Schlüsselwörter
Kindesmisshandlung - Kinder-und Jugendlichenpsychotherapeut - Schweigepflicht - Medizinischer Kinderschutz
Key words
child maltreatment - child abuse - Child and youth psychotherapist - medical confidentiality
Einleitung
Aktuellen Untersuchungen zufolge waren mehr als ein Viertel befragter Jugendlicher
und Erwachsener der deutschen Gesamtbevölkerung in ihrer Kindheit von
Misshandlung (körperlich, emotional), Vernachlässigung
(körperlich, emotional) oder sexuellem Missbrauch betroffen [1]
[2]. Die Prävalenz emotionaler Misshandlung
stieg von 2010 bis 2016 signifikant an [3]. Das
Bundesland Brandenburg führte im Jahr 2017 6637 Verfahren zur
Einschätzung der Gefährdung des Kindeswohls, in 1174 Fällen
mit dem Ergebnis einer akuten Kindeswohlgefährdung [4].
Entsprechend einer Untersuchung von Leitner und Troscheit zu Kindesmisshandlung und
– vernachlässigung mit Todesfolge und schwerster Kindesmisshandlung
starben in den Jahren 2000 bis 2005 im Bundesland Brandenburg 20 Kinder, 7 erlitten
schwerste Körperverletzungen. Ein Teil der Fälle ereigneten sich vor
dem Hintergrund einer nicht ausreichenden Abstimmung und Verbindlichkeit zwischen
einzelnen Berufsgruppen und zwischen einzelnen Versorgungsbereichen sowie aufgrund
vorhandener Unsicherheiten der Fachkräfte im Erkennen von
Kindesmisshandlungen und Einleiten von Interventionen. Die Autoren leiten aus diesen
Ergebnissen u. a. folgende Entwicklungsaufgaben für den Kinderschutz
in Brandenburg ab: Gewährleistung einer strukturell-kooperativen
Informationsvernetzung und Verbesserung der Handlungssicherheit der
Fachkräfte [5].
Die somatischen und psychischen Folgen von Kindesmisshandlungen sind für
Betroffene oftmals noch im Erwachsenenalter zu spüren. Sie können
für psychische Auffälligkeiten und psychische Störungen wie
z. B. Substanzmissbrauch, Ängste, Essstörungen und
Depressivität mitverantwortlich sein [6]
[7].
Vor allem psychische Misshandlungen stellen einen hohen Risikofaktor für eine
nachhaltige Störung der Entwicklung eines Kindes dar [8]. So können emotionaler Missbrauch und
emotionale Misshandlung bei der Entstehung von Depressionen von besonderer Bedeutung
sein [9]. In der wissenschaftlichen und
öffentlichen Diskussion finden psychische Kindesmisshandlungen bisher keine
ausreichende Beachtung. Mögliche Gründe dafür sind
u. a. die Vielzahl schwer und nicht sofort erkennbarer Folgen [10]. Infolge dieser Erkenntnisse hat der richtige
Umgang mit (Verdachts)Fällen von Kindesmisshandlung einen großen
Stellenwert.
Für das Erkennen von Kindesmisshandlungen und Einleiten adäquater
Interventionen ist nach Aussage der neuen Kinderschutz AWMF S3 (+) Leitlinie
die Kooperation der verschiedenen Versorgungsbereiche
Jugendhilfe/Medizin/Psychologie und Pädagogik wesentliche
Voraussetzung. Dafür benötigen diese Kenntnisse über
Rahmenbedingungen, Möglichkeiten und Leistungen der jeweils anderen. Aber
nicht nur die Versorgungsbereiche unterscheiden sich hinsichtlich ihrer
Rahmenbedingungen, Möglichkeiten und Leistungen voneinander, sondern auch
die einzelnen Berufsgruppen innerhalb dieser. Deshalb ist weiterhin die Entwicklung
berufsspezifischer Leitlinien notwendig [11].
Das seit dem 01.01.2012 geltende Kinderschutzgesetz (KKG §4 Abs. 3) sowie die
Berufsordnung der Ostdeutschen Psychotherapeutenkammer (§8 Abs. 2) befugt
die Berufsgruppe der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten (KJP) bei (Verdacht
auf) Kindesmisshandlung unter bestimmten Voraussetzungen zur Offenbarung; das
heißt, ihre Schweigepflicht zu brechen und erforderliche Daten z. B.
dem Jugendamt mitzuteilen.
Die Berufsordnung führt dafür expressis verbis den Verdacht einer
Misshandlung, eines Missbrauchs oder einer schwerwiegenden Verwahrlosung,
insbesondere bei Kindern, an. Über die Weitergabe von Informationen haben
sie unter Berücksichtigung der Folgen für Patienten und Therapie zu
entscheiden [12]
[13].
Der KJP diagnostiziert und behandelt psychische Störungen bei Kindern und
Jugendlichen. Infolgedessen ist davon auszugehen, dass er aufgrund
inhaltlich-fachlicher (Herstellen einer längerfristigen vertrauensvollen
Beziehung zu Kind und Eltern) und organisatorischer (regelmäßiger,
meist wöchentlicher Kontakt über einen längeren Zeitraum)
Bedingungen, gute Möglichkeiten besitzt, (Verdachts)Fälle von
Kindesmisshandlung (insbesondere emotionale) zu erkennen und adäquate
Interventionen einzuleiten.
