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DOI: 10.1055/a-1255-6842
Müde Witwe – Red Flags erkennen
- Clinical Predictable Rules – Tests sinnvoll zusammenstellen
- Klinische Zeichen und Symptome
- Hintergrundwissen – Koronare Herzerkrankung
- Literaturverzeichnis
Seit Jahren schon hat Sarah J. das Gefühl, immer müder und weniger belastbar zu werden. Selbst im Garten schafft sie kaum noch was. Liegt es wirklich nur am Verlust ihres Mannes? Zunehmende Zahn- und Kieferschmerzen und Schmerzen im Thorax führen sie zur Physiotherapie. Dort rückt eine andere Vermutung in den Fokus.
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Sarah J. ist eine 64-jährige ehemalige Realschullehrerin. Vor zwei Jahren ging sie in Frührente, da sie vermehrt müde war und ihre Konzentrationsfähigkeit nachließ. Der Betriebsarzt hatte ihr dies angeboten, weil die Beschwerden progressiv zunahmen. Ihr Hausarzt glaubt, dass alles mit dem Tod ihres Mannes zusammenhänge, der vor sechs Jahren nach langem Leidensweg verstorben ist. In dieser Zeit diagnostizierte der Arzt bei ihr auch eine leichte Form des Diabetes mellitus Typ II. Seit sie in Rente ist, geht es ihr deutlich besser. Denn ihr Perfektionismus hatte ihr immer viel Stress im Berufsleben eingebracht. Mittlerweile macht sie zweimal die Woche Yoga und geht jeden Tag mindestens fünf Kilometer spazieren. Zusätzlich kümmert sich die begeisterte Oma regelmäßig um die zwei kleinen Kinder ihrer Tochter und um ihren Garten.
Subjektiver Befund
Seit zwei Monaten leidet Sarah J. deutlich stärker unter ihrer Müdigkeit und bekommt zudem während körperlicher Anstrengung immer wieder drückende und tiefe Schmerzen im Brustbereich (VAS 5–7/10, [ABB. 2]). Es fängt mit einer „Straffung des Halses“ an (VAS 4/10) gefolgt von einem diffusen tiefen Zahn- und Kieferschmerz in der unteren Zahnreihe und der Mandibula (VAS 7/10). Wenn die Schmerzen in der Brust stark sind (VAS 7/10), fühlt sie sich leicht benommen. Am häufigsten passiert ihr dies, wenn sie das Haus putzt, die Arbeit im Garten genießt oder draußen aktiv mit ihren Enkeln spielt. Manchmal ist sie froh, wenn die Kinder weg sind, weil sie sich dann ausruhen kann und sich die Brustschmerzen deutlich reduzieren (VAS 1/10). Müdigkeit, Zahn- und Kieferschmerzen bleiben häufig einige Stunden bestehen. Als Ursache vermutetet sie ihre Wechseljahre und glaubt, dass aufgrund ihrer stressigen Situation in den letzten Jahren ihre Wirbelsäule immer krummer geworden ist.
Morgendliche Zahn- und Kieferschmerzen kennt sie schon seit zehn Jahren, nachdem sie beidseits Implantate im Unterkiefer bekommen hat. Damals hatte sie über drei Wochen starke neuropathische Schmerzen. Durch Ruhe und ein NRSA ging der Schmerz weg. Ihr Kiefer ist seither empfindlich beim Kauen harter Speisen und bei starken Temperaturänderungen (VAS 3/10). Zustätzlich hat Frau J. ungefähr viermal pro Woche morgens ein Krampfgefühl im Kiefer. Sie meint, dies komme durch das Knirschen nachts, welches schon während der Krankheit ihres Mannes zugenommen hat. Vom Zahnarzt bekam sie daher vor sechs Monaten eine Beißschiene. Die Symptome verbesserte das nicht. Ihre Tochter riet ihr, endlich was zu unternehmen und zu einem spezialisierten Physiotherapeuten zu gehen. Der hat zuerst folgende Gedanken zum klinischen Muster der Seniorin.
