Adipositas - Ursachen, Folgeerkrankungen, Therapie 2020; 14(01): 3-5
DOI: 10.1055/a-0968-6313
Editorial

Komplexität einer chronischen Erkrankung

Wieland Kiess
1   Direktor der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin, Universitätsklinikum Leipzig
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In der jetzigen Ausgabe unserer Zeitschrift Adipositas haben wir sechs Manuskripte zusammengefasst, die auf den ersten Blick sehr unterschiedliche Themen zum Gegenstand haben. Doch bei genauerem Hinsehen zeigen alle Manuskripte die Komplexität der chronischen Erkrankung „Adipositas“ und thematisieren Aspekte, die leider in der Öffentlichkeit viel zu wenig thematisiert werden, angesichts der klinischen und gesellschaftlichen Relevanz der Themen gerade für die Betroffenen. Wir sind entsprechend den Autoren der sechs Beiträge zu sehr großem Dank verpflichtet, dass sie die Arbeit auf sich genommen haben und uns ihre Manuskripte zum Abdruck in unserer Zeitschrift zur Verfügung stellen!

Die Arbeitsgruppe an der Kinderklinik in Ulm beschäftigt sich seit vielen Jahren mit extremer Adipositas bei Kindern und Jugendlichen, insbesondere hat Professor Wabitsch ein vom BMBF geförderte Projekt, das Jugendlichen mit schwerer Adipositas zu einer besseren Betreuung verhelfen soll, initiiert und über viele Jahre geleitet. In der hier vorliegenden Arbeit mit dem Titel „Extreme Adipositas bei Kindern und Jugendlichen – Neue Betreuungs- und Interventionsmöglichkeiten durch das Bundesteilhabegesetz“ (S. 9) weist die Ulmer Arbeitsgruppe auf die Problematik der Partizipation und Selbstwirksamkeit gerade von Jugendlichen mit schwerer Adipositas hin. Im Spannungsfeld von Gewichtsstigmatisierung und vielen negativen Erfahrungen im Familien- und Freundeskreis sowie im gesellschaftlichen Leben wirken sich die medizinischen Folgen einer schweren Adipositas im Jugendalter besonders stark aus. Die Autoren weisen zurecht darauf hin, dass eine nachhaltige Gewichtsabnahme für extrem adipöse Kinder und Jugendliche nicht ohne Weiteres möglich ist. Hilfen müssen gesucht werden, denn eine gleichberechtigte Teilhabe nach dem Sozialgesetzbuch IX zur Rehabilitation und Teilhabe für Menschen mit Behinderungen muss gerade auch für adipöse Jugendliche offenstehen. Die Herausgeber der Zeitschrift Adipositas hoffen, dass dieser Beitrag auch von Gesetzgebern, Kolleginnen und Kollegen im öffentlichen Gesundheitswesen, aber zudem von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Gesundheitsämtern und Sozialministerien gelesen wird.

Zu dem Thema „Stigmatisierung von Menschen mit Übergewicht und Adipositas“ hat die Arbeitsgruppe um PD Dr. Albrecht und Professor Engeli einen Artikel vorgelegt, der die potenzielle Stigmatisierung von Menschen mit Übergewicht und Adipositas durch Gesundheits-Apps im Fokus hat (S. 20). Überraschend ist, dass es inzwischen nahezu 10000 Apps zu den Themen Gesundheit und Fitness gibt, und immerhin 390 davon beschäftigen sich mit Adipositas. Leider findet sich immerhin bei nahezu 6% dieser Gesundheits-Apps ein Hinweis zur Stigmatisierung von Menschen mit Adipositas. Zusammengefasst lässt sich sagen, dass die Stigmatisierung von Menschen mit Übergewicht und Adipositas im öffentlichen Raum selbst vor Gesundheits-Apps in Text- und Bildsprache nicht haltmacht. Eine entsprechende Aufklärung im breiten gesellschaftlichen Raum ist überfällig!