Untersuchungen zur Häufigkeit und zum Umgang mit (Verdachts)Fällen
von Kindesmisshandlung in der psychotherapeutischen Praxis liegen soweit ersichtlich
im Gegensatz zu Befragungen von Pädiatern bisher nicht vor [14].
Ziel dieser Studie ist es, die Häufigkeit von Kindesmisshandlungen in der
psychotherapeutischen Praxis differenziert nach Misshandlungsformen sowie die Anzahl
der Meldungen an eine Behörde und mögliche Gründe
für eine Unterlassung einer Meldung zu erfassen.
Notwendige Voraussetzungen für ein sicheres Erkennen, Bewerten von
Kindesmisshandlungen und Einleiten medizinrechtlicher und
medizinisch/psychotherapeutischer Interventionen aus der Perspektive der
Berufsgruppe der KJP sollen benannt werden. Somit kann diese Studie einen Beitrag
zur Weiterentwicklung von Theorie und Praxis im medizinischen Kinderschutz
leisten.
Methodik
Datenerhebung
Alle 126 am 03.03.2018 im Bundesland Brandenburg zur
vertragspsychotherapeutischen Versorgung zugelassenen Kinder- und
Jugendlichenpsychotherapeuten (KJP) erhielten im April 2018 einen
papiergebundenen teilstandardisierten Fragebogen. Deren Anschriften wurden dem
Register (online) der KVBB (Kassenärztliche Vereinigung Brandenburg) mit
Stand vom 03.03.2018 entnommen. Die KJP wurden in einem Anschreiben gebeten, den
ausgefüllten Fragebogen anonym zurückzusenden. Ein wiederholtes
Versenden des Fragebogens erfolgte mit dem Ziel der Erhöhung des
Rücklaufs.
Erhebungsinstrument
Der im Rahmen dieser Untersuchung entwickelte dreiseitige Fragebogen enthielt
Fragen zur Häufigkeit von (Verdachts)Fällen von
Kindesmisshandlung für die Jahre 2016 und 2017, differenziert nach
Misshandlungsform (körperliche Vernachlässigung, emotionale
Vernachlässigung, körperliche Misshandlung, emotionale
Misshandlung, sexueller Missbrauch) und Alter (0–5 Jahre, 6–13
Jahre, 14–18 Jahre) sowie zur Anzahl der erfolgten Meldungen an
Behörden (Jugendamt, Polizei, Gericht). Es wurden sowohl Gründe,
die gegen eine Meldung sprachen (Mehrfachauswahl) als auch Einstellungen zu
einer gesetzlichen Meldepflicht (dichotome Fragen in Kombination mit einer
offenen Frage) erfragt.
Mittels dichotomer Fragen wurden die KJP gebeten, Schwierigkeiten im Erkennen
emotionaler Vernachlässigung und emotionaler Misshandlung zu benennen.
In einem offenen Antwortformat sind Voraussetzungen für einen effektiven
Kinderschutz in der psychotherapeutischen Praxis erhoben worden.
Die Einteilung und die Definitionen der Misshandlungsformen sind den Leitlinien
zu Diagnostik und Therapie von psychischen Störungen im
Säuglings-, Kindes- und Jugendalter entnommen [15].
Datenauswertung
Alle anonymen Fragebögen wurden unter einer fortlaufenden Nummer in
Oracle Clinical Version 5.1 eingegeben. Die statistische Auswertung aller Daten
erfolgte mit SAS Version 9.4 (SAS Institute Inc., Cary, NC, USA). Die
Datenerfassung und Auswertung wurde von der Firma CCDRD AG (Hoppegarten,
Deutschland) durchgeführt. Alle Fragebögen mit mindestens einer
gültigen Antwort wurden in der Auswertung berücksichtigt.
Dichotome Fragen sowie Fragen mit Mehrfachnennungen wurden deskriptiv mit
relativen und absoluten Häufigkeiten beschrieben. Antworten offener
Fragen wurden kategorisiert und mit Hilfe von Häufigkeitstabellen
beschrieben.
Die (Verdachts) Fälle von Kindesmisshandlungen wurden ferner
stratifiziert nach Jahr (2016 oder 2017) und Altersklasse (0–5,
6–13, 14–18 Jahre) in mehrdimensionalen Kontingenztafeln
abgebildet.
Ergebnisse
Von 126 angeschriebenen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten (KJP) sandten 51
(40,5%) den Fragebogen zurück. Damit liegt diese Befragung im
Vergleich zu Befragungen von Berliner oder Brandenburger Ärzten etwa
10% höher [14]
[16]. Frühere Befragungen von Kinder- und
Jugendlichenpsychotherapeuten sind nicht bekannt. 2 Fragebögen waren mit der
Begründung, die Praxis ist erst 2017 eröffnet worden, nicht
bearbeitet. Somit konnten 49 (38,9%) Fragebögen in die Auswertung
einfließen.
Für die vorliegende Arbeit wurden die Kalenderjahre 2016 und 2017 einbezogen.
Nicht alle KJP beantworteten den Fragebogen vollständig. Eine Auswertung war
dennoch möglich. Im Ergebnisteil ist dies entsprechend ausgewiesen.