Bezogen auf die orofaziale Region hatte Frau J. möglicherweise nach der Zahn-OP einen neuropathischen Schmerz des N. mandibularis, der schnell durch Medikamente in den Griff zu bekommen war. Durch Stress, Temperaturveränderungen und mechanische Belastungen können sich postneuropathische Symptome in geringerem Maße manifestieren. Hormonelle Veränderungen könnten das noch verstärken. Unpassend ist jedoch, dass die Kieferschmerzen auch während ihrer Aktivitäten verstärkt auftreten. Vielleicht presst sie vermehrt ihre Zähne aufeinander (parafunktionelle Aktivitäten), wenn sie aktiver ist? Dies könnte auch die Verkrampfungen im Halsbereich erklären.
Bezogen auf die thorakale Region könnte es eine Rolle spielen, dass sie anders aktiv ist als vor der Rente (mehr Gartenarbeit, Yoga, Spazierengehen etc.) und dass sie im Zusammenhang mit der vermehrten BWS-Kyphose mehr Beschwerden hat. Ihre Probleme scheinen muskuloskelettal zu sein. Irritierend ist aber, dass eher eine diffuse, große Region betroffen ist und nicht – wie klassisch beim muskuloskelettalen Schmerz – dieser lokal begrenzt ist. Es sind daher einige Fragen bezüglich des Schmerzverhaltens bei Positionsveränderungen indiziert sowie eine muskuloskelettale Untersuchung der BWS.
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Clinical Predictable Rules – Tests sinnvoll zusammenstellen
Klinische Prädiktionsregeln (CPRs) sind algorithmische Entscheidungshilfen zur Unterstützung für Kliniker zur Bestimmung einer Diagnose, Prognose oder wahrscheinlichen Reaktion auf eine Intervention. Sie kommen zustande durch die Vorgeschichte des Patienten und einer Zusammenstellung von angebrachten muskuloskelettalen Tests (Clustering) [3].
Spezielle Fragen zu parafunktionellen Beschwerden der orofazialen Region
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Sind Ihre Kiefermuskeln morgens steif? – „Nein, aber empfindlich, wenn Druck entsteht.“
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Ist dem Zahnarzt aufgefallen, dass Ihre Zähne abgenutzt sind? – „Nein, ich habe ja die Schiene, und die Implantate sitzen gut.“
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Ist Ihre Mundöffnung eingeschränkt? – „Nein.“
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Haben Sie das Gefühl, dass Sie tagsüber in stressigen Situationen die Zähne aufeinanderpressen? – „Nein.“
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Sind die Beschwerden durch einen Sturz auf den Kiefer oder nach einer Zahnbehandlung schlimmer geworden? - „Ich bin nicht gestürzt. Ich denke aber, dass die Implantate etwas damit zu tun haben.“
Spezielle Fragen zur thorakalen Wirbelsäule
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Beeinflussen bestimmte Positionen oder Bewegungen Ihre Beschwerden? – „Nein, ich schlafe nur nicht gerne auf dem Bauch und am liebsten mit dem Oberkörper ein bisschen hochgelagert.“
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Seit wann machen Sie das? – „Seit ungefähr zehn Monaten. Das hat spontan angefangen.“
Weil Frau J. nicht angibt, dass eine bestimmte Haltung oder Bewegung die thorakalen Beschwerden beeinflusst und sich in der Vorgeschichte auch keine Erklärung dafür finden lässt, gilt es weiter nachzuhaken und die allgemeinen Fragen zu Red Flags zu stellen. Denn auch ihre orofazialen Beschwerden weisen nicht auf eine typische arthrogene, myogene oder neurogene Dysfunktion mit Schmerzen hin.
