physiopraxis 2021; 19(10): 32-35
DOI: 10.1055/a-1542-5795
Therapie

Erschöpft – Physiotherapie bei tumorassoziierter Fatigue

Jacqueline Gebauer
 

Tumorassoziierte Fatigue gehört zu den häufigsten Symptomen bei Menschen mit Krebs. Ihr Einfluss auf den Krankheitsverlauf ist enorm und ihre Erscheinung ist oft belastender als Schmerzen und Übelkeit. Die Gefahr: Tumorassoziierte Fatigue kann als dosislimitierende Nebenwirkung den Therapieerfolg gefährden. Deshalb ist es umso wichtiger, zu ermitteln, wie schwer sie ist.


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Erschöpfung, Abgeschlagenheit, Antriebslosigkeit – Patient*innen, die gerade eine Tumortherapie durch­machen, kennen diese Symptome nur zu gut. Tumorassoziierte Fatigue nennt sich dieser Zustand andauernder Müdigkeit ohne vorhergehende Belastung. Ist man davon betroffen, steht eine ganzheitliche Behandlung an erster Stelle. In der Physiotherapie gilt es zunächst herauszufinden, wie ausgeprägt die Müdigkeit der Patient*innen ist. Dafür dienen zahlreiche Assessments bzw. Selbsteinschätzungsbögen ([TAb], S. 34). Nur so können Therapierende die körperliche ­Aktivität individuell anpassen. Anschließend stehen ein individuell angepasstes Ausdauertraining, Krafttraining und Maßnahmen wie Yoga oder Qi Gong im Vordergrund. Patient*innen ausreichend aufzuklären erhöht dabei entscheidend den Therapieerfolg. Absolute Kontraindikationen hingegen gibt es in der onkologischen Therapie nicht. Patient*innen sollten generell nicht überfordert werden, da dies die Fatigue verstärken könnte.

Physische und emotionale Erschöpfung

Von tumorassoziierter Fatigue spricht man immer dann, wenn die Müdigkeit in Zusammenhang mit einer Krebserkrankung oder deren Therapie auftritt. Expert*innen zufolge zeigt sich bei bis zu 90 Prozent der Patient*innen, die sich in einer Chemotherapie befinden, und bei bis zu 93 Prozent der Patient*innen in einer Radiotherapie diese bleierne Müdigkeit (engl.: Cancer-related Fatigue, CrF) [1], [2]. Im Jahr 2000 definierte Gregory Curt sie als „signifikante Müdigkeit, erschöpfte Kraftreserve oder erhöhtes Ruhebedürfnis, disproportional zu allen kürzlich vorangegangenen Anstrengungen“ [3]. Doch es gibt auch frühere Definitionen. Schon 1998 stellten der Mediziner Dr. David Cella und sein Team bestimmte Kriterien für die tumorbedingte Fatigue auf, darunter das folgende [4]: „deutliche Müdigkeit, Energieverlust oder verstärktes Ruhebedürfnis, das in keinem Verhältnis zu aktuellen Veränderungen des Aktivitätsniveaus steht [5]“. Dabei ist zu beachten: Der Begriff, der ursprünglich aus dem Lateinischen stammt (fatigatio = Ermüdung), beschränkt sich nicht nur auf die physische Leistungsfähigkeit. Auch auf geistiger und emotionaler Ebene kann es bei Patient*innen zu einem Erschöpfungszustand kommen. Man sollte sie daher immer auf allen drei Ebenen untersuchen und andere Krankheitsbilder, die ähnliche Symptome hervorrufen, ausschließen (zum Beispiel mit der Hospital Anxiety and Depression Scale, HADS) [5]–[7].

90 % aller Patient*innen mit Krebs, die sich in einer Chemotherapie befinden, sind dauerhaft müde und erschöpft. Auch Ruhe und Schlaf bringen oft keine Besserung.