Kindesmisshandlung in der psychotherapeutischen Praxis
Für das Jahr 2016 liegen von 43 KJP und für das Jahr 2017 von 47
KJP Daten zur Anzahl der (Verdachts)Fälle von Kindesmisshandlung vor. Im
Jahr 2016 registrierten 32 (74,4%) der 43 antwortenden KJP einen oder
mehr (Verdachts)Fälle von Kindesmisshandlung, im Jahr 2017 40
(87,0%) der 46 antwortenden KJP ([Tab.
1]). Im Durchschnitt sah ein KJP im Jahr 2016 im Mittel 9,9 und im Jahr
2017 im Mittel 10,5 Fälle von Kindesmisshandlung.
Tab. 1 Anzahl der KJP mit (Verdachts)Fällen von
Kindesmisshandlungen für die Jahre 2016 und 2017.
Anzahl der KJP mit mindestens einem Fall
|
2016
|
2017
|
N
|
%
|
N
|
%
|
Körperliche Vernachlässigung
|
18
|
41,9
|
20
|
43,5
|
Emotionale Vernachlässigung
|
22
|
51,2
|
32
|
69,6
|
Körperliche Misshandlung
|
15
|
34,9
|
23
|
50,0
|
Emotionale Misshandlung
|
24
|
55,8
|
32
|
69,6
|
Sexueller Missbrauch
|
14
|
32,6
|
22
|
47,8
|
Misshandlungsformen gesamt
|
32
|
74,4
|
40
|
87,0
|
Dabei spielte es keine Rolle, ob diese der Behörde bereits bekannt waren
oder nicht. Die Anzahl der registrierten (Verdachts)Fälle in Bezug auf
den einzelnen KJP erstreckte sich von 0 bis 121. Mehr als die Hälfte der
KJP sahen in den beiden Untersuchungsjahren die Misshandlungsformen emotionale
Vernachlässigung und emotionale Misshandlung ([Tab. 1]).
[Tab. 2] ist zu entnehmen, dass die
Misshandlungsformen emotionale Vernachlässigung und emotionale
Misshandlung am häufigsten auftraten. Bei jeder der 5
Misshandlungsformen und somit auch insgesamt war die Altersgruppe der
6–13 jährigen am häufigsten betroffen.
Tab. 2 (Verdachts)Fälle von Kindesmisshandlungen in
den Jahren 2016 und 2017 differenziert nach Misshandlungsformen und
Alter.
(Verdachts-)Fälle von Kindesmisshandlung nach
Altersgruppen in Jahren
|
2016
|
2017
|
N
|
%
|
N
|
%
|
Körperliche Vernachlässigung
|
0–5
|
8
|
1,9
|
15
|
3,1
|
6–13
|
22
|
5,3
|
17
|
3,5
|
14–18
|
3
|
0,7
|
6
|
1,2
|
Gesamt
|
33
|
7,9
|
38
|
7,8
|
Emotionale Vernachlässigung
|
0–5
|
22
|
5,3
|
29
|
6,0
|
6–13
|
77
|
18,5
|
77
|
15,9
|
14–18
|
29
|
7,0
|
47
|
9,7
|
Gesamt
|
128
|
30,8
|
153
|
31,5
|
Körperliche Misshandlung
|
0–5
|
18
|
4,3
|
22
|
4,5
|
6–13
|
30
|
7,2
|
36
|
7,4
|
14–18
|
17
|
4,1
|
19
|
3,9
|
Gesamt
|
65
|
15,6
|
77
|
15,9
|
Emotionale Misshandlung
|
0–5
|
20
|
4,8
|
21
|
4,3
|
6–13
|
78
|
18,8
|
87
|
17,9
|
14–18
|
37
|
8,9
|
44
|
9,1
|
Gesamt
|
135
|
32,5
|
152
|
31,3
|
Sexueller Missbrauch
|
0–5
|
11
|
2,6
|
10
|
2,1
|
6–13
|
29
|
7,0
|
31
|
6,4
|
14–18
|
15
|
3,6
|
24
|
4,9
|
Gesamt
|
55
|
13,2
|
65
|
13,4
|
Misshandlungsformen gesamt
|
0–5
|
79
|
19,0
|
97
|
20,0
|
6–13
|
236
|
56,7
|
248
|
51,1
|
14–18
|
101
|
24,3
|
140
|
28,9
|
Gesamt
|
416
|
100,0
|
485
|
100,0
|
Meldungen an eine Behörde und Gründe für eine
unterlassene Meldung
Im Untersuchungszeitraum 2016 meldeten von 32 KJP mit insgesamt 416
(Verdachts)Fällen 11 KJP (34,4%) 43 Fälle
(10,3%) an das Jugendamt. An Polizei und Gericht erfolgte keine
Meldung.
Von 40 KJP, die im Jahr 2017 insgesamt 485 (Verdachts)Fälle sahen,
meldeten 14 KJP (35%) 39 (8%) (Verdachts)Fälle den
Behörden, davon 37 (94,9%) an das Jugendamt und 2 (5,1%)
an die Polizei.
42 KJP machten Angaben zu Gründen, die gegen eine Meldung an eine
Behörde bei (Verdacht) auf Kindesmisshandlung sprachen. Der
häufigste Grund, der gegen eine Meldung an eine Behörde sprach,
war der Wille des Kindes, in der Therapie Besprochenes nicht weiterzugeben.