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Wie ist Ihre allgemeine Gesundheit? – „Gut, wenn ich diese Beschwerden nicht hätte.“
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Wann begann die Müdigkeit? – „Vor zehn Jahren. Im letzten Jahr ist es aber deutlich schlimmer geworden.“
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Haben Sie eine Idee, woher das kommen könnte? – „Nein, mein Hausarzt hat mir Vitamin C und D dagegen aufgeschrieben, aber das hat bisher nicht wirklich geholfen.“
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Ist die Müdigkeit immer gleich? – „Nein, im letzten Monat hat sie noch mal stark zugenommen.“
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Wie ist Ihr Blutdruck? – „Das weiß ich nicht. Der Hausarzt hat vor einem Jahr das letzte Mal gemessen.“
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Haben Sie abgenommen und rauchen Sie? – „Nein.“
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Hatten Sie in der letzten Zeit Fieber? – „Nein.“
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Schwitzen Sie nachts? – „Ja, manchmal. Das hat mit den Wechseljahren zugenommen, und dann habe ich nachts auch oft diese Schmerzen in der Brust ... vermutlich vom Liegen.“
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Haben Sie urogenitale, gastrointestinale oder kardiovaskuläre Beschwerden? – „Nein, aber das ist auch nicht speziell untersucht worden. Tatsächlich muss ich in letzter Zeit aber manchmal häufiger hintereinander aufstoßen.“
Auf Grundlage der allgemeinen Red-Flag-Fragen gibt es keine Kontraindikation für eine physiotherapeutische Untersuchung. Trotzdem ist die zunehmende Müdigkeit eine rote Flagge – auch weil Frau J. in den letzten zwei Monaten nicht mehr bei ihrem Hausarzt war. Während der Untersuchung ist daher in jedem Fall Vorsicht geboten. Weil die Beschwerden vor zehn Jahren an Zähnen und Kiefer anfingen, ist zuerst das Screening der kraniomandibulären Region indiziert – gefolgt von der BWS. Ziel ist es, deutliche Zeichen und Symptome zu ermitteln, die möglicherweise auf eine (neuro-)muskuloskelettale Ursache hindeuten oder als beitragende Faktoren herauskristallisiert werden können.
Untersuchung
Inspektion
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leicht adipös; sichtbare Kyphose der oberen BWS ([ABB. 5])
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keine auffällige Asymmetrie, kein prominenter Masseter und keine Anspannung des M. mentalis erkennbar
Untersuchung des Kiefers
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Mundöffnung aktiv: 52 mm mit Überdruck = o. B.
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Laterotrusion beidseits: 13 mm mit Überdruck = o. B.
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Stretchtechniken des M. masseter und M. temporalis beidseits: Schmerz wird nicht reproduziert = o. B.
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Palpation auf Druckdolenz mit Algometer: Schmerzschwelle > 2,5 kg/cm2 = keine Hypersensitivität der Kaumuskulatur
Untersuchung des N. mandibularis
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Palpation der oberflächlichen Nerven: N. mandibularis, N. auriculotemporalis, N. mylohyoideus (N. lingualis), R. mentalis(N. alveolaris inferior) = beidseits gleiche Sensitivität und adäquat zum N. ophthalmicus und zum N. maxillaris
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neurodynamische Tests des N. mandibularis = o. B.
Lokale Provokationstests der Mahlzähne (Molaren)
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beidseits tritt kein Schmerz auf ([ABB. 4]) = o. B.
Physiologische Bewegungen der thorakalen Wirbelsäule
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Flexion, Lateralflexion und Rotation = o. B.
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Extension aktiv und passiv: Th 5–Th 10 deutlich eingeschränkt und lokal schmerzhaft (aber nicht der bekannte Schmerz)
Tapptest
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Abklopfen der Processi spinosi mit Reflexhammer, um minimale Fissuren oder Frakturen aufzudecken ([ABB. 7]) = o. B.
Passive intervertebrale Untersuchung
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passive physiologische intervertebrale Bewegungen (PPIVMs): Die Bewegungen bestätigen die deutliche Steifheit in Extension.
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passive akzessorische intervertebrale Bewegungen (PAIVMs, [ABB. 6]): Es tritt nirgends der ihr bekannte Schmerz auf.
Aufgrund der Testergebnisse lässt sich vermuten, dass die klinischen Zeichen in der BWS nicht direkt mit den Beschwerden zusammenhängen. Der bekannte Schmerz (P) lässt sich mit den PAIVMs nicht reproduzieren. Der Widerstand (R) tritt zwar bei Th 6 schon bei der Hälfte des Bewegungsumfangs auf ([ABB. 3]), die naheliegenden Segmente Th 3 und Th 8 zeigen aber das gleiche Bewegungsverhalten, sind jedoch nur um ein Viertel im Bewegungsumfang eingeschränkt. Die Tests und das Clustering der Tests (CLINICAL PREDICTABLE RULES, S. 25) unterstützen eher nicht die Hypothese einer neuromuskulären Ursache. Die Bewegungsdiagramme auf Seite 26 entsprechen denen von über 60-Jährigen, bei denen in der Regel die Steifheit der limitierende Faktor ist mit einer niedrigen lokalen Schmerzerfahrung über mehrere Segmente. Hinzu kommt, dass sowohl die Tests der kraniomandibularen Region als auch die Untersuchungen an der BWS keinen offensichtlichen muskuloskelettalen Zusammenhang zeigen.
