichkeit zur Überbrückung diskutieren, wird gleichzeitig beispielsweise auf die längerfristigen Nebenwirkungen beim Absetzen von Antidepressiva hingewiesen. Länger- und kurzfristige Kosten/Nutzen-Abwägungen sind einander sorgfältig gegenüberzustellen. Dahinter steht die Herausforderung, inwieweit wir den Patient*innen die Hoffnung auf eine schnelle medikamentöse Lösung, die zur längerfristigen Einnahme psychoaktiver Substanzen führen kann, als Behandlungsoption offenlassen wollen. Inwieweit helfen wir dabei, den psychologischen Schmerz zu lindern? Wie stark fördern wir damit den Glauben ans Wegdrücken als vermeintlich gute Lösung? In unseren ambulanten Praxen ist es nicht unüblich, dass die Angstpatient*innen in der Vorgeschichte medikamentös behandelt wurden. Es ist jedoch nicht so, dass Patient*innen in der aktuellen Gesundheitsversorgung zur medikamentösen Behandlung auf Biegen und Brechen gezwungen würden, sondern im Gegenteil, dass die Patient*innen diese durchaus auch aktiv suchen und finden. Dieselben Angstpatient*innen geben jedoch in der Mehrzahl im Verlauf einer (ambulanten) Psychotherapie das Absetzen der medikamentösen Behandlungen als explizites Therapieziel an.

Der Umgang mit Medikamenten scheint sich des Weiteren teilweise mit dem Verständnis der unterschiedlichen Berufsgruppen zu überlagern. Während etwas plakativ die Psychologischen Psychotherapeut*innen insgesamt recht froh sind, die Medikamentendiskussion in ihren Therapien nicht führen zu müssen, um sich so auf den psychotherapeutischen Auftrag konzentrieren zu können, wird die Frage unter den verschreibenden Vertretern deutlich heißer diskutiert. Wir antizipieren, dass diese Grundsatzdiskussion während der Implementierung des Weiterbildungsstudiengangs Psychotherapie in den nächsten Dekaden in Deutschland nochmals neu aufgegriffen und, basierend auf der zukünftigen Studienlage, differenziert diskutiert werden wird.

Christoph Flückiger
Henning Schauenburg
Volker Köllner


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Publication History

Article published online:
23 August 2022

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