Weitere Gründe in absteigender Häufigkeit sind die Sorge vor
Behandlungsabbruch seitens der Eltern, negative Erfahrungen in der fachlichen
Zusammenarbeit mit dem Jugendamt. Weiterhin meldeten KJP
(Verdachts)Fälle nicht, weil dies die Situation des betroffenen Kindes
verschlechtern würde und organisatorische Hindernisse in der
Zusammenarbeit mit dem Jugendamt (z. B. telefonische Erreichbarkeit) im
Wege standen. Unsicherheiten, Kindesmisshandlungen zu diagnostizieren sowie
Interventionen einzuleiten, sprachen ebenso gegen eine Meldung wie die Sorge,
Eltern unberechtigterweise einer Misshandlung zu verdächtigen. Weitere
KJP berichteten, Fälle von Kindesmisshandlungen seien bereits gemeldet
worden, daher unterblieben Meldungen.
Zwei häufig genannte Gründe sind der Zeitmangel in der
psychotherapeutischen Praxis sowie die fehlende Vergütung des
zusätzlichen Arbeitsaufwandes.
Unzureichende Kenntnisse rechtlicher Regelungen hinsichtlich des Durchbrechens
der Schweigepflicht den Eltern und Kindern gegenüber, fehlende
Ansprechpartner für rechtliche sowie fachliche Fragen sprachen ebenfalls
gegen eine Meldung ([Tab. 3]).
Tab. 3 Gründe, die gegen eine Meldung der KJP an eine
Behörde sprachen, N = 42 (Mehrfachnennungen
möglich).
Gründe die gegen eine Meldung sprachen
(Mehrfachnennungen möglich)
|
N
|
%
|
Das Kind/der Jugendliche möchte nicht, dass
in der Therapie Besprochenes an die Eltern oder das
Jugendamt weitergegeben wird.
|
20
|
47,6
|
Sorge vor Behandlungsabbruch seitens der Kindeseltern.
|
17
|
40,5
|
Negative Erfahrungen in der fachlichen
Zusammenarbeit/Kooperation mit dem Jugendamt.
|
14
|
33,3
|
Eine Meldung an das Jugendamt verschlechtert die Situation
des Kindes/Jugendlichen.
|
13
|
31,0
|
Organisatorische Hindernisse in der
Zusammenarbeit/Kooperation mit dem Jugendamt
(z. B. telefonische Erreichbarkeit).
|
12
|
28,6
|
Fälle wurden bereits gemeldet.
|
10
|
23,8
|
Unsicherheit bei Diagnostik und Intervention von
Kindesmisshandlungen.
|
10
|
23,8
|
Sorge, die Eltern unberechtigterweise einer
Kindesmisshandlung zu verdächtigen.
|
9
|
21,4
|
Zeitmangel in der Praxis, zusätzlicher Arbeitsaufwand
kann nicht geleistet werden.
|
7
|
16,7
|
Der zusätzliche Arbeitsaufwand (Kooperation mit dem
Jugendamt, weitere Netzwerkarbeit) ist nicht im EBM (GOP)
abgebildet, kann nicht bei den Krankenkassen abgerechnet
werden.
|
7
|
16,7
|
Unzureichende Kenntnisse rechtlicher Regelungen hinsichtlich
des Durchbrechens der Schweigepflicht den Eltern
gegenüber.
|
6
|
14,3
|
Bei (Verdacht auf) Kindesmisshandlung kenne ich keinen
Ansprechpartner für rechtliche Fragen.
|
5
|
11,9
|
Bei (Verdacht auf) Kindesmisshandlung kenne ich keinen
Ansprechpartner für fachliche Fragen.
|
3
|
7,1
|
Unzureichende Kenntnisse rechtlicher Regelungen hinsichtlich
des Durchbrechens der Schweigepflicht dem
minderjährigen Kind/Jugendlichen
gegenüber.
|
3
|
7,1
|
Fälle lagen in der Vergangenheit.
|
3
|
7,1
|
Einstellung zu einer gesetzlichen Meldepflicht an das Jugendamt
Befragt nach ihrer Einstellung zu einer gesetzlichen Meldepflicht sprachen sich
von 49 antwortenden KJP 59,2% (N=29) für und
40,8% (N=20) gegen eine gesetzliche Meldepflicht aus. Die
Begründungen ihrer Einstellung wurden kategorisiert.
Die Befürworter einer gesetzlichen Meldepflicht argumentierten wie
folgt:
Eine Meldepflicht ermöglicht einen besseren Schutz vor
Kindesmisshandlungen und entlastet den KJP hinsichtlich der Abwägung
Schweigepflicht vs. Kinderschutz. Des Weiteren stellt eine Kindesmisshandlung
eine Straftat dar ([Tab. 4]).
Tab. 4 Häufigkeiten der Gründe, die
für eine gesetzliche Meldepflicht sprachen, N=29
(Mehrfachnennungen möglich).
Gründe für eine gesetzliche Meldepflicht
|
N
|
%
|
Keine Angabe.
|
13
|
44,8
|
Besserer Schutz vor Kindesmisshandlungen möglich.
|
9
|
31,0
|
Entlastungen des KJP (Abwägung: Schweigepflicht v.