Auffällig sind allerdings einige Angaben auf die allgemeinen Red-Flag-Fragen: Die zunehmende Müdigkeit und die Beschwerden während der Aktivitäten lassen aufmerken. Denn dies kann bei einer 64-jährigen Frau auf kardiovaskuläre Dysfunktionen oder Pathologien hinweisen, zumal beitragende Faktoren wie ein Diabetes Typ II und eine leichte Adipositas vorliegen. Da die Patientin zudem keine ärztliche Kontrolle innerhalb des letzten halben Jahres hatte, ist Vorsicht geboten und eine weitere klinische Differenzialdiagnose indiziert. Im Folgenden müssen nun zuerst die klinischen Zeichen und Symptome einer Angina pectoris und einer myokardialen Ischämie bei Frauen abgeglichen werden (KLINISCHE ZEICHEN UND SYMPTOME) und es sollte eine weitere kardiale Untersuchung folgen.
Da Frau J. zwar kein Druckgefühl hinter dem Brustbein hat, aber thorakale Schmerzen, Zahnschmerzen, Benommenheit, Aufstoßen, Lethargie und Schlafstörungen zeigt, sind im Anschluss zudem eine Blutdruckmessung, Auskultation und ein Laufbandtest indiziert.
Kardiovaskuläre Untersuchung
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Blutdruck: 150/95 mmHg = Hypertonie Grad I
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Auskultation: beidseits o. B. (= kräftiger, regelmäßiger Puls ohne Geräusche und Rhythmusveränderungen)
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Laufbandtest in normaler Gehgeschwindigkeit: Nach 2,5 Minuten beginnen Unterkiefer- und Zahnschmerzen (VAS 1/10); nach3 Minuten beginnen die thorakalen Beschwerden (VAS 2/10). Der Test wird sofort abgebrochen. Nach 30 Sekunden verschwinden die Beschwerden wieder.
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Auskultation sofort nach dem Laufbandtest zeigt einen unregelmäßigen, weniger kräftigen Puls.
Die Ergebnisse zeigen keine Indikation für Physiotherapie ( [TAB. 1], S. 26). Frau J. wird geraten, sofort einen Termin bei ihrem Hausarzt zu vereinbaren und folgenden Bericht mitzunehmen:
neuromuskuloskelettal |
nicht neuromuskuloskelettal (NMS) |
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„Die Patientin kam mit zunehmenden Zahn-, Kiefer- und thorakalen Beschwerden in meine physiotherapeutische Praxis. Es zeigen sich aber keine Hinweise auf eine neuromuskuloskelettale Ursache. Die Beschwerden sind seit zwei Monaten progredient mit seit einem Jahr stetig zunehmender Müdigkeit. Erklärungen hierfür fehlen. Die Beschwerden lassen sich bei einem 3-Minuten-Laufbandtest nach2,5 Minuten reproduzieren. Die Auskultation zeigt, dass der Puls weniger kräftig und unregelmäßiger wird. Ihr Blutdruck liegt bei 150/95 mmHg. Ich bitte um eine weitere Abklärung.“
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Klinische Zeichen und Symptome
Angina pectoris bei Frauen
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Druckgefühl hinterm Brustbein oder thorakale Schmerzen
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Schmerz im Nacken, Kiefer oder Rücken
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drückende (pulsierende) Kopfschmerzen
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Schmerzen in Schulter oder Arm (meist nicht ausstrahlend in den linken Arm)
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Zahnschmerzen
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Verdauungsprobleme, Sodbrennen
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Atemnot (bei Anstrengung)
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Bewegungsunverträglichkeit
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Übelkeit,
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Vertigo, Benommenheit
Myokardiale Ischämie bei Frauen
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klassische thorakale Brustbeschwerden
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Veränderungen des mentalen Status oder Verwirrung (bei Älteren)
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Atemnot (in Ruhe oder bei Anstrengung)
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Schwäche und Lethargie (ungewöhnliche Müdigkeit bzw. Müdigkeit, die die Fähigkeit zur Durchführung von ADLs behindert)
