Psychiatr Prax 2021; 48(06): 287-288
DOI: 10.1055/a-1529-8524
Debatte: Pro & Kontra

Telematikinfrastruktur und elektronische Patientenakte – Chance oder Risiko für Menschen mit psychischen Erkrankungen? – Kontra

Telematic Infrastructure and Electronic Patient Record (ePA) - Opportunity or Risk for People with Mental Illness? – Contra
Andreas Meißner
 

Im Januar ist in Deutschland die elektronische Patientenakte (ePA) gestartet. Die Daten von potenziell 73 Millionen Versicherten werden dafür zentral auf Servern privater Firmen wie IBM gespeichert werden, die die Akte für die Krankenkassen entwickeln.

Etwa 90 % der ärztlichen und psychotherapeutischen Praxen – Kliniken bisher zu einem deutlich geringeren Anteil – sind schon an die für den Betrieb der ePA nötige Vernetzungstechnik, die Telematikinfrastruktur (TI), angeschlossen. Sie haben dies vor allem unter dem Sanktionsdruck eines sonst drohenden Honorarabzugs vollzogen. Weiter jedoch zweifeln die meisten Kollegen, darunter viele Psychiater, Nervenärzte und Psychotherapeuten, am grundsätzlichen Nutzen von TI und ePA und sorgen sich um die Schweigepflicht sowie die Sicherheit der sensiblen Daten.

Zahlreiche Datenpannen

So werden derzeit Tausende finnische Psychotherapiepatienten mit ihren gehackten Daten erpresst, die ebenso zentral auf Servern gespeichert waren. Cyberattacken gab es in den vergangenen Jahren auch millionenfach auf Patientenakten in den USA, in Norwegen oder Singapur. Über gehackte Behörden, Regierungen und Unternehmen kann man nahezu täglich lesen. 100 %ige Sicherheit gibt es daher nicht, schon gar nicht für eine nötige lebenslange Speicherung dieser hochsensiblen Daten, wofür Experten bisher keine Lösung anbieten können.

Genau hier setzt unsere Sorge an. Während wir Patientenakten dezentral in den Praxen, ob auf Papier oder elektronisch, sicher verwahren können, ist die zentrale Datenspeicherung technisch für Arzt und Patient unüberschaubar. Auch können Zugriffsrechte nachträglich geändert werden, wie 2019 durch das Digitale-Versorgung-Gesetz (DVG) für die quartalsweisen Abrechnungsdaten geschehen. Sie werden nun an ein staatliches Forschungsdatenzentrum weitergeleitet, Patienten können dem nicht widersprechen. Auch die stets betonte Freiwilligkeit der ePA für Patienten wird mittlerweile durch ein Gutachten des Sachverständigenrats in der Medizin infrage gestellt, der die automatische ePA-Einrichtung für Bürger ab Geburt sowie bei Zuzug ins Land fordert. Vertrauen fördert all dies nicht, weder bei Behandelnden noch bei Patienten.

Weiterhin gibt es jedoch keine öffentliche Diskussion zu dem großen Datenprojekt der ePA, die von Praxisbesuchern meist abgelehnt und nicht nachgefragt wird. Schwer depressiven oder latent paranoiden Menschen ist diese unüberschaubare Datenverwendung sowieso kaum zu vermitteln. Zu befürchten ist daher auch, dass Patienten aus Sorge vor der Datenspeicherung sich weniger öffnen und darunter die Behandlungsqualität leiden könnte. Das e-Rezept wiederum, verplichtend ab 2022 zu verwenden, und die e-AU gehen ebenso an der Lebenswirklichkeit unserer oft nicht technikaffinen Patienten vorbei. Viele kontrollieren akribisch das gerade erhaltene Papier, was für uns auch eine Qualitätssicherung darstellt. Zudem ist Eigenverantwortung durchaus wünschenswert, etwa bei der Weitersendung der AU-Durchschläge an Kasse und Arbeitgeber.


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Mangelnde Vorteile der elektronischen Patientenakte

Vorteile der ePA für unsere Patienten sind kaum zu sehen. Ihre sensiblen Krankheitsberichte wollen sie zumeist nicht zentral gespeichert wissen, ebenso wenig eine zukünftig wohl standardisiert erforderliche Online-Behandlungsdokumentation. Im lebensbedrohlichen Notfall wird nach festen Ablaufplänen gehandelt, ohne Zeit, hier noch PIN und Passwort einzugeben. Eine Notfallmappe, wie vom VdK Bayreuth ausgegeben [1], wäre da hilfreicher. Wechselwirkungen wiederum können längst in Datenbanken wie psiac.de geprüft werden. Doppeluntersuchungen, die durch die ePA eingespart werden sollen, fallen kaum ins Gewicht [2]. Zumal so manche Klinik selbst nochmals vor der OP die nötigen Untersuchungen macht, und Patienten gerne eine Zweitmeinung einholen, wofür sie öfter die Erstmeinung in der ePA verbergen werden.