Kinderschutz).
|
6
|
20,7
|
Straftatbestand.
|
1
|
3,4
|
Das am häufigsten angeführte Argument gegen eine gesetzliche
Meldepflicht ist die mögliche Gefährdung der therapeutischen
Beziehung und somit der psychotherapeutischen Behandlung, z. B. durch
einen Behandlungsabbruch. Ferner sollte der Abwägungsprozess
Schweigepflicht vs. Kinderschutz durch den KJP geführt werden
können. Ihre Position gegen eine gesetzliche Meldepflicht
begründeten KJP mit fehlenden Kenntnissen in Diagnostik und
Intervention, mit der wenig vertrauensvollen Zusammenarbeit mit dem Jugendamt
und mit der Sorge, die Folgen einer Meldung nicht umfassend abschätzen
zu können. Sie vertraten den Standpunkt, eine Meldung ist nur dann
sinnvoll, wenn sie auch die Situation des Kindes/Jugendlichen
verbessert. Der Verdacht auf eine Kindesmisshandlung sollte zuerst mit den
Eltern besprochen werden. Überdies würden vorhandene gesetzliche
Regelungen ausreichen ([Tab. 5]).
Tab. 5 Häufigkeiten der Gründe, die gegen
eine gesetzliche Meldepflicht sprachen, N=20
(Mehrfachnennungen möglich).
Gründe gegen eine gesetzliche Meldepflicht
|
N
|
%
|
Keine Angabe.
|
4
|
20,0
|
Gefährdung der therapeutischen Beziehung und somit
Abbruch der psychotherapeutischen Behandlung.
|
9
|
45,0
|
Der Psychotherapeut muss Abwägungsprozess
„Schweigepflicht vs. Kinderschutz“
führen können.
|
2
|
10,0
|
Kenntnisse zu Diagnostik und Intervention fehlen.
|
1
|
5,0
|
Keine vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen Psychotherapeut
und Jugendamt möglich.
|
1
|
5,0
|
Die Folgen der Meldung sind für den Psychotherapeuten
nicht umfassend abzuschätzen.
|
1
|
5,0
|
Nur dann ist eine Meldung sinnvoll, wenn eine Besserung der
Situation für das Kind erfolgt.
|
1
|
5,0
|
Der (Verdacht auf) Kindesmisshandlung sollte zuerst mit den
Eltern besprochen werden.
|
1
|
5,0
|
Gesetzliche Regelungen reichen aus.
|
1
|
5,0
|
Emotionale Misshandlung und emotionale Vernachlässigung –
Schwierigkeiten im Erkennen und Einleiten von Interventionen
93,9% der 49 antwortenden KJP gehen aufgrund ihrer intensiven
Psychotherapeut-Patient-Beziehung von einer besonderen Verantwortung, aber auch
Möglichkeit aus, emotionale Misshandlungen und emotionale
Vernachlässigungen erkennen zu können. Dabei fehlen jedoch der
Mehrheit klare diagnostische Kriterien, um beide Misshandlungsformen in der
Praxis sicher erkennen und voneinander abgrenzen zu können. Etwa die
Hälfte der KJP gab an, emotionale Misshandlungen und emotionale
Vernachlässigungen nicht eindeutig von unzureichendem
Erziehungsverhalten differenzieren zu können.
Ebenfalls circa die Hälfte der KJP schätzt ihre
medizinisch/psychotherapeutischen Kenntnisse zu Diagnostik und
Intervention bezüglich beider Misshandlungsformen ansonsten als
ausreichend ein und sieht auch keine Gefahr, die Eltern
fälschlicherweise einer emotionalen Misshandlung oder emotionalen
Vernachlässigung zu verdächtigen ([Tab.
6]).
Tab. 6 Emotionale Misshandlung und emotionale
Vernachlässigung sind häufige, aber schwer zu
erkennende Misshandlungsformen. Meinungen der KJP, N=49.
Meinung zu den folgenden Aussagen
|
keine Angabe
|
ja
|
nein
|
|
N
|
%
|
N
|
%
|
N
|
%
|
Die Berufsgruppe der Kinder- und
Jugendlichenpsycho-therapeuten hat aufgrund ihrer intensiven
Arzt-Patient-Beziehung eine besondere Verantwortung u.
Möglichkeit, diese Formen der Misshandlung zu
erkennen.
|
3
|
6,1
|
46
|
93,9
|
0
|
0
|
Es fehlen klare diagnostische Kriterien für
emotionale Misshandlung bzw. emotionale
Vernachlässigung, die in der Praxis gut nutzbar
sind.
|
1
|
2,0
|
41
|
83,7
|
7
|
14,3
|
Es ist schwer, emotionale Misshandlung bzw. emotionale
Vernachlässigung von „nur“
unzureichendem Erziehungsverhalten abzugrenzen.
|
2
|
4,1
|
24
|
49,0
|
23
|
46,9
|
Mir fehlen differenzierte Kenntnisse zu Diagnostik und
Intervention bei emotionaler Misshandlung bzw. emotionale
Vernachlässigung.
|
4
|
8,2
|
18
|
36,7
|
27
|
55,1
|
Gerade bei einem Verdacht auf emotionale Misshandlung bzw.
emotionale Vernachlässigung besteht die Gefahr, die
Eltern fälschlicherweise zu
verdächtigen.
|
5
|
10,2
|
18
|
36,7
|
26
|
53,1
|
Voraussetzungen für einen effektiven Kindesschutz in der
psychotherapeutischen Praxis
Befragt nach den Voraussetzungen für einen effektiven Kinderschutz in der
psychotherapeutischen Praxis gaben 30 KJP – deren Antworten
kategorisiert wurden – Auskunft.