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Verdauungsstörungen, Sodbrennen oder Magenschmerzen, fälschlicherweise oft als gastroösophageale Refluxkrankheit (GERD) diagnostiziert oder vermutet
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Angstzustände oder Depressionen
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Schlafstörungen (Erwachen mit einem der aufgelisteten Symptome)
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Gefühl, das dem Einatmen kalter Luft ähnelt (man kann weder sprechen noch atmen), isolierter, anhaltender und mittelthorakaler oder interskapulärer Rückenschmerz/Schmerz
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Schweregefühl oder Schwäche in einem Arm oder in beiden Armen
So ging es weiter …
Der Hausarzt untersuchte Sarah J. gründlich und hörte ebenfalls eine deutliche kardiale Abweichung während der Auskultation. Er überwies sie zum Kardiologen. Das Mehrkanal-EKG zeigte deutliche Hinweise auf eine Durchblutungsstörung des Herzens. Die Blutuntersuchung zeigte erhöhte Werte beim Troponin T, Myoglobin und den Kreatinkinasen (CK). Aufgrund der diagnostizierten koronaren Herzerkrankung (HINTERGRUNDWISSEN) musste die Seniorin direkt im Krankenhaus bleiben. Ihre vaskuläre Engstelle untersuchten die Ärzte mit einem Herzkatheter und erweiterten sie mit einer Ballondilatation (PTCA). Sie bekam einen Stent und unterstützend blutverdünnende Medikamente. Sechs Wochen später hat sie nur noch minimale Beschwerden am OP-Eingang in der Leiste(VAS 3/10), die das Gehen leicht einschränken. Die Kiefer- und Zahnschmerzen, die thorakalen Beschwerden sowie ihre extreme Müdigkeit sind verschwunden. Das regelmäße Aufstoßen hat ebenfalls abgenommen, und Sarah J. fühlt sich wieder in der Lage, intensiv Zeit mit ihren Enkeln verbringen zu können.
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Hintergrundwissen – Koronare Herzerkrankung
Zu den häufigen kardiovaskulären Erkrankungen, die unter Umständen tödlich sein können, gehört die Durchblutungsstörung des Herzens. Man spricht daher auch von einer ischämischen Herzkrankheit aufgrund einer Arteriosklerose der Herzkranzgefäße. Anatomisch unterscheidet man zwar nur zwei Gefäße, die linke bzw. rechte A. coronaria. Klinisch werden aber drei Gefäße betrachtet: die A. coronaria dextra und die beiden Aufspaltungen der A. coronaria sinistra, die nach kurzem sogenannten Hauptstammverlauf erfolgt. Ein Ast, der Ramus interventricularis anterior (Riva), zieht von außen zur Herzscheidewand und ein weiterer, der Ramus circumflexus (Rcx), zieht links im Sulcus coronarius nach dorsal zur Facies diaphragmatica ([ABB. 8] UND [TAB. 2]).
Gefäß |
Versorgungsgebiet |
Klinik bei Stenose[ a ] |
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A. coronaria dextra |
rechter Vorhof und rechter Ventrikel, Teile der Hinterwand des linken Ventrikels sowie das Erregungsbildungs- und -leitungssystem[ 2 ] |
inferiorer Hinterwandinfarkt |
Vorderwand des linken Ventrikels, teilweise Vorderwand des rechten Ventrikels, vordere 2/3 des Kammerseptums ([ABB. 8]) |
Vorderwandinfarkt |
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Ramus circumflexus3 |
linker Vorhof u. Wand des linken Ventrikels |
Hinterwandinfarkt |
1Variationen im Versorgungstyp können Abweichungen bedingen,
2Sinus- und AV-Knoten sowie His-Bündel,
3aus A. coronaria sinistra
Stabile Angina pectoris
Durchblutungsstörungen des Herzens entwickeln sich meist über die Zeit als Ausdruck einer Arteriosklerose. Für deren Entwicklung wiederum bestehen bestimmte Risikofaktoren. Verengen sich die Gefäße zunehmend (Stenose), zeigt sich dies klinisch in unterschiedlichen Symptomen, allen voran denen der Angina pectoris (AP). Von einer stabilen AP spricht man, wenn die Symptome wie bei Frau J. nur belastungsabhängig auftreten. Instabil wird die AP dann, wenn Symptome in Ruhe bzw. akut auftreten. Dann kann die unmittelbare Folge ein unter Umständen tödlicher Myokardinfarkt sein.
