physiopraxis 2021; 19(02): 60-62
DOI: 10.1055/a-1330-4318
Perspektiven

Würden Sie einen behinderten Kollegen einstellen? – Mitarbeiter mit Behinderungen

Anna von Eisenhart Rothe
 

Auch Mitarbeiter können von physischen oder psychischen Einschränkungen betroffen sein. Wie gehen wir Therapeuten dann mit unseren Angestellten und Kollegen um?


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Anna von Eisenhart Rothe ist Physiotherapeutin B. Sc., Ökonomin mit Schwerpunkt Master Human Ressources und Wirtschaftsmediatorin. Sie lehrt in diversen Masterstudiengängen Personal, Controlling, Management und Marketing und ist Personalleiterin in einem Inklusionsunternehmen.

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Zwei Seiten einer Medaille: Als Patient (links) ist er willkommen, als Mitarbeiter (rechts) verursacht er bestimmt Probleme – Menschen mit Behinderung werden gerade von uns Therapeuten mit verschiedenen Augen gesehen. © Thieme Group/S. Schaaf

Wir Therapeuten sind für Menschen mit Behinderung häufig sehr wichtige Bezugspersonen. Wir begleiten sie über Jahre hinweg, behandeln und beraten sie bezüglich häuslicher Hilfsmittel, Arbeitsplatzgestaltung, Lebensgestaltung und vielem mehr. In manchen Fällen wissen wir gar nicht, ob unsere Patienten einen „Grad der Behinderung“ (GdB) beantragt haben oder nicht. Wir wissen oft auch nicht, welche zusätzlichen beruflichen Herausforderungen für die Betroffenen hinzukommen: Hürden in ihrem Arbeitsalltag, die nicht direkt mit der physischen oder psychischen Behinderung verbunden sind; sekundäre Problemstellungen wie Angst vor Arbeitsplatzverlust, Verschweigen der Einschränkung aus Furcht vor Stigmatisierung, Kostenerstattungsprobleme bei den Krankenkassen, Antragsprobleme bei Inklusionsämtern und vieles mehr.

Und wie agieren und empfinden wir, wenn nicht unsere Patienten, sondern unsere Kollegen von Behinderung betroffen sind? Fragen wir bei ihnen nach? Interessiert es uns, auf wie vielen Ebenen sich deren Leben durch eine Einschränkung verändert? Verhalten wir uns ihnen gegenüber genauso empathisch, rücksichtsvoll und an der Optimierung ihrer Arbeitsbedingungen interessiert wie bei unseren Patienten? Vertreten wir genauso die fachlich fundierte Meinung, dass Belastung und Regeneration in einem ausgewogenen Verhältnis stehen sollten? Ist ihre Unterstützung für uns selbstverständlich? Für Arbeitgeber sind Menschen mit irreversibler Behinderung eine stabile Einkommensquelle und ein verlässliches Umsatzpotenzial. Mitarbeiter mit Behinderung sind ein Kostenfaktor.

Patienten mit Behinderung sind eine Einkommensquelle. Mitarbeiter mit Behinderung sind ein Kostenfaktor.

Das sagt das Gesetz

Gesetzlich geregelt ist, dass Unternehmen mit jahresdurchschnittlich mehr als 20 Arbeitsplätzen wenigstens fünf Prozent der Arbeitsplätze mit Schwerbehinderten besetzen müssen, bei 20 Beschäftigten ist das also genau eine Stelle. Dabei sind schwerbehinderte Frauen besonders zu berücksichtigen. Nicht als Arbeitsplätze zu zählen sind Auszubildende und Arbeitsverhältnisse mit weniger als 18 Wochenstunden. Das bedeutet, dass beispielsweise 450-Euro-Kräfte oder Aushilfstätigkeiten mit weniger als acht Wochen Einsatz im Jahr nicht zur Quote hinzuzählen.