16 KJP (53,3%) sehen Fortbildungen mit medizinischen,
psychotherapeutischen und medizinrechtlichen Themen als wesentliche
Voraussetzung, weitere 13 KJP (43,3%) eine bessere Zusammenarbeit aller
Professionen, die im Kinderschutz Verantwortung tragen. Die Aufnahme des Themas
bereits in die Psychotherapieausbildung führen 8 KJP (26,7%),
eine Vergütung des zusätzlichen Aufwandes (Zusammenarbeit mit
anderen Professionen, umfangreiche Elternarbeit) 4 KJP (13,3%) an.
Jeweils 3 KJP (mit jeweils 10,0%) wünschen sich für ihre
Arbeit eindeutige medizinrechtliche Vorgaben (z. B. Durchbrechen der
Schweigepflicht), eindeutige diagnostische Kriterien (Misshandlungsformen) sowie
eine Handlungsanleitung im Umgang mit (Verdachts)Fällen in der
psychotherapeutischen Praxis.
Diskussion
Kindesmisshandlung in der psychotherapeutischen Praxis
Die überwiegende Mehrheit der befragten KJP registrierten mindestens
einen (Verdachts)Fall von Kindesmisshandlung, am häufigsten
Fälle emotionaler Misshandlung und emotionaler Vernachlässigung.
Bei allen 5 Misshandlungsformen zeigte sich die Altersgruppe der 6 bis
13-jährigen besonders stark betroffen, wobei zu vermuten ist, dass diese
in einer Praxis für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie
überwiegend präsent ist.
Befragungen von Ärzten weisen ebenfalls emotionale Misshandlung und
emotionale Vernachlässigung als häufigste Formen von
Misshandlung aus [14]
[16]
[17] und untermauern somit deren hohen Stellenwert
in der ärztlichen und psychotherapeutischen Praxis.
Die große Spanne der Anzahl der (Verdachts)Fälle von 0 bis 121 in
den einzelnen psychotherapeutischen Praxen kann mit einem individuellen
Kenntnisstand medizinrechtlicher und medizinisch/psychotherapeutischer
Fragen bei (Verdacht auf) Kindesmisshandlung und mit unterschiedlichen
Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit dem Jugendamt in Zusammenhang stehen. Des
Weiteren ist davon auszugehen, dass die KJP für die Bewertung eines
(Verdachts)Falls von Kindesmisshandlung keine einheitlichen Kriterien nutzten.
So sind insbesondere die Formen der körperlichen und emotionalen
Vernachlässigung aufgrund unscharfer Definitionen von unzureichendem
Elternverhalten nur schwer zu differenzieren [17].
Die Ergebnisse hiesiger Untersuchung zeigen, dass (Verdachts)Fälle von
Kindesmisshandlung und insbesondere (Verdachts)Fälle von emotionaler
Misshandlung und emotionaler Vernachlässigung in der
psychotherapeutischen Praxis eine hohe Relevanz aufweisen. Insofern muss die
Berufsgruppe der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten sowohl im Rahmen der
psychologischen Diagnostik als auch durch das Einleiten medizinrechtlicher und
medizinisch/psychotherapeutischer Interventionen einen wesentlichen
Beitrag zum Kinderschutz leisten. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit
vorhandenen Schwierigkeiten in der psychotherapeutischen Praxis ist
erforderlich.
Meldungen an eine Behörde und Gründe für eine
unterlassene Meldung
Ausgehend von der Gesamtzahl 416 wurden im Jahr 2016 43 (Verdachts)Fälle
und im Bezug auf die Gesamtzahl 416 im Jahr 2017 39 (Verdachts)Fälle an
eine Behörde gemeldet.
Die hohe Differenz zwischen Fallzahl und Meldung ist zum einen auf die nicht
differenzierte Erfassung der (Verdachts)Fälle, die den Behörden
bereits bekannt waren und jene, die die KJP selbst diagnostizierten; zum anderen
auf Gründe, die aus der Perspektive der KJP gegen eine Meldung sprachen,
zurückzuführen.
Häufigste Gründe, einen (Verdachts)Fall nicht an eine
Behörde zu melden, war der Wunsch der Kinder und Jugendlichen in der
Therapie Besprochenes nicht weiterzugeben sowie die Sorge vor Behandlungsabbruch
seitens der Eltern. Auch abgeleitet aus den Prinzipien des ethischen Handelns in
der Medizin muss der KJP seinem Patienten (Kind/Jugendlicher) das Recht
auf Selbstbestimmung gewähren; des Weiteren darf er diesem keinen
Schaden zufügen.
Ob und inwieweit der KJP dem Wunsch des misshandelten Kindes, Informationen an
eine Behörde nicht weiterzugeben, entspricht oder entgegen seinem klar
geäußerten Willen die Schweigepflicht durchbricht, ist immer
eine Einzelfallentscheidung und obliegt allein seiner Verantwortung. Er sollte
jedoch beachten, dass eine Nicht-Weiterleitung von Informationen immer ein
Risiko für das Kindeswohl darstellt und in gleicher Weise wie eine
Weiterleitung gegen den Willen des Kindes (und der Eltern) die therapeutische
Beziehung zu Kind und Eltern negativ beeinflussen kann. Empirischen Befunden
entsprechend findet Gewalt gegenüber Kindern am häufigsten
innerfamiliär statt [18].