Die Symptome, die im vorliegenden Fall für eine stabile AP sprechen, sind die Thoraxschmerzen, die bei Belastung in den Unterkiefer strahlen, die Schwäche bzw. Müdigkeit und die gastrointestinalen Beschwerden (vermehrtes Aufstoßen). Aufmerksam sollte man auch aufgrund der bevorzugten Schlafposition mit Oberkörperhochlagerung sein. Ätiologisch passen zu der Entwicklung einer Arteriosklerose auch Frau J.s Risikofaktoren: Diabetes mellitus und Adipositas. Protektiv zu werten ist, dass sie regelmäßig körperlich aktiv istund viel spazieren geht und dass sie zur Stressbewältigung zweimal wöchentlich Yoga macht. Dies könnte einem schlimmeren Krankheitsverlauf bisher entgegengewirkt haben. Die Beweglichkeitseinschränkung und die lokale Schmerzhaftigkeit in den Segmenten Th 5–Th 10 könnten ebenfalls auf das kardiale Problem hinweisen, da die sympathische Versorgung von Herz und Lunge aus den Segmenten C 8–Th 9 erfolgt. Um die Symptome von Frau J. genauer zu verstehen, ist ein Exkurs zum Thema Gendermedizin notwendig.
Gendermedizin
Da sich der Begriff Gendermedizin sprachlich eingebürgert hat, wird er in diesem Artikel verwendet. Der Begriff ist aber eigentlich verwirrend. Im Englischen kann Geschlecht sowohl mit „sex“ als auch mit „gender“ übersetzt werden. Diese Unterscheidung kennt das Deutsche nicht. Mit Sex ist das biologische, mit Gender das attributierte Geschlecht gemeint. Mit Letzterem ist ein durch Verhalten anerzogenes Geschlecht gemeint.
Gendermedizin, die nach dieser Definition strenggenommen „Sexmedizin“ heißen müsste, steht hingegen für den sehr bedeutenden Umstand, dass Diagnose und Therapie von Krankheiten bei den Geschlechtern unterschiedlich ausgeprägt sind. Und dies gilt nicht nur bei typischen Männer- bzw. Frauenkrankheiten wie einer Prostatavergrößerung oder Menstruationsbeschwerden. Aufgefallen war der Unterschied erstmals durch eine aufsehenerregende Studie, die 1991 im renommierten New England Journal of Medicine veröffentlicht wurde [4]. Die Forscher hatten die Versorgung von Männern und Frauen untersucht, die wegen einer koronaren Herzkrankheit (KHK) in der Klinik behandelt wurden. Heraus kam, dass Frauen im Vergleich zu Männern systematisch unterversorgt waren. Es wurde offensichtlich, dass viele der Symptome, die Mediziner und Therapierende lernen und die in den Lehrbüchern beschrieben sind, typische Männer-Symptome sind, wohingegen Frauen häufig unspezifischere oder einfach andere Symptome zeigen ([TAB. 3]).
Symptome bei beiden Geschlechtern |
häufiger bei Frauen auftretende Symptome |
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Risikofaktoren von kardiovaskulären Erkrankungen
Für das Auftreten kardiovaskulärer Erkrankungen sind seit über 65 Jahren Risikofaktoren (RF) bekannt und u. a. durch eine seit 1948 laufende prospektive Kohortenstudie gut belegt. Diese Langzeitstudie (nach ihrem Untersuchungsort „Framingham-Studie“ benannt) wird bis heute von der nahe gelegenen Harvard-Universität betreut [6]. Ausgangspunkt der Studie war der frühe Tod Franklin D. Roosevelts, der in Folge seines stark erhöhten Blutdrucks und seiner Nikotinabhängigkeit an einem Schlaganfall verstorben war.
