intensiv 2020; 28(01): 44-46
DOI: 10.1055/a-1089-9584
Leserbrief
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Publication Date:
17 January 2020 (online)

„Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst …“ – Ein Plädoyer, in Deutschland das Lebensrecht auch derjenigen sogenannten Hirntoten, die nicht schwanger sind, ganz neu zu überdenken

In „Das Jahr der Jubiläen“ hat der Theologe und Krankenhausseelsorger P. Klaus Schäfer seine Position zum Hirntod dargelegt [1]. Einige Argumente u. a. auch biblische hat er dabei wenig berücksichtigt.

Leben(szeichen chronisch) Hirntoter

Dass Hirntote keine Leichen sind, weiß jeder, der schon einmal Hirntote gepflegt hat. „Hirntoten schlägt das Herz, sie sind warm, sie werden künstlich beatmet und künstlich ernährt. Äußerlich unterscheiden sie sich nicht von Komapatienten. Das macht es schwer, sie als Tote anzusehen.“ [2]

Es gibt drei wichtige Studien über chronisch Hirntote: Die beiden Studien des amerikanischen Neurologen Shewmon über die Überlebenszeit von 170 chronisch Hirntoten von 1998 [3] und über die vielfältigen somatischen Integrationsleistungen Hirntoter von 2001 [4].

2017 veröffentlichten Moon und Hyun einen Artikel über zwei nicht-schwangere Hirntote, die mehr als 100 Tage überlebten. Sie stellten erstmals die Vermutung auf, dass Hirntote mit Lazarus-Zeichen länger überleben als solche ohne [5].

Sie kehrten nicht in ihr normales Leben zurück. Ganz klar. Aber ins Leben selbst brauchten sie nicht zurückzukehren, denn sie waren ja keine Leichen, sondern noch lebende Menschen.

Kritische Anmerkungen zum „endgültigen nicht-behebbaren Ausfall der Gesamthirnfunktion“

Am 4. Juli 1991 fiel die schwangere Gabriele Siegel [6] aus unklarer Ursache ins Koma. Am 14. Juli [5] wurde bei ihr der Hirntod diagnostiziert; nach den damals geltenden Richtlinien [7]. Ihr Mann Klaus-Eugen Siegel besuchte keine Leiche auf der Intensivstation, sondern seine Frau Gaby, und zwar fast täglich, und er behandelte sie so, als würde sie alles mitbekommen. Er sprach mit ihr, las und sang ihr vor, berührte sie liebevoll usw. [5] „Dieser Mann hat mit all seiner Liebe dafür gekämpft, Frau und Kind nicht zu verlieren. Um das Bett herum war eine schützende Glocke von Vertrautheit und Wärme – unberührt von aller Krankenhaustechnik.“ [8] „Er hatte Hoffnung für beide, sprach mit der schwangeren Hirntoten, gerade so, als ob sie nicht hirntot gewesen wäre.“ [8] Am 26. September 1991 wurde Max Siegel per Notsectio geboren, zwei Tage danach verstarb Gaby Siegel [5].

Auch die These, Hirntote könnten gar nichts mitbekommen und wahrnehmen, ist seit Gaby Siegel eigentlich widerlegt: „Denn Gaby zeigt Reaktionen: Wenn ihr Puls rast und der Blutdruck gefährliche Spitzen erreicht, legt die Musiktherapeutin ihre Hände auf die Brust der Patientin und summt – der Kreislauf beruhigt sich. Täglich, wiederholbar, erzählt der Anästhesist, der damals die Patientin während dieser Phasen per Hand mit einem Beutel beatmet hat.“ [8]

Der Aspekt des liebevollen Dabeibleibens ist meines Wissens in der Literatur und Analyse bis jetzt nicht gewürdigt worden. Ob bei Gaby Siegel aufgrund der basalen Stimulation eine partielle Reperfusion stattgefunden hat, oder ob es doch eine nicht cerebrale basale Wahrnehmung gibt, kann man im Nachhinein natürlich nicht feststellen.

Auch liegt dem Verfasser ein Augenzeugenbericht eines Pflegers vor, der beschreibt, dass just im letzten Moment eines sterbenden Hirntoten (Nicht-Organspender) dieser mit dem Lazarus-Zeichen reagiert hat: „… just in diesem Moment, wo man den Saft abstellt … Entschuldigung, die Luft … Mir ist ganz anders geworden … Ich denk, der hat das doch irgendwie gemerkt … ganz tief.“

Wenn man die Forschungsergebnisse des britischen Neurologen zu „reaktionslosen“ Wachkoma-Patienten, die bewusst wahrnahmen [9], berücksichtigt – vielleicht hätte man auch bei manchem Hirntoten (eventuell auch erst nach geraumer Zeit) mit einem fMRT und individueller (!) Stimulation manche Reaktion nachweisen können?