Gerade in diesen schwierigen Situationen benötigt der KJP sichere
medizinrechtliche Kenntnisse, um im Interesse des betroffenen Kindes einen
adäquaten Abwägungsprozess (Durchbrechen der Schweigepflicht: ja
oder nein?) führen zu können. Voraussetzung für den
Erwerb notwendiger Kenntnisse ist das Angebot berufsspezifischer,
medizinrechtlicher Fortbildungen. Die von den KJP benannten Schwierigkeiten in
der Zusammenarbeit mit dem Jugendamt sind in der wissenschaftlichen Diskussion
beider Versorgungsbereiche (Medizin, Jugendhilfe) bereits seit mehreren Jahren
Gegenstand [14]
[16]
[19]. Die neue Kinderschutzleitlinie S3
(+) bietet für die Erarbeitung konkreter Maßnahmen einer
verlässlichen Zusammenarbeit (z. B. auf Landkreisebene) einen
guten Ausgangspunkt [11].
Den Unsicherheiten der KJP (Infolge derer sie einen [Verdachts]Fall nicht
melden!), Kindesmisshandlungen zu diagnostizieren und notwendige Interventionen
(medizinisch/psychotherapeutische, medizinrechtliche) einzuleiten, kann
mit in der psychotherapeutischen Praxis gut nutzbaren Definitionen und Kriterien
der einzelnen Misshandlungsformen entgegengewirkt werden. Diese sollten
Bestandteile einer berufsspezifischen Leitlinie für ärztliche
und nichtärztliche Psychotherapeuten sein. Eine gute Grundlage
für deren Entwicklung bieten die von Fegert et al. publizierte Leitlinie
[15] sowie die neue Kinderschutzleilinie S3
(+), die ebenfalls auf die Notwendigkeit berufsspezifischer Leitlinien
hinweist [11]. Auch Sierau macht auf den Bedarf
einheitlicher Bewertungskriterien für die Beurteilung von
Kindesmisshandlungen und - vernachlässigungen aufmerksam. Sie
präsentiert Vorschläge, die ebenso Eingang finden sollten [20].
Einstellungen zur gesetzlichen Meldepflicht
Sowohl das seit dem 01.01.2012 geltende KKG (§ 4 Abs. 3) als auch die
Berufsordnung der Ostdeutschen Psychotherapeutenkammer (§ 8 Abs. 2)
ermächtigen Psychotherapeuten ihre Schweigepflicht zu brechen, eine
gesetzliche Meldepflicht wie z. B. in den USA und Österreich
gibt es nicht [21]
[22].
Über die Weitergabe von Informationen haben Psychotherapeuten unter
Berücksichtigung der Folgen für die Patienten und Therapie zu
entscheiden; sie müssen, wenn erforderlich ihre Schweigepflicht
durchbrechen.
Die befragten Psychotherapeuten sprechen sich mehrheitlich für eine
gesetzliche Meldepflicht mit folgenden Begründungen aus: Die betroffenen
Kinder sind so besser geschützt und sie selbst von einem schwierigen
Abwägungsprozess „Durchbrechen der Schweigepflicht ja oder
nein?“ entlastet. Um ihrem Schutzauftrag und ihrer Berufspflicht
nachzukommen, müssen KJP diesen Abwägungsprozess sicher
führen können. Dafür benötigen sie
medizinrechtliche und medizinisch/psychotherapeutische Kenntnisse. Das
Ergebnis der Befragung lässt vermuten, dass diese bisher nicht
ausreichen.
In der wissenschaftlichen Diskussion um eine gesetzliche Meldepflicht gibt es
kontroverse Auffassungen [22]
[23]
[24], die ergebnisoffen immer wieder diskutiert
werden sollten. Entscheidend für einen erfolgreichen medizinischen
Kinderschutz ist jedoch die Erfassung und Beseitigung der Hindernisse bei dessen
Umsetzung innerhalb der einzelnen Berufsgruppen. Diesen Hinweis geben bereits
Maier et al. [25].
Emotionale Misshandlung und emotionale Vernachlässigung –
Schwierigkeiten im Erkennen und Einleiten von Interventionen
Die Mehrheit der antwortenden KJP sind der Auffassung, dass gerade sie aufgrund
ihrer Rahmenbedingungen (regelmäßiger Kontakt zu Kind und Eltern
über einen längeren Zeitraum) emotionale Misshandlungen und
emotionale Vernachlässigungen erkennen müssen. Als Schwierigkeit
dabei erweisen sich fehlende verbindliche, in der Praxis gut nutzbare
Definitionen und Kriterien der beiden Misshandlungsformen. Dettenborn [10] und Sierau [17]
weisen bereits auf die Notwendigkeit definitorischer Bestimmungen für
eine sichere Diagnostik und Einleitung von Interventionen hin. Sieraus
Definition und Beschreibung emotionaler Vernachlässigung [17], ihre benannten Diagnosekriterien zur
Beschreibung der u. a. im ICD-10-GM enthaltenen Subtypen
Vernachlässigung und emotionale Misshandlung [20] sowie Dettenborns deskriptive Kategorisierung psychischer
Misshandlungen [10] sind gut verwendbare
Vorschläge, beide Misshandlungsformen zu erfassen.