Die Gendermedizin kennt aber auch in den RF Unterschiede zwischen den Geschlechtern, wobei die meisten etablierten RF für beide gelten. Das anamnestische Erheben der RF erlaubt eine Risikostratifizierung im Erstkontakt, wie wahrscheinlich es ist, dass eine kardiovaskuläre Erkrankung Ursache für beklagte Symptome ist ([TAB. 4]).
Traditionelle Risikofaktoren beider Geschlechter |
spezielle Risikofaktoren von Frauen |
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1 aus [5];
2 aus [7]
Management
Das Management kardiovaskulärer Erkrankungen umfasst insbesondere auch die konsequente Behandlung der Risikofaktoren. Für Frauen gilt hier insbesondere [7]:
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Konsequente Behandlung eines vorhandenen Diabetes mellitus, da dieser RF Frauen stärker belastet als Männer. Frühzeitige Verhaltensmaßnahmen umfassen vor allem die Steigerung körperlicher Aktivität. Dies ist auch für Frau J. wichtig, die ja schon regelmäßig spazieren geht. Noch besser wäre künftig ein trainingspulsgesteuertes Training, dass sie z. B. durch regelmäßige Teilnahme an einer Herzsportgruppe verwirklichen könnte(www.herzstiftung.de).
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Die Prävalenz einer arteriellen Hypertonie ist bei Frauen über 60 Jahren höher als bei Männern und seltener ärztlich kontrolliert. Bevor eine medikamentöse Therapie startet – ab dem Grenzwert von 140/90 mmHG –, sollten die Betroffenen Gewicht reduzieren, die körperliche Aktivität steigern und sich beim Alkohol- und Kochsalzkonsum mäßigen.
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Der Einfluss einer Fettstoffwechselstörung auf das Auftreten einer kardiovaskulären Erkrankung scheint bei Frauen höher als bei Männern zu sein. Diät und medikamentöse Therapie können hier vorbeugen.
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Auch Übergewicht scheint bei Frauen ein größerer RF zu sein als bei Männern. In der Framingham-Studie erhöhte Übergewicht das Risiko zu erkranken bei Frauen um 64 % gegenüber 46 % bei Männern. Als Empfehlung gilt eine Kombination aus Diät und erhöhter körperlicher Aktivität mit mindestens 60- bis 90-minütiger moderater Belastung möglichst jeden Tag.
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Aktivitätsmangel und sitzender Lebensstil sind bei Frauen als RF stärker als bei Männern ausgeprägt. Für sie werden mindestens 150 Min./Woche Übungen mit moderater Belastung sowie 75 Min./Woche mit hoher Belastung empfohlen.
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Inhalatives Rauchen ist ursächlich für viele Krankheiten, auch und insbesondere der kardiovaskulären. Für Frauen ab 45 Jahren erhöht sich das diesbezügliche Risiko gegenüber Männern um 25 %. Durch Rauchen verliert man bis zu ein Lebensjahrzehnt, bei konsequentem Verzicht jedoch reduziert sich dieses Risiko um 90 %.
Diagnostik
Zur Diagnostik kardiovaskulärer Erkrankungen gehören die Messung des Ruheblutdrucks und Ruhepulses. Die Auskultation ergibt möglicherweise Hinweise auf irreguläre Herzaktionen (Herzgeräusche bzw. Rhythmusstörungen). Ärztlicherseits bedient man sich verschiedener Untersuchungen:
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EKG: Mithilfe der transthorakalen (TTE) Echokardiografie misst man die Herzaktivität als Amplitudenabweichung von der isoelektrischen Linie. Je nach Lage der Elektroden, mindestens 3 (besser 10 wie beim 12-Kanal-EKG), kann man pathologische Befunde im EGK topografischen Regionen im Herzen zuordnen. Beim Belastungs-EKG (Ergometrie) offenbaren sich zudem pathologische Befunde, die unter Umständen in Ruhe nicht zu finden sind.
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Als bildgebende Verfahren kommen die kontrastmittelgestützte Koronarangio-grafie oder eine Spiral-CT-Untersuchung infrage.
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Im Labor werden neben Routineparametern wie einem kleinem Blutbild auch Tests auf Muskelzelluntergänge gestellt, so z. B. der Myoglobin-Test (Blut-Normwert bei Frauen < 35 µg/l). Spezifischere Biomarker für einen Schaden der Herzmuskulatur sind die Kreatinkinase vom Myokard-Typ (CK-MB, Normwert Frauen: < 145 U/l) und der kardiale Troponin-Wert (Normwert < 0,4 µg/l).