Professor Luley aus Magdeburg hat uns ein Manuskript zur Verfügung gestellt, das die „Misere der konservativen Adipositastherapie in Deutschland“ zum Gegenstand hat (S. 29). Für die Lösung des Therapie-Dilemmas bei Adipositas schlägt er einen dreiteiligen Stufenplan vor: Dabei wird eine überregionale, über telemedizinische Verfahren zugängige Basistherapie durch wenige Zentren in jedem Bundesland vorgeschlagen. Als zweite Stufe gilt eine Überweisung in eine interdisziplinäre Schwerpunktpraxis. Eine dritte Stufe der Adipositastherapie, so Luley, könnte die bariatrische Chirurgie bilden. Die Finanzierung des Konzeptes gilt als gesichert, wenn man die Folgeerkrankungen der Adipositas wie Typ-2-Diabetes und Hypertonie verhindern könnte und damit in hohem Maße z. B. Medikamentenkosten sparen könnte. Wo in diesem Konzept Kinder mit einer frühkindlichen, monogenen und seltenen Form der Adipositas behandelt werden sollen, bleibt in dem Konzept, das ansonsten sehr interessant ist, leider ebenso offen wie die Frage, wo Menschen, die nach bariatrischer Chirurgie zwei Jahre nach dem Eingriff wieder zugenommen haben, behandelt werden sollten. (Alle bariatrisch-chirurgischen Interventionsstudien zeigen, dass zwei Jahre nach der Operation bei sehr vielen Patientinnen und Patienten ein Gewichtsanstieg zu beobachten ist.)

Wieder aus der Arbeitsgruppe um Professor Engeli in Hannover dürfen wir Ihnen ein wichtiges Manuskript vorlegen, das Dosisempfehlungen für Analgetika, Antibiotika, Tuberkulostatika und Antikoagulantien für Patientinnen und Patienten bei Adipositas vorschlägt (S. 34). Dabei wurden Fachinformationen für die entsprechenden Medikamente aus dem deutschsprachigen Raum analysiert. Es ist sicher allen Therapeutinnen und Therapeuten, die mit Menschen mit Adipositas arbeiten, bereits in der Praxis klar, dass Fachinformationen selten spezifische Dosishinweise für Patientinnen und Patienten mit Adipositas enthalten, dass dies aber gerade auch bei Medikamenten, die lipophil sind oder andere Verteilungsräume bei Adipösen als bei Schlanken aufweisen, außerordentlich relevant ist. Die Empfehlungen, die die Autoren hier kursorisch abgeben, sind extrem wichtig, sollten von jedem Arzt und jeder Ärztin berücksichtigt werden und müssen für die einzelnen Medikamente in exakter Dosierung pro Kilogramm Körpergewicht in die Fachinformationen übertragen werden.

Schließlich widmen sich zwei Manuskripte der Ernährung bei Adipositas, insbesondere den Themen Lebensmitteleinkäufe, Lebensmittelauswahl und Einkaufstraining.

Wegeleben et al. beschreiben einen Zusammenhang zwischen dem Beschäftigungsstatus von Erwachsenen und der Qualität der Ernährung anhand von Lebensmitteleinkäufen (S. 40). Dabei gelten Bildung, Einkommen und Beruf tatsächlich als Determinanten bzw. Risikofaktoren für das Lebensmittel-Einkaufsverhalten. Probanden mit niedrigem SES (sozio-ökonomischem Status) ernähren sich energiedichter als Menschen mit höherer Bildung und höherem Einkommen. Möglicherweise liegt dies daran, dass energieärmere Lebensmittel teurer sind und deswegen von Einkommensschwächeren weniger häufig erworben werden. Es gibt außerdem einen klaren Unterschied zwischen dem Einkaufsverhalten in Bezug auf Lebensmittel zwischen Rentnern, Schülern, Studenten und Arbeitslosen sowie werktätig Beschäftigten. Jüngere Probanden kaufen energiedichter ein als Rentner, dies ist durchaus auch bedarfsgerecht.

Die Arbeit ist insofern besonders wichtig, indem sie dazu aufruft, dass in sozial schwächeren Berufs- und Gesellschaftsumfeldern nach Risikogruppen gesucht werden sollte und hier ein edukativer Ansatz zur Prävention der Adipositas gewählt werden könnte.

Ein direktes Einkaufstraining für Jugendliche mit Adipositas schlagen wiederum Kollegen von der Charité in Berlin vor (S. 46): Dass gerade Jugendliche mit Adipositas Fastfood, Snacks oder Süßigkeiten einkaufen, ist bekannt. Die Berliner Arbeitsgruppe schlägt vor, dass Jugendliche spielerisch mit Gleichgesinnten lernen könnten, in einer Art Einkaufsrallye eine bewusste, gesunde und auf ihre Bedürfnisse angepasste Lebensmittelauswahl zu treffen. Das Konzept eines solchen Einkaufstrainings wird vorgestellt und könnte als Therapie und Praxismodul sowohl im ambulanten als auch stationären Setting eingesetzt werden.

Wir wünschen allen Leserinnen und Lesern viel Vergnügen bei der Lektüre dieser wichtigen Manuskripte, einen guten Lernerfolg und einen hohen Erkenntnisgewinn.

Wieland Kiess



Publication History

Article published online:
26 February 2020

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