Die neue Kinderschutzleitlinie S3(+) [11],
die primär für die Anwendung im Bereich der Medizin entwickelt
wurde, unterscheidet ebenso wie die Leitlinien zu Diagnostik und Therapie von
psychischen Störungen im Säuglings-, Kindes- und Jugendalter die
Misshandlungsformen: körperliche Misshandlung, emotionale Misshandlung,
körperliche Vernachlässigung, emotionale
Vernachlässigung und sexueller Missbrauch. Des Weiteren definiert sie
die Formen: emotionale Misshandlung, körperliche Misshandlung sowie
sexueller Missbrauch und benennt Merkmale, die auf eine emotionale
Misshandlung/Vernachlässigung hinweisen. Auch die hier
aufgeführten Definitionen und Merkmale sollten Eingang in die
Erarbeitung einheitlicher, gut nutzbarer Kriterien finden.
Voraussetzungen für einen effektiven medizinischen Kinderschutz in
der psychotherapeutischen Praxis
Aus der Perspektive der KJP sind für den Erwerb sicherer Kenntnisse in
Diagnostik und Intervention umfassende Angebote
medizinisch/psychotherapeutischer und medizinrechtlicher Fortbildungen
notwendig. Diese müssen zum einen berufsspezifisch und zum anderen
Versorgungsbereich übergreifend ausgerichtet sein. Befragungen der
Berufsgruppe der Ärzte kommen zu ähnlichen Ergebnissen [14]
[16]
[25].
Um ihrer Verantwortung im medizinischen Kinderschutz gerecht werden zu
können, benötigen KJP funktionierende Strukturen der
Zusammenarbeit mit anderen Berufsgruppen und Versorgungsbereichen.
Auch diese wesentliche Voraussetzung benennt bereits die Berufsgruppe der
Ärzte [16].
In einem (Verdachts)Fall von Kindesmisshandlung ist das Jugendamt für den
KJP wichtigster Ansprechpartner, Kooperationsstrukturen müssen klar und
verbindlich – insbesondere auf Landkreisebene – geregelt werden
[26]
[27]. Der Brandenburger Leitfaden zur
Früherkennung von Gewalt gegen Kinder und Jugendliche unterbreitet
Vorschläge für ein strukturiertes und interdisziplinäres
Fallmanagement [28]. Aufgrund der Ergebnisse der
Befragung ist davon auszugehen, dass diese für die Kooperation zwischen
KJP und Fachkräften der Jugendhilfe nicht ausreichend genutzt und auf
Landkreisebene weiter konkretisiert werden müssen. Die
„Handlungsempfehlungen zu Kooperationen“ der
Kinderschutzleitlinie S3(+) geben ebenso für die Erarbeitung und
Umsetzung konkreter Maßnahmen gute Hinweise [11].
Medizinisch/psychotherapeutische sowie medizinrechtliche Themen sollten
in das Curriculum der Psychotherapieausbildung mit dem Ziel aufgenommen werden,
jeden KJP bereits zum Beginn seiner beruflichen Tätigkeit für
den medizinischen Kinderschutz zu sensibilisieren und ihm notwendige Kenntnisse
und Handlungskompetenzen zu vermitteln [24].
Die Vergütung zeitaufwendiger zusätzlicher Interventionen ist ein
Wunsch der KJP, der im Gesundheitsbereich Beachtung finden sollte.
Der nochmalige Hinweis auf klare diagnostische Kriterien der einzelnen
Misshandlungsformen zeigt deren Bedeutung für Diagnostik und
Intervention.
(Verdachts)Fälle von Kindesmisshandlungen weisen in der ambulanten
psychotherapeutischen Praxis eine hohe Relevanz auf. Emotionale Misshandlungen
und emotionale Vernachlässigungen sind besonders schwer zu
diagnostizierende Formen. Aufgrund ihrer intensiven Beziehung zum Patienten kann
die Berufsgruppe der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten diese gut
erkennen. Deren Beitrag für eine bessere Versorgung der von Misshandlung
betroffenen Kinder ist jedoch an bestimmte Voraussetzungen gebunden. Sowohl eine
sichere medizinisch/psychotherapeutische Diagnostik als auch ein
verantwortungsvoller Abwägungsprozess („Durchbrechen der
Schweigepflicht ja oder nein?“) erfordern verbindliche und in der Praxis
gut nutzbare Definitionen und Kriterien der einzelnen Misshandlungsformen. Diese
sollten Eingang in eine berufsspezifische Leitlinie für
ärztliche und nichtärztliche Psychotherapeuten finden.
Notwendige medizinisch/psychotherapeutische und medizinrechtliche
Kenntnisse müssen durch ein größeres
(berufsspezifisches) Fortbildungsangebot und die Aufnahme beider
Themenschwerpunkte in die Psychotherapieausbildung erworben werden. In der
psychotherapeutischen Praxis ist die Kooperation mit der Jugendhilfe von
besonderer Bedeutung. Aus den Ergebnissen der vorhandenen wissenschaftlichen
Studien sowie aus der neuen Kinderschutzleitlinie müssen
Versorgungsbereich übergreifende (Medizin, Jugendhilfe,
Pädagogik) konkrete Maßnahmen auf Landkreisebene für
eine verlässliche Zusammenarbeit abgeleitet und umgesetzt werden.
Die wissenschaftliche Diskussion um eine gesetzliche Meldepflicht sollte
weiterhin offen geführt werden. Entscheidend für einen
qualitativ besseren medizinischen Kinderschutz ist jedoch die Erfassung und
Beseitigung berufsspezifischer Hindernisse.