Biblisch-theologische Perspektive

„Wenn ich sehe die Himmel deiner Hände Werk, den Mond und die Sterne, die du bereitet hast, was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst und des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst.“

Psalm 8, 4–5

„Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn, und schuf sie als Mann und Frau.“

1. Mose 1, 27

Wenn wir den Himmel betrachten, können wir ihn naturwissenschaftlich betrachten und beispielsweise die einzelnen Sternbilder benennen. Oder wir können – so wie wir den Anblick einer bunten Blumenwiese genießen – uns einfach kindlich darüber freuen, dass Gott die Welt so schön gemacht hat, und dass er, der all diese großen Dinge wunderbar gemacht hat, jeden einzelnen von uns kleinen Menschengeschöpfen liebt. Der Mensch ist von Gott geschaffen und Gottes Ebenbild [10]. Dies gilt ganz unabhängig von seiner Hirnleistung.

Hobohm schreibt über den anenzephalen Immanuel: „In diesem Baby ohne Gehirn, das – wie wir alle – Ebenbild Gottes ist, lächelte uns in gewissem Sinn Gott selber zu. Ecce homo! Seht, welch ein Mensch! Immanuel – das heißt: Gott ist mit uns! Ist das nicht wunderbar!“ [11]

Man mag sich fragen, ob der kleine lächelnde anenzephale Immanuel oder ein Mörder als Ebenbild Gottes seine Liebe mehr widerspiegelt? Aber selbst ein Mörder – dessen Sünde seine Gemeinschaft mit Gott und den Menschen beeinträchtigt, und der deswegen entstelltes Ebenbild Gottes ist – kann als bußfertiger Sünder bei Jesus Gnade und Vergebung finden.

Der evangelische Diakoniewissenschaftler Nils Petersen betont in seiner Dissertation: „Als Theologe will und kann ich von der Gottesebenbildlichkeit eines jeden Menschen nicht lassen. Wer als … Christ diese Plattform verlässt und versucht, einige Menschen als nicht vollständige ,Untermenschen‘ oder ähnliche zu kategorisieren, oder ihnen die Person wegdiskutiert, hat sich bereits auf eine schiefe Bahn begeben, auf der es kein Halten mehr gibt.“ [12]

Ein Computer mag Tausende Verknüpfungen herstellen und ist und bleibt doch eine Maschine. Hirntote sind keine Maschinen, keine Tiere, keine Zellhaufen, sondern lebende Menschen. Ihr Körper, der immer noch ein Ebenbild Gottes ist, lebt (mit Unterstützung von Geräten), also leben sie auch.

Wir möchten in Zukunft Angehörige und Kliniken emotional, durch Gebet und gegebenenfalls auch finanziell unterstützen, sich für das bedrohte Leben (von Hirntoten) zu entscheiden [13].

Gero Goob-Hähndel

E-Mail: speerwerfergh@gmail.com

 
  • Literatur

  • 1 Schäfer PK. Das Jahr der Jubiläen. intensiv 2018; 26: 193-5
  • 2 Schäfer K. 10 Fakten zum Hirntod. Online unter bit.ly/34iHJ6J, letzter Zugriff 30.10.2019
  • 3 Shewmon DA. Chronic „brain death“: meta analysis and conceptual consequences. Neurology 1998; a 51: 1538-45
  • 4 Shewmon DA. The brain and somatic integration: insights into the standard biological rationale for equating „brain death“ with death. Journal of Medicine and Philosophy 26 (05) 457-78 zitiert nach: Deutscher Ethikrat. Hirntod und Organspende. Berlin; 2015, 86–7, 184
  • 5 Moon JW, Hyun DK. Chronic Brain-Dead Patients Who Exhibit Lazarus Sign. Korean J Neurotrauma 2017; 13 (02) 153-7
  • 6 Siegel KE. Wir durften nicht aufgeben! Ein Vater schildert die letzten Monate der Schwangerschaft seiner hirntoten Frau und die Geburt seines Sohnes. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus; 1993
  • 7 Bavastro P. Organ-Transplantation. Zukunftsweisend oder Irrweg des Zeitgeistes?. Würzburg: Königshausen & Neumann; 2018: 84
  • 8 Albrecht B. Aus einer Leiche geboren. Max Siegel ist das Kind einer hirntoten Mutter. Seine Existenz verdankt er der Entschlossenheit von Ärzten, die vor 20 Jahren noch nicht ahnten, dass sie ein ethisches Minenfeld betreten. Wie sehen die Akteure von damals ihr Handeln heute?. DER SPIEGEL 2011; 25: 112-6
  • 9 Owen A. Zwischenwelten – Ein Neurowissenschaftler erforscht die Grauzone zwischen Leben und Tod. München: Droemer; 2017: 234-44
  • 10 Gerlach T. Gottebenbildlichkeit und Menschenwürde – Was ist das Wesen und die Bestimmung des Menschen?. Online unter bit.ly/321aXFs, letzter Zugriff 30.10.2019
  • 11 Petersen N. Geistig behinderte Menschen – im Gefüge von Gesellschaft, Diakonie und Kirche. Münster: LIT; 2003: 247
  • 12 Hobohm C. Immanuel – Die Geschichte der Geburt eines Kindes mit Anenzephalie. Buchbesprechung. Online unter bit.ly/2ptqYXF, letzter Zugriff 30.10.2019
  • 13 ruben-und-andreas.de (im Aufbau)