Therapie
Zur Therapie einer kardiovaskulären Erkrankung zählen zwei wichtige Säulen: die Akuttherapie und die Tertiärprävention. Bei einer hämodynamisch wirksamen Verengung mit akuten Symptomen (instabile KHK bzw. Myokardinfarkt) ist eine sofortiges Rekanalisation der Stenose notwendig. Diese kann mittlerweile auch endoskopisch mittels offener Bypass-Operation geschehen oder wie bei Frau J. mittels Ballondilatation (perkutane transluminale Koronarangioplastie, PTCA) mit nachfolgender – ebenfalls über den Katheter erfolgender – Stentimplantation ([ABB. 9]). Das Einbringen eines Drahtgeflechts stützt den dilatierten Gefäßabschnitt langfristig.
Zur Prävention weiterer Schäden und vor allem, um ein Rezidiv zu verhindern, muss ein gutes Management der RF erfolgen. Die regelmäßige Teilnahme an einer Herzsportgruppe hat sich dabei als wirksam und unverzichtbar erwiesen und sollte auch von therapeutischer Seite empfohlen werden.
Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen
Diabetes ist ein wichtiger Risikofaktor für die Entstehung vielfältiger Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Ursache ist die Mikro- und Makroangiopathie als Folge des erhöhten Blutzuckers. Damit geht allerdings häufig und vor allem bei schlecht eingestelltem Diabetes eine Neuropathie einher, da gut funktionierende Nerven von einer exzellenten Durchblutung abhängig sind. Die Neuropathie kann sich prinzipiell in allen Teilen des Nervensystems manifestieren, oft als Polyneuropathie. Wenn eine sogenannte autonome Neuropathie vorliegt, also das vegetative Nervensystem betroffen ist, ist häufig die Schmerzweiterleitung gestört. Dies kann dazu führen, dass Menschen kleinere „stumme“ Infarkte erleiden, ohne diese zu spüren. Die Infarktdiagnose ist dann häufig ein Zufallsbefund im EKG. Beim Diabetes mellitus Typ II, wie er bei Frau J. vorliegt, ist eine regelmäßige Blutzuckerkontrolle, Gewichtsabnahme und regelmäßige körperliche Bewegung indiziert. Wenn die Lebensstiländerungen nicht ausreichen, können zusätzlich orale Antidiabetika oder Insulin gegeben werden. Ob ein Diabetes gut eingestellt ist und damit eine hohe Patientencompliance besteht, verrät auch der HbA1c-Wert, der die langfristige Blutglukoseregulation reflektiert (Normwert bei Gesunden: zwischen 4,5–6,5 %, bei gut eingestellten Diabetikern < 7 %).
Harry von Piekartz und Christoff Zalpour
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Literaturverzeichnis
- 1 Boissonnault WG, Vanwye WR. Primary Care for the Physical Therapist. Examination and Triage. 3rd ed. Elsevier Health Sciences. 2020 eBook
- 2 Goodman CC, Snyder TK. Differential Diagnosis for Physical Therapists: Screening for Referral. 5. Aufl. St. Louis: Saunders Elsevier; 2013: S. 253
- 3 Cook CE. Potential pitfalls of clinical prediction rules. J Man Manip Ther 2008; 16: 69-71 DOI: doi:10.1179/106698108790818477.
- 4 Ayanian JZ, Epstein AM. Differences in the use of procedures between women and men hospitalized for coronary heart disease. N Engl J Med 1991; 325: 221-5
- 5 Keteepe-Arachi T, Sharma S. Cardiovascular disease in women: Understanding symptoms and risk factors. European Cardiology 2017; 12: 10-13
- 6 Mahmood SS, Levy D, Vasan RS. et al The Framingham Heart Study and the epidemiology of cardiovascular disease: a historical perspective. The Lancet 2014; 338: 999-1008
- 7 Garcia M, Mulvagh SL, Merz NB. et al Cardiovascular Disease in women – Clinical perspectives. Circulation Research 2016; 118: 1273-1293
Publikationsverlauf
Artikel online veröffentlicht:
08. Januar 2021
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Literaturverzeichnis
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