Kinder- und Jugendmedizin 2021; 21(04): 233-234
DOI: 10.1055/a-1531-3643
Zu diesem Heft

Kinder- und Jugendmedizin

Robert Wagner
Kinderärzte in eigener Praxis Gastschriftleiter
,
Marcus Langhammer
Kinderärzte in eigener Praxis Gastschriftleiter
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Pädiatrie im Alltag – gemeinsam sind wir stärker!

Was verbirgt sich hinter „Pädiatrie im Alltag“?

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Dr. med. Robert Wagner
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Dr. med. Marcus Langhammer

Die meisten Ärzte aus dem stationären Bereich kennen und leben eine evidenzbasierte, leitliniengerechte Schulmedizin. Wir sind uns sicher, auch die meisten niedergelassenen Kinderärzte werden sich an ihre Arbeit im Krankenhaus während ihrer Facharztausbildung erinnern. Sicher werden sich viele auch noch an den Anfang ihrer niedergelassenen Tätigkeit erinnern: Da ist auf einmal mehr Zeit für Entscheidungen. Es geht nicht, wie früher auf der Intensivstation, plötzlich um „Leben und Tod“ und blitzartig müssen Algorithmen ablaufen. Die Auswahl der diagnostischen Möglichkeiten ist deutlich begrenzter und das Ergebnis von verordneten Untersuchungen ist in der Regel erst weitaus später zu erwarten. Zum Fragen oder gemeinsamen „Nachdenken“ ist in der akuten Situation oft niemand da. Die Fragen und Fragestellungen sind auf einmal ganz andere und wir bewegen uns plötzlich in Gebieten, die so in der Klinik und Ausbildung gar keinen Platz hatten – Entwicklung und deren Veränderungen und Therapien, Verhaltensauffälligkeiten, Erziehung/Beziehung/Interaktion, Gesprächsführung, soziale und emotionale Probleme – um nur einige zu nennen. Und auf einmal sind wir auch das „letzte Glied“ in der Kette, müssen selbst hinschauen, uns Gedanken machen und können nicht mal eben in den Entlassungsbrief schreiben: „Kontrolle beim Kinderarzt“ – denn das sind ja wir. Dafür erleben wir auch täglich tiefer werdende Beziehungen. Wir lernen die Kinder, Familien, Gedanken, Umstände, Entwicklungen, Prozesse etc. über Jahre mehr und besser kennen und dürfen an bestimmten und wichtigen Lebensstationen teilnehmen – erstes Laufen, erste Worte, Kindergarten, Einschulung, Hochzeit der Eltern, aber auch Trennung, Krisen, Drama und Trauma sowie Verluste und vieles andere. Neben evidenzbasierter Hochschulmedizin sind hier täglich ganz andere „Skills“ gefordert und würden sich niemals in Algorithmen oder Leitlinien abbilden lassen. Die Variable „Mensch“ oder Eigenschaften wie Empathie, Wertungsfreiheit und Achtsamkeit lassen sich nicht in ein Flussschema oder in eine Handlungsempfehlung „pressen“. Dazu kommt, dass wir die Fülle der täglich auf uns eintreffenden Bereiche, wie die Gesamtheit der kindlichen Entwicklung, das Verhalten, die Familie mit ihren Beziehungen untereinander, und viele andere Facetten, insbesondere auch vor der Menge der Patienten, nicht mit bester Qualität und im Einklang mit einem strategischen Umgang unserer eigenen Ressourcen vollkommen allein versorgen können. Das ist eine Illusion. Wir brauchen dafür eine kompetente und qualitativ hochwertige Zusammenarbeit auf Augenhöhe mit anderen Fachbereichen, wie Physio-/Ergotherapie, Logopädie, pädagogischen und sozialen Bereichen, Psychotherapeuten und der Kinder- und Jugendhilfe – um nur einige Beispiele zu nennen. Wir freuen uns daher ganz besonders über die Beiträge von wertvollen Netzwerkpartnern in diesem Heft.

Zunächst stellt die Koordinatorin der Leipziger Familienhebammen Katrin Schaup einen aufsuchenden und kostenlosen Dienst vor allem für die erste Zeit im Leben der kleinen Kinder und ihrer Familien vor. Im Anschluss berichtet Yunus Gün als Kinderphysiotherapeut & Kinderosteopath über seine Arbeit mit Entwicklungsschritten und Bewegungsmustern und die alltägliche Kontroverse zur Osteopathie. Danach informiert die erfahrene Logopädin Dorit Schulze über spezielle logopädische Fragestellungen und Probleme bei Kindern und die gemeinsame Arbeit mit Kinderärzten. Robert Wagner stellt als Co-Gastschriftleiter und erfahrener Kinderkardiologe die Entwicklungen in seinem Fachgebiet vor. Der Wandel vom Ziel des „reinen Überlebens“ zum Ziel des „qualitativ hochwertigen Lebens“ steht dabei im Focus. Im anschließenden Artikel blickt Sabine Hussack auf sehr interessante und umfassende Weise aus verschiedenen Blickwinkeln auf die tägliche Pädiatrie. Die Leiterin einer Familienberatungsstelle in Leipzig, Sylvia Will, schreibt über ihre tägliche Arbeit und den oftmals stigmatisierten Zugang zum Psychotherapeuten oder Psychiater.

Anschließend berichten Annegret Weiß und Sebastian Funke über die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen in Trennungsprozessen („KiT“). Abschließend schildert Uwe Reißig als Psychologe, systemischer Therapeut und Familienaufsteller eine ganz andere Sichtweise auf Krankheiten und deren Symptome. Neben der Frage: „Was ist?“ geht es hier vor allem um die Frage: „Warum ist es?“.

Wir sind uns durchaus des ungewöhnlichen „Formats“ dieser Ausgabe bewusst. Unser Anliegen ist es jedoch aus dem Alltag des niedergelassenen Kinderarztes zu berichten – einem Alltag, in dem das Leben manchmal Fragen aufwirft, auf die es keine evidenzbasierten Antworten gibt.

Im Sinne der uns anvertrauten Kinder sollten wir daher unsere Haltung für Helfer(-systeme) und Angebote öffnen und uns nicht kategorisch (noch) nicht messbaren, nicht evidenzbasierten Methoden und Sichtweisen verschließen. Wir sollten skeptisch, aber offen sein. Vielleicht sind eben nicht alle Dinge messbar, die trotzdem funktionieren. Der bei Erkältungen oft empfohlene „Zwiebelsaft mit Honig“ zusammen mit liebevollen Berührungen der Eltern hat auch keine Evidenz und wir wissen dennoch alle aus unserer Kindheit und unserem tiefsten Herzen, dass es hilft. Nebenbei ersparen wir dem Gesundheitssystem viel Geld für Hustensaft, stärken die Selbstwirksamkeit der Eltern und die Liebe innerhalb der Familie. Lassen Sie uns in diesem Sinne für die Kinder offen sein für Neues und Anderes sowie gemeinsam denken, diskutieren und handeln – denn gemeinsam sind wir stärker. Pädiatrie im (niedergelassenen) Alltag ist eben anders als in der Klinik – und das ist gut so, denn es deckt neben dem klinischen Bereich einen weiteren wichtigen Teil des Lebens der Kinder und ihrer Familien ab.


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Article published online:
19 August 2021

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