TAB. Übersicht über verschiedene Fatigue-Assessments, die in deutscher Übersetzung vorliegen

Assessment

Aufbau

Inhalte

Brief Fatigue lnventory (BFI)

bit.ly/BFI_deutscheVersion

10 ltems, eine Dimension

Auswertung:

1–3 mild, 4–6 moderat, 7–10 stark

physische Fatigue

Zeitraum: heutiger und gestriger Tag

Zeit: 5 Minuten

Fatigue Functional Impact Scale (FFIS)

bit.ly/FFIS_Fatigue

8 ltems, 10-Punkte-Likert-Skala

Auswertung:

Je höher die Punkte, desto stärker die Fatigue.

physische und mentale Fatigue

Zeitraum: letzter Monat

Zeit: 2–3 Minuten

Wu Cancer Fatigue Scale (WCFS)

bit.ly/CRF_Fatigue

16 ltems, 5-Punkte-Likert-Skala

Auswertung:

Je höher die Punkte, desto stärker die Fatigue.

kognitive, physische und emotionale Fatigue

Zeitraum: letzter Tag

Zeit: 2–3 Minuten

Multidimensional Fatigue Symptom lnventory – Short Form (MFSI-SF)

bit.ly/MFSI-SF_Fatigue

30 ltems, 5-Punkte-Likert-Skala

Auswertung:

Je höher die Punkte, je stärker die Fatigue.

kognitive, physische und affektive Fatigue

Zeitraum: letzte 7 Tage

Zeit: 5 Minuten

Revised Piper Fatigue Self-Report Scale (PFS)

bit.ly/PFS_Fatigue

22 ltems NRS-Skala

Auswertung:

0 keine Fatigue, 1–3 mild, 4–6 moderat, 7–10 stark

zeitliche, sensorische, affektive und kognitive Fatigue

Zeitraum: Momentaufnahme

Zeit: 5 Minuten

Fatigue Severity Scale (FSS)

bit.ly/FSS_Fatigue

9 ltems, 5-Punkte-Likert-Skala

Auswertung:

Mittelwert höher als 4 gilt als erhöhte Fatigue.

Schwere der Fatigue, Distress und ADL

Zeitraum: letzte 7 Tage

Zeit: 3–8 Minuten

European Organization for Research and Treatment Quality of Life Questionnaire Fatigue Scale (EORTC QLQ-C30)

bit.ly/EORTCQLQ-C30_Fatigue

9 Multi-Item-Skalen

Auswertung:

Die 5 Funktionsbereiche sind so auszuwerten, dass eine höhere Punktzahl ein besseres Funktionsniveau darstellt.

Für die symptombezogenen Fragen gilt ein höherer Wert für mehr Symptome.

physisch, rollenbehaftet, kognitiv, emotional und sozial, Müdigkeit, Schmerzen und Übelkeit und Erbrechen, Gesundheit und Lebensqualität. Mehrere Einzelpunkt-Symptommaßnahmen sind ebenfalls enthalten.

Zeitraum: während der letzten Woche

Zeit: 11–12 Minuten


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Ursachen sind vielfältig

Die Ursachen der tumorassoziierten Fatigue sind multifaktoriell. Der Krebs selbst beeinflusst viele Prozesse im Körper, darunter den Stoffwechsel und hormonelle Regelkreise, und auch das Immunsystem leidet unter dem Tumorwachstum. Zudem kann die Tumortherapie selbst, also Maßnahmen wie die medikamentöse Therapie, die Chemo- oder Radiotherapie, eine Fatigue auslösen oder verstärken [2]. Hinzu kommen die genetische Disposition, begleitende somatische oder psychische Erkrankungen und verhaltens- oder umweltbedingte Faktoren. Daraus ergibt sich eine breite Palette möglicher Ursachen und Einflussfaktoren.


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Art und Ausprägung der Beschwerden schwanken

Im Alltag zeigt sich die Fatigue auf unterschiedliche Weise. Patient*innen fühlen sich oft schwach, erschöpft, müde und ausgelaugt. Andere haben müde Beine und Arme oder sie haben Mühe, sich zu konzentrieren [2]. Fatigue hat viele Gesichter und macht es Erkrankten umso schwerer, damit umzugehen. Verlässliche Labor- und Funktionstests, die Fatigue messbar machen, gibt es keine. Ein Selbsteinschätzungsfragebogen scheint die sinnvollste Methode zu sein, Fatigue zu erfassen [8]. Nutzen können ihn neben Therapeut*innen auch Ärzt*innen. Dabei gibt es viele unterschiedliche Bögen, die in verschiedene Bereiche gegliedert sind und verschiedene Dimensionen beinhalten. So gibt es beispielsweise Fragebögen für Patient*innen, die sich in einem frühen Stadium ihrer Krebserkrankung befinden, und solche, die sich an Patient*innen mit fortgeschrittener Krebserkrankung richten.