Sie sollen ja zu Recht Herr ihrer Daten sein, können damit aber entscheiden, was sie abspeichern lassen und was nicht, und wer darauf Zugriff hat. Somit wird die ePA zwangsläufig unvollständig bleiben. Und Röntgen- wie Kernspinbilder sind nur im pdf-Format speicherbar – allein aus Haftungsgründen werden Patienten weiterhin Originalaufnahmen mitbringen müssen. Für eine ebenso geplante ePA-Speicherung von Daten der Genomsequenzierung, die laut Gesundheitsminister in der Regelversorgung ankommen soll, ist keine Notwendigkeit erkennbar.


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Andere Erfordernisse im Gesundheitswesen

„Hohe Kosten, durchschnittliche Ergebnisse“, stellt eine aktuelle Studie der Europäischen Kommission für das deutsche Gesundheitswesen fest [3]. Diese Tendenz wird durch TI und ePA verstärkt. Über fünf Milliarden Euro, die dafür bereits an Versichertengeldern investiert wurden, wären besser für den Pflegeberuf investiert gewesen – das ist die eigentliche Lehre aus der Coronapandemie! Zudem ist weiter der Sozialstatus ausschlaggebend für den Gesundheitszustand [4]. Daran wird auch die ePA nichts ändern. Für chronische Volkskrankheiten wiederum wie Diabetes, Rückenschmerzen oder Depressionen gibt es zudem längst gute Behandlungskonzepte, sodass wir hier keine Big-Data-Forschung brauchen, die zudem in einem dann vergrößerten Heuhaufen die sprichwörtliche Nadel finden muss [5].

Um wiederum zur Behandlung sowie zu verhaltensbedingten Risikofaktoren (schlechte Ernährung, Nikotin-, Alkoholkonsum, zu wenig Bewegung) zu beraten, braucht es eine vertrauensvolle Beziehung zwischen Arzt und Patient, die dann auch die Akzeptanz vorgeschlagener Therapiemaßnahmen sowie die psychotherapeutische Wirksamkeit fördert. Bei voranschreitender Technisierung wird dies jedoch weiter ins Hintertreffen geraten [6]. Mit ePA, eAU, e-Rezept und Videosprechstunde steuern wir auf eine Call-Center-Medizin zu, wie auch von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung befürchtet [7]. Wohnortnahe Einzelpraxen werden sich zudem steigende Kosten durch IT und TI, durch Haftpflichtprämien, nötige Cyberversicherungen und juristischen Beistand kaum mehr leisten können – MVZs und andere Behandlungszentren jedoch eher, mit hier jedoch oft wechselnden ärztlichen Ansprechpartnern, dies dann zum Nachteil vieler Patienten.

Andere kritische Aspekte seien hier nur angedeutet, so etwa das juristische Dilemma zwischen Anschlusszwang an die TI und Datenschutzvorgaben, unklare Zuständigkeiten bei einer TI-Störung wie zuletzt 2020 über Wochen hinweg, zudem durch die Technik verzögerte Abläufe in den Praxen, eine aus den USA schon berichtete Burnout-Häufung bei Ärzten durch digitalisierungsbedingte Mehrarbeit [8] sowie Pläne für einen Ersatz von Konnektor und e-Cards beim TI-Betrieb durch rein digitale Identitäten, wodurch laut IT-Experten die Sicherheit nochmals reduziert wird. Oft beschworene Chancen ergeben sich somit weniger für eine Verbesserung der Patientenversorgung, sondern vielmehr für IT-Firmen, Konzerne der Plattform-Medizin, e-Health-Unternehmen und Krankenkassen. Leider ist dies offenbar politisch gewollt.


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Autorinnen/Autoren

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Andreas Meißner

Interessenkonflikt

Der Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.


Korrespondenzadresse

Dr. Andreas Meißner, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie; Sprecher des Bündnisses für Datenschutz und Schweigepflicht (BfDS)
Tegernseer Landstraße 49
81541 München
Deutschland   

Publikationsverlauf

Artikel online veröffentlicht:
07. September 2021

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