Mitglieder unserer Berufsgruppen sind nicht davor gefeit, selbst schwer chronisch zu erkranken, einen schweren Unfall zu erleiden oder im fortschreitenden Alter Einschränkungen zu haben, die einen Grad der Schwerbehinderung mit sich bringen. Einige Arbeitgeber selbst aus dem Gesundheitsbereich fackeln da nicht lange. Zwar lautet deren unternehmerischer Auftrag, sich um Menschen mit Krankheiten oder Einschränkungen professionell zu kümmern, bei den eigenen Mitarbeitern hingegen kann das schnell ganz anders aussehen.

Mehrfach habe ich es erlebt: Wenn bei Kollegen eine längere schwere Erkrankung auftrat, war es das unausgesprochene Ziel der Geschäftsführung, möglichst schnell eine Beendigung des Arbeitsverhältnisses herbeizuführen. Personalkosten sind die Stellschraube für Kosteneinsparpotenziale. Durch Lohnfortzahlung im Krankheitsfall sind chronisch kranke Mitarbeiter aus Unternehmersicht ein unkalkulierbarer Kostenfaktor. Alles ganz legal, denn Unternehmen haben die Wahl: Wenn sie die vorgeschriebenen Stellen nicht besetzen können oder wollen, können sie sich durch die Zahlung einer Schwerbehindertenausgleichsabgabe „freikaufen“.


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Zahlen, Daten, Fakten

Zum Jahresende 2019 lebten rund 7,9 Millio-nen offiziell anerkannte schwerbehinderte Menschen in Deutschland. Wie das Statistische Bundesamt (Destatis, online unter bit.ly/3s3hMo7) mitteilt, waren das rund 136.000 Betroffene (1,8 Prozent) mehr als zum Jahresende 2017. Der Anteil der schwerbehinderten Menschen an der gesamten deutschen Bevölkerung betrug damit 9,5 Prozent, Tendenz: steigend. Von diesem Prozentsatz wiederum sind 3,3 Millionen Schwerbehinderte im erwerbsfähigen Alter. Eine Pflicht zur Beantragung eines Schwerbehindertenausweises gibt es nicht. Daher gibt es eine Dunkelziffer, denn viele Betroffene stellen diesen Antrag gar nicht erst, um Nachteile am Arbeitsmarkt zu vermeiden. Es ist ein großer Schritt, sich selbst eine irreversible Behinderung einzugestehen, die schwarz auf weiß zu sehen ist, und einen GdB nicht als Kainsmal auf der Stirn zu empfinden.

100 Prozent Leistungsbereitschaft ist bei Menschen mit und ohne GdB unterschiedlich.

Der GdB wird in Zehnerschritten vergeben und ist kein Prozentsatz. Zudem sagt die Höhe des GdB nichts über das Ausmaß der Leistungsfähigkeit im ausgeübten Beruf aus. Ein GdB von 50 bedeutet also nicht, dass Arbeitnehmer nur noch zur Hälfte leistungsfähig und somit nicht mehr in der Lage sind, den Arbeitsplatz vollwertig auszufüllen oder in Vollzeit zu arbeiten. Ihre Belastbarkeit hängt – wie bei jedem gesunden Arbeitnehmer auch – von der Art der Tätigkeit, der Arbeitsquantität und -dichte, der Arbeitsplatzgestaltung, der Arbeitsumgebung, der Arbeitszufriedenheit, der Integration in den Kollegenkreis und seinem privaten Umfeld ab.

Bei der Begutachtung findet nicht allein die Krankheit Berücksichtigung, sondern es fließen ebenso die bestehenden Funktionseinschränkungen sowie die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft mit ein. Neben den körperlichen Folgen zählen hierzu auch seelische Begleiterscheinungen und chronische Schmerzen. Bestehen einzelne Beeinträchtigungen, werden jeweils Einzelwerte zugeordnet, aus denen dann der Gesamt-GdB gebildet wird. Dieser ergibt sich nicht durch Addition der Einzel-GdBs, es werden vielmehr die wechselseitigen Beziehungen der Beeinträchtigungen berücksichtigt.