Ein Expertenteam veröffentlichte 2011 eine Übersichtsarbeit über 40 verschiedene Fragebögen für Patient*innen mit tumorassoziierter Fatigue [9]. Die Frage, welches Instrument die Fatigue am besten erfasst, konnten sie nicht abschließend klären. Doch am Ende stand die Empfehlung: Der „Brief Fatigue Inventory (BFI)“ und drei ltems aus der „European Organization for Research and Treatment of Cancer Quality of Life Questionnaire Fatigue Scale (EORTC QLQ-C30)“ scheinen zwei optimale Assessments für Patient*innen mit fortgeschrittenem Krebsleiden zu sein.


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BFI und FSS sind praktikabel

Welchen Fragebogen man in der Praxis verwendet, hängt auch von den Patient*innen selbst ab. Viele der Bögen beinhalten mehr als 10 Fragen. Für manche mit ausgeprägter Fatigue kann dies zu umfangreich sein. Zwei Fragebögen, der „Brief Fatigue lnventory (BFI)“ und die „Fatigue Severity Scale (FSS)“, haben sich im Alltag bewährt ([TAB]). Der BFI beinhaltet 10 Fragen, der FSS lediglich 9, beide sind innerhalb weniger Minuten ausgefüllt [10]. Bei der FSS können Patient*innen die 9 ltems nach dem Schema „1 = trifft nicht zu“ bis „7 = trifft voll zu“ beantworten. Die Antworten beziehen sich dabei immer auf die letzte Woche. Die FSS wurde bereits 1989 von der Neurologin Lauren B. Krupp entwickelt. Sie diente der Diagnostik bei Patient*innen mit Multipler Sklerose und systemischem Lupus erythematodes (SLE). Mittlerweile wird er aber auch in anderen Fachbereichen wie in der Pneumologie und in der Onkologie eingesetzt. Aus dem Fragebogen der FSS ergibt sich ein Mittelwert, der die Schwere der Fatigue angibt. Ab einem Wert von 5 ist eine Fatigue vorhanden [10].

Beim BFI beziehen sich die ersten Fragen auf die Fatigue in den letzten 24 Stunden. Die folgenden Fragen beziehen sich unter anderem auf die allgemeine Aktivität, die Gehfähigkeit und die Stimmung. Das erste Item wird mit Ja/Nein beantwortet. Die weiteren 9 Items werden auf einer numerischen Skala von 0–10 bewertet. Je höher der Wert, desto intensiver die Fatigue. Der BFI wurde in den USA entwickelt, ist aber in deutscher Sprache erhältlich [11].


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Fragebögen regelmäßig wiederholen

Falls Patient*innen die Fragen kognitiv nicht ausreichend erfassen können oder ihr Allgemeinzustand es nicht zulässt, die Fragen zu beantworten, kann es auch sinnvoll sein, die klassische numerische Ratingskala (NRS) oder die visuelle Analogskala (VAS) zur Hand zu nehmen, wobei 10 eine sehr ausgeprägte Fatigue und 0 keine Fatigue beschreibt [10]. Die tumorassoziierte Fatigue wird mit diesen Assessments konkreter und kann Physiotherapeut*innen erste Anhaltspunkte geben, wie stark die Müdigkeit ausgeprägt ist. So lassen sich die Angaben miteinander vergleichen und kleinste Verbesserungen darstellen [12]. Der Therapieerfolg wird Patient*innen so deutlicher. Das kann motivierend sein und die Compliance stärken. Es ist ratsam, ein ausgewähltes Assessment in regelmäßigen Abständen erneut durchzuführen. In der Rehabilitation ist es sinnvoll, den gewählten Fragebogen bei Eintritt und bei Austritt durchzuführen. Sind Patient*innen zum Beispiel drei Wochen in der Rehabilitation, so hat man einen Zeitraum, in dem sich die Fatigue der Patient*innen sehr häufig schon merkbar bessert. Anschließend kann man den Fragebogen beispielsweise drei Monate später wiederholen. Sehr oft sieht man dann nochmals eine deutliche Besserung. Das kann für den Patienten bzw. die Patientin sehr motivierend sein.


