Nervenheilkunde 2020; 39(07/08): 439-441
DOI: 10.1055/a-1134-8971
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© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Nervenheilkunde

Zeitschrift für interdisziplinäre Fortbildung
Solmaz Golsabahi-Broclawski
1   Bielefeld
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Publikationsdatum:
04. August 2020 (online)

 
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Dr. med. Solmaz Golsabahi-Broclawski Medizinisches Institut für transkulturelle Kompetenz, Bielefeld

Gender-Medizin: Gesundheit und Krankheit aus geschlechtsspezifischer Perspektive

Der englische Ausdruck Gender bedeutet aus der Sicht der Linguistik sowohl das grammatische als auch das biologische Geschlecht in Einzahl und Mehrzahl, hierbei ist auch das soziale Geschlecht gemeint. In dieser Ausgabe der Nervenheilkunde wird der Versuch unternommen, wissenschaftlich fundiert Aspekte des sozialpsychiatrischen Schwerpunktes der Gender-Medizin zu erläutern. Die Ausgabe übernimmt eine Vermittlerrolle der Aspekte der Funktion der Frau als aktive Medizinerin und Heilerin sowie als Patientin.

Vom historischen Rückblick zur Zukunftsperspektive untersucht Antje Flüchter die Position von Frauen auf dem Feld der Medizin im Wandel der Zeit. Die Darstellung beginnt im Mittelalter und verfolgt die Entwicklungen über die zentrale Professionalisierungswellen, d. h. die Gründung der europäischen Universitäten seit dem 12. Jahrhundert und die Professionalisierung der Medizin im 19. Jahrhundert, und endet mit der schwierigen Etablierung von Ärztinnen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Das Problem des früheren Jahrhunderts war bereits der Zugang der Frauen zur wissenschaftlichen Ausbildung, der für Frauen bekanntlich erschwert bzw. sogar verwehrt war. Frauen waren lange Zeit nicht nur ausgeschlossen, sondern auch entmutigt, und sie mussten ihre Stellung und Position regelrecht gegen soziale und bürgerliche Positionen im Kampf erwerben.

Christiane Gross und Solmaz Golsabahi-Broclawski beschäftigen sich in ihrem Beitrag mit der Rolle der Frau in der heutigen Medizin. Es werden die statistischen Daten der Verteilung der Frauen in der Medizin in Deutschland in den letzten 20 Jahren gespiegelt. Der Beitrag soll die Wahrnehmung dafür schärfen, was unter den Berücksichtigungen aller Errungenschaften für Frauen möglich ist und auf der anderen Seite aber erschwert wird: bessere Vereinbarkeit von Privatleben und Beruf, mehr Augenmerk für die Ärztegesundheit sowie Maßnahmen gegen die Ausbeutung der Ärzteschaft. Obwohl sich Deutschland und die Europäische Union dem Gender mainstreamig verpflichtet haben, ist die mangelhafte Umsetzung der Gleichbehandlung allgegenwärtig. Dies betrifft sowohl das biologische als auch das psychosoziale Geschlecht der Professionellen sowie der Patienten.

Julia Schreitmüller und Bettina Pfleiderer diskutieren die sozialen und biologischen Geschlechteraspekte von Patienten sowie medizinischem Fachpersonal im medizinischen Versorgungs- und Kommunikationsprozess. Studien bestätigen einen oft unbewussten „Gender Bias“, bei dem die Bedeutung von Geschlecht über- oder unterschätzt wird und damit Fehler während der Diagnose und Behandlung entstehen können. Patienten scheinen Symptome oft unterschiedlich wahrzunehmen und mitzuteilen. Das medizinische Personal fällt zuweilen geschlechterabhängig unterschiedliche behandlungsrelevante Entscheidungen.

Regina von Einsiedel beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit der Kluft zwischen den Geschlechtern in Bezug auf die Förderung und Optimierung der Qualität der Versorgung der Frauen als Arbeitnehmerinnen. Neben den Genderaspekten und ungleichen Karrierechancen klagen viele Ärztinnen über Doppel- oder Mehrfachbelastungen oder über Barrieren und Schwierigkeiten im Studium, der Ausbildung, im Berufsalltag sowie am Berufsende. Entwickeln sich diese Probleme zu individuellen Dauerstressoren, können kontinuierlich Befindlichkeitsstörungen, Burnout oder psychische Störungen entstehen.

Çiçek Wöber-Bingöl veranschaulicht anhand von dem Erkrankungsbild der Kopfschmerzen bei Kindern und Jugendlichen die wesentlichen Unterschiede auf seelischem, körperlichem und psychosozialem Gebiet bereits in den frühen Jahren bei Mädchen und heranwachsenden Frauen. Es werden die Epidemiologie, Differenzialdiagnose, das klinische Bild, Auslöser, Begleiterkrankungen und Therapie mit Schwerpunkt auf Migräne vermittelt und geschlechtsspezifische Unterschiede sowie altersspezifische Besonderheiten dargestellt.


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Dr. med. Solmaz Golsabahi-Broclawski Medizinisches Institut für transkulturelle Kompetenz, Bielefeld