Beträgt der GdB 50 und mehr, liegt eine Schwerbehinderung als Voraussetzung für den Erhalt eines Schwerbehindertenausweises vor. Liegt ein GdB von beispielsweise 30 vor, kann der Arbeitgeber eine Gleichstellung beantragen und Fördermittel für Arbeitnehmer sowie Zuschüsse für außergewöhnliche Belastungen, Betreuungsaufwand oder Arbeitsplatzausstattung beantragen. Ein GdB unter 30 bleibt, außer bei Auszubildenden, fördertechnisch unberücksichtigt. Die [TAB]. auf Seite 62 führt einige Erkrankungsbeispiele mit GdB auf.

TAB. Erkrankungsbeispiele mit GdB (den ganzen GdB-Katalog gibt’s online unter bit.ly/39dDGMU)

Erkrankung

Beschreibung

GdB

Migräne (mittelgradige Verlaufsform)

  • Häufigere Anfälle, jeweils einen oder mehrere Tage anhaltend

20–40

Colitis ulcerosa, Morbus Crohn (mit mittelschwerer Auswirkung)

  • Häufig rezidivierende oder länger anhaltende Beschwerden, geringe bis mittelschwere Beeinträchtigung des Kräfte- und Ernährungszustands, häufiger Durchfälle

30–40

Leukämie

  • Bei kompletter klinischer Remission unabhängig von der durchgeführten Therapie: für die Dauer von drei Jahren zur Heilungsbewährung

80

Hüftgelenks-Endoprothese beidseits

  • Je nach Einschränkung, mindestens jedoch

20

Neurosen, Persönlichkeitsstörungen, Folgen psychischer Traumata

  • Leichtere psychovegetative oder psychische Störungen

  • Stärker behindernde Störungen, zum Beispiel ausgeprägte depressive, hypochondrische oder phobische Störungen

0–20

30–40

Herzklappenprothese

  • Mit Dauerbehandlung von Antikoagulantien, nicht niedriger als

30

Herzinfarkt

  • GdB ist von den verbleibenden Leistungsbeeinträchtigungen abhängig

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Tabu beim Einstellungsgespräch

Mal angenommen, Sie haben in Ihrer Praxis eine freie Stelle ausgeschrieben, so dürfen Sie Bewerber nicht nach dem etwaigen Vorliegen einer Schwerbehinderung fragen. Arbeitnehmer sind ebensowenig verpflichtet, ihren Schwerbehindertenausweis im Einstellungsprozess vorzulegen. Der Schutz der Bewerber ist vorrangig.

Erlebt habe ich beruflich beides. Beeindruckt hat mich vor vielen Jahren eine Bewerberin, die sich als Lehrkraft und Praktikumsbetreuung beworben hat. Als sie auf mich zuging, nahm ich ein leichtes Hinken wahr. Es sah für mich wie eine Hüftdysplasie aus. Im Verlauf des Bewerbungsgesprächs fragte ich sie, wieso sie – ungekündigt und bis dato gut bezahlt als Betriebsphysiotherapeutin bei einem großen Autohersteller – in die Lehre wechseln wolle. Da erzählte sie ganz offen ihre Krankengeschichte. Aus der vermeintlichen Hüftdysplasie wurde ein aggressiver Knochentumor drei Jahre zuvor im Hüftbereich mit anschließender endoprothetischer Versorgung. Sie suchte aktiv und transparent nach einem Arbeitsumfeld, in dem sie langfristig arbeiten könnte, ohne sich eingeschränkt zu fühlen.

Die umgekehrte Variante war ebenso interessant für mich. Eine Mitarbeiterin in der Buchhaltung beantragte ihren GdB erst nach Bestehen der Probezeit im unbefristeten Arbeitsverhältnis und legte dann einen GdB von 50 vor. Sie fiel in den folgenden zwei Jahren immer wieder wochenlang aus, was für die Kollegen nicht einfach war. Monate später sprachen wir darüber, und da konnte auch sie offen reden. Für ihren jahrelangen Leidensweg mit massiver Colitis ulcerosa konnte sie nichts – dennoch erlebte sie in vorherigen Arbeitsverhältnissen Ausgrenzung, Lästereien von Kollegen und wurde bei fachlichen Förderungsmaßnahmen schlicht übergangen: für sie ganz klar keine gesundheitsförderlichen Umweltfaktoren. Damals beschloss sie, sich besser zu schützen und erst einmal ihre Arbeitsqualität und Persönlichkeit für sich sprechen zu lassen, bevor sie ihre Einschränkung offenlegte.