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Moderates Ausdauertraining, Yoga und Qi Gong

Aufgrund der multifaktoriellen Ursachen, die zu einer Fatigue führen, sollte auch die Therapie auf mehreren Ebenen stattfinden [13]. Das Deutsche Krebsforschungszentrum (DKFZ) rät Patient*innen zu einer ausgewogenen Ernährung, einer guten Schlafhygiene, Entspannungsübungen, einer unterstützenden medikamentösen Therapie und zu psychoonkologischer und psychosozialer Unterstützung. Darüber hinaus raten Expert*innen zu angepasster körperlicher Aktivität [14]. Mittlerweile gibt es zahlreiche Untersuchungen, die eine positive Wirkung von körperlicher Aktivität auf die Fatigue gezeigt haben. Ein moderates Ausdauertraining wie Nordic Walking und Spaziergänge sind sehr erfolgversprechend und können die Fatigue deutlich reduzieren. Die Lebensqualuität verbessert sich, und das Training hat einen positiven Effekt auf die Psyche, stärkt Lungenfunktion und Immunsystem [15].

Aber auch komplementärmedizinische Behandlungsverfahren haben ihren Platz in der Behandlung. CAM Cancer, ein Teil des Programms vom norwegischen Nationalen Forschungszentrum für Komplementär- und Alternativmedizin (NAFKAM) informiert regelmäßig über den aktuellen Forschungsstand in der Komplementärmedizin [16], [17]. Unter anderem finden sich hier mehrere Untersuchungen, die aufzeigen, dass Yoga und Qi Gong die Fatigue signifikant reduzieren und die Lebensqualität verbessern können [18]–[20].


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Patient*innen gut aufklären

Ist die Fatigue sehr ausgeprägt und schränkt das tägliche Leben ein, ist die Verzweiflung oft groß. Patient*innen fragen sich, woher die ausgeprägte Müdigkeit kommt, und sind verunsichert, wie sie mit den unterschiedlichen Symptomen umzugehen haben. Daher ist es neben den oben beschriebenen Therapieansätzen wichtig, aufzuklären [18]. Hier geht es nicht nur darum, Wissen zu vermitteln, sondern vielmehr darum, die Handlungskompetenz zu steigern. Aufgeklärte Patient*innen haben die Möglichkeit, ihr Verhalten langfristig zu ändern und wieder mehr Lebensqualität zu erreichen [21], [22].

Mithilfe verschiedener Assessments lässt sich die Schwere der Fatigue genauer einschätzen.


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Krebserkrankungen nehmen weiter zu

Die Physiotherapie spielt eine wichtige Rolle in der Betreuung von Patient*innen mit einer Krebserkrankung. Vor allem in der Rehabilitation, die häufig im Anschluss an eine chirurgische Intervention stattfindet, sind Therapierende täglich gefragt. Neben den physiotherapeutischen Maßnahmen sind sie Ansprechpartner*innen und Begleiter*innen in dieser schweren Zeit. Dass Physiotherapie auch in Zukunft eine immer größer werdende Rolle einnehmen wird, zeigen folgende Zahlen: 2020 belief sich die Zahl der Krebserkrankungen auf circa 19,3 Millionen. Bis 2040 schätzt man, dass die Zahl auf bis zu 30,2 Millionen steigt [23].


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Autorin

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Jacqueline Gebauer, BSc, ist Physiotherapeutin und Yogalehrerin. Sie arbeitet in einer privaten Rehabilitationsklinik am Bodensee (Schweiz) und ist dort für den Fachbereich Onkologie/Innere Medizin zuständig.


Publication History

Article published online:
18 October 2021

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