Gesundheitswesen 2019; 81(10): 778
DOI: 10.1055/a-1007-7573
Panorama
Leserbrief
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Ist das Konzept der „verlorenen Lebensjahre“ auf die Luftverschmutzung anwendbar?

Andreas Schnitzler
1   FA für Innere Medizin, Nephrologie
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Publication Date:
01 October 2019 (online)

Zum Beitrag Morfeld P, Erren TC. Warum ist die „Anzahl vorzeitiger Todesfälle durch Umweltexpositionen“ nicht angemessen quantifizierbar? Gesundheitswesen 2019; 81: 144–9

Vorliegend geht es um Luftverschmutzung ausschließlich in klinisch nicht nachweisbar [1] wirksamer Dosis (Exposition), also in der Größenordnung heute diskutierter Grenzwerte [2] [3] [4]. Hierzu wurde vorliegend bereits die Angabe einer „Anzahl“ von „attributablen vorzeitigen Todesfällen“ kontrovers diskutiert [5] [6] [7]. Einzelne Angaben der Umweltepidemiologie beruhen somit auf der „Environmental Burden of Disease“ (EBD)-Methode, wie diejenige des Umweltbundesamtes, es würden „für das Jahr 2014 für die kardiovaskuläre Mortalität durch NO2-Langzeitexposition (basierend auf Jahresmittelwerten) 5966 [...] attributable vorzeitige Todesfälle und 49.726 [...] verlorene Lebensjahre geschätzt“ [8].

Jedoch lässt auch die Berechnungsmethodik der „verlorenen Lebensjahre“ (YLL, years of life lost) aufhorchen. Hierfür wird nämlich in einem ersten Schritt festgestellt, wie sich das jeweils individuelle Sterbealter zur „statistische[n] Restlebenserwartung der verstorbenen Personen“ verhält: „wenn z. B. eine weibliche Person in Deutschland im Alter von 60 Jahren stirbt, [ist somit bekannt,] dass sie nach der Statistik eigentlich noch ca. 25 Jahre zu leben gehabt hätte. Diese Jahre entsprechen den verlorenen Lebensjahren. Dieser Berechnungsschritt erfolgt für die gesamte Bevölkerung [...]“ [9]. Sinngemäß werden somit aber (auch) der Luftverschmutzung zunächst einmal um so mehr „verlorene Lebensjahre“ zugeschrieben, je jünger eine verstorbene Person ist, beispielsweise einer Einjährigen rund 80, einer Hundertjährigen dagegen lediglich rund 2 Jahre [10]. Trifft aber nicht zu, dass sich ein – gegebenenfalls vorhandenes – Risiko nicht nur proportional zur jeweiligen Dosis, sondern auch proportional zur Dauer der Exposition, also einem erreichten Lebensalter, verhalten muss? Das Konzept der „verlorenen Lebensjahre“ mittels Berechnung der „Restlebenserwartung“ ist daher nach hiesigem Verständnis vollkommen unmöglich auf Gegebenheiten anwendbar, die im Laufe des Lebens kumulieren (sollen), da hiermit eine Beziehung zwischen Dosis und Wirkung „auf den Kopf gestellt“ würde.