In guten Teams spielen Geschlecht, Hautfarbe, Religion und Behinderung keine Rolle – es geht immer um Diversität.


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Diversität ist Trumpf!

In der Zusammenarbeit mit Kollegen mit physischer und/oder psychischer Behinderung mache ich seit einigen Jahren die Erfahrung, dass es auch hier keine allgemeingültigen Verhaltensweisen gibt, denn Mitarbeiter sind unterschiedlich. Wir erleben Menschen, die ihre chronische Erkrankung vor sich hertragen und von ihrer Umwelt jede Menge Rücksicht, Zuwendung und Entschädigung erwarten. Wir erleben megaengagierte Mitarbeiter mit Einschränkung, die sich selbst nicht schonen, die für sich ausdrücklich keine Sonderregeln wollen und keinen Wert auf den „positiven Krankheitseffekt“ legen. Sie wünschen sich gelebte Inklusion. Sie wünschen sich, dass es schlicht kein Thema ist, ob es Einschränkungen gibt oder nicht. Genauso wie es in guten Teams unwichtig ist, ob man Frau, Mann oder divers, ob man weiß, gelb oder schwarz, hetero, homo oder bi ist oder ob man Buddhist, Katholik oder Atheist ist. Es geht immer um Diversität. Menschen sind verschieden, und Menschen mit Behinderung sind auch unterschiedlich.


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Und die Leistungsbereitschaft?

Eine weitere Beobachtung finde ich erwähnenswert: Beim Thema Leistungsbereitschaft haben wir festgestellt, dass Mitarbeiter ohne Behinderung sich gern und schnell benachteiligt vorkommen. Warum? Weil man zum Beispiel ab einem GdB von 50 bei einer Vollzeitstelle fünf Tage mehr Urlaub bekommt, weil besonderer Kündigungsschutz besteht, weil mehr Auszeiten durch heftige Krankheitsschübe passieren, weil eben dann und wann doch mehr Rücksicht genommen wird – und weil Neid und Missgunst oft keine Grenzen kennen.

Die Folge daraus: Die Fehlzeiten unserer nicht behinderten Mitarbeiter sind in Summe im Jahresdurchschnitt höher als die der Mitarbeiter mit GdB. Zudem bleiben viele Mitarbeiter in ihrer Leistungsbereitschaft hinter der der Kollegen mit GdB zurück. Dieses völlig schräge Phänomen erklären wir uns mit falsch verstandener Anpassung, denn die 100%ige Leistungsbereitschaft ist bei Menschen mit und ohne GdB unterschiedlich. Wichtig jedoch ist: Jeder Mitarbeiter gibt seine individuellen 100 Prozent, egal ob es eine 20-, 30-Stunden-oder Vollzeitstelle ist. Zudem erklären wir es uns so, dass auch in Zeiten der Vollbeschäftigung Menschen mit Behinderung dauerhaft Angst vor Arbeitsplatzverlust haben, bei gesunden Arbeitnehmern ist diese Angst eher gering.


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Machen Sie’s richtig

Empathische und genau hinschauende Führungskräfte oder Personalverantwortliche sind hier gefragt. Bei jeder Arbeitsplatzbesetzung gilt es, den richtigen Menschen mit den richtigen Qualifikationen zur richtigen Zeit mit dem richtigen Umfang und den richtigen Kollegen am richtigen Platz einzusetzen. Das ist bei Mitarbeitern mit Behinderungen nicht anders.


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Publication History

Article published online:
15 February 2021

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Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany

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Zwei Seiten einer Medaille: Als Patient (links) ist er willkommen, als Mitarbeiter (rechts) verursacht er bestimmt Probleme – Menschen mit Behinderung werden gerade von uns Therapeuten mit verschiedenen Augen gesehen. © Thieme Group